5.
DIE GROSSE BEWEGUNG –
DER PELOPONNESISCHE KRIEG
UND SEINE FOLGEN
Der Weg in den Krieg
War die Militärorganisation des Perserreiches in mancher Hinsicht Vorbild für den Seebund der Athener, so veranlasste der maritime Machtaufstieg Athens wiederum manche Poleis, ihre Anstrengungen im Bereich des Seekriegs zu verstärken. Seit den 450er Jahren erlebte die griechische Welt eine Intensivierung des Kriegsschiffbaus wie nie zuvor. Viele Küstenstädte begannen, ermutigt durch den wirtschaftlichen Aufschwung nach den Perserkriegen1, neue Flotten auf Kiel zu legen oder bestehende zu erweitern (vielleicht hat man nach Athener Vorbild auch eine regelmäßige Besoldung für die Ruderer eingeführt).2 Sie wurden damit zu begehrten Partnern von Mächten ohne Seestreitkräfte. So wandten sich 435 zwei Bürgerkriegsparteien aus Epidamnos (Durazzo, heute Durrës) an Korinth und Kerkyra mit der Bitte, sie zu unterstützen. Kerkyras Flotte von 100 Trieren kontrollierte den Seeverkehr in die Adria. Die Korinther suchten Einfluss am Golf von Ambrakia zurückzugewinnen und auf der Basis ihrer Kolonien hegemoniale Macht unabhängig von den großen Bündnissystemen aufzubauen.3 Nach einigen gescheiterten Vorstößen legten sie ein großes Flottenbauprogramm auf, organisierten Holzlieferungen und warben Ruderer und Schiffbaumeister auch aus dem Gebiet des attischen Seebundes an. Ein Jahr später liefen 150 Trieren vom Stapel, die größte Flotte nach der athenischen. Aus Sicht der Kerkyräer lag es nahe, die Athener um Hilfe gegen Korinth zu bitten. Sie wiesen darauf hin, dass die Rüstungen Korinths der Athener Flotte Mannschaften und Ressourcen entzogen. Zudem stellten sie in Aussicht, Angriffe der Flotte des spartafreundlichen Syrakus aufzuhalten und sizilische Bündner zu unterstützen. Diese Argumente bewogen die Athener nach zweitägigen Verhandlungen zum Abschluss eines Defensivbündnisses (Epimachie), das sie im Falle eines Angriffes auf Kerkyra zur Hilfe verpflichtete.4
Ein zweites Ärgernis neben den Rüstungen Korinths bildete die Hafenstadt Megara. Sie hatte die Korinther mit Schiffen unterstützt und geholfen, über ihre Kolonien Matrosen anzuwerben. Die Athener Volksversammlung erließ daraufhin im Jahr 433 ein Dekret, das die Megarer von den Häfen und Märkten des Seebundes ausschloss (Megarisches Psephisma). Sie durften fortan ihre Kolonien in der Nordägäis nicht mehr zur Anwerbung von Ruderern und zur Einfuhr von Getreide und Holz heranziehen.5
Ein dritter Konflikt entwickelte sich in der Nordägäis, wo die für den Schiffbau wichtigsten Holz- und Mineralvorkommen lagen. Um an diese Ressourcen heranzukommen, setzte Korinth auf seine Kolonie Poteidaia, die gleichzeitig Mitglied des Seebundes war. Konsequent verlangten die Athener von den Poteidaiern, korinthische Beamte auszuweisen, die Mauern der Seeseite zu schleifen und Geiseln zu stellen. Die Poteidaier weigerten sich und wurden von den Athenern eingeschlossen. Daraufhin wandten sich die Korinther mit den Megarern und Aiginaten klagend an Sparta. Im Jahr 432 erklärte der Peloponnesische Bund Athen den Krieg.
Über die Ursachen dieses Krieges ist seit Thukydides endlos diskutiert worden. Ohne Zweifel fühlten sich die Athener durch die korinthische Seekriegspolitik provoziert. Die Sicherheit der Getreideimporte schien ebenso gefährdet wie die Überlegenheit der Flotte und die Einkünfte des Seebundes. Nicht geringer wog der Prestigeverlust, der mit einer Duldung der korinthischen Ambitionen verbunden gewesen wäre: Die Eroberung des Meeres hatte Athen groß gemacht und die Hegemonie der Stadt über den Seebund begründet. »Wenn ihr hierin nachgebt«, drohte Perikles seinen Mitbürgern, »wird man euch bald Größeres zumuten in dem Glauben, ihr werdet aus Furcht auch darin gehorchen. Durch feste Zurückweisung aber werdet ihr sie belehren, euch künftig mehr wie ihresgleichen zu behandeln.«6 Aber auch Sparta konnte sich dem Drängen seiner Bündner Korinth und Megara nicht entziehen, wenn es den Status als stärkste Landmacht wahren wollte. Wie häufig führte eine Kombination aus der Sorge um Machtverfall, Prestigeverlust und materiellen Einbußen zu einem großen Krieg. Er dauerte über 30 Jahre und zog viele Mächte auch außerhalb Griechenlands in seinen Bann. Man hat ihn deshalb nicht zu Unrecht als einen antiken Weltkrieg bezeichnet.
Neue Dimensionen des Krieges
Der Verlauf des Krieges ist nach Thukydides ein Lehrbeispiel für den Konflikt zwischen Land– und Seemacht7: »Bestand doch damals der Hauptruhm der Lakedaimonier darin, Landbewohner und die Ersten im Landkrieg zu sein, und der Athener darin, Meerbewohner und die Tüchtigsten im Seekrieg zu sein.«8 Thukydides folgt dem für die Griechen typischen Bemühen, die Welt in Gegensätzen zu verstehen. Derartige Modelle lassen sich freilich selten mit der Realität vollständig zur Deckung bringen. So ist es zwar richtig, dass die Macht der Spartaner auf ihren Hopliten beruhte, aber auch Sparta hat sich dem allgemeinen Trend zur Stärkung der Marine nach den Perserkriegen nicht gänzlich entzogen: immerhin verfügten sie über 100 Kriegsschiffe. Hinzu kam die Trierenflotte Korinths sowie die Schiffe anderer Bündner wie Megara oder Sikyon, so dass man eine Gesamtzahl von mindestens 170 einsatzbereiten Einheiten annehmen kann.9 Schließlich konnte man im Notfall noch auf die syrakusanische Marine hoffen.
Tatsächlich haben die vorausschauenden Militärs unter den Spartanern auch schon sehr früh auf die kriegsentscheidende Bedeutung einer Flotte hingewiesen und gehofft, im Laufe der Kampfhandlungen den technischen Rückstand gegenüber den Athener Trieren und die geringere Erfahrungen im Seekrieg ausgleichen zu können.10 Zwei gravierende Probleme belasteten allerdings die spartanischen Bemühungen: Die Holzbestände der Peloponnes galten für den Schiffbau als minderwertig. Deshalb mussten Sparta und seine Verbündeten ihr Schiffbauholz über weite Entfernungen aus Sizilien und Süditalien beziehen, während die qualitativ hochwertigen Bestände Thrakiens und Makedoniens weitgehend von Athen kontrolliert wurden.11 Da die Athener und ihr Seebund ferner die Seeherrschaft im Saronischen Golf ausübten, blieb der Korinthische Golf das einzige Ausfalltor, durch das die notwendigen maritimen Ressourcen auf dem Seewege herangeschafft werden konnten und eine Vereinigung der korinthischen und spartanischen Seestreitkräfte möglich war. Deshalb verlegten die Athener schon sehr früh Verbände unter dem Strategen Phormion (siehe >) auch in diese Gewässer. Die maritime Kraft des Peloponnesischen Bundes kam so nur selten geballt zum Einsatz.
Zu den geostrategischen Nachteilen kamen die hohen Kosten der Seekriegsführung, die Sparta anders als Athen allein über einen längeren Zeitraum nicht tragen konnte. Ferner erreichten die Ruderer des Bundes bei weitem nicht den professionellen Ausbildungsstandard der Athener. Deshalb benutzten die Korinther und Spartaner wie seinerzeit die Athener bei Salamis gegenüber den phönikischen und kleinasiatischen Einheiten (siehe >) einen robusten Schiffstyp, der für den Nahkampf und den einmaligen Rammstoß, aber nicht für kunstvolle Manöver konzipiert war. Eine solche Taktik war aber nur dort erfolgreich, wo sich die überlegene Manövrierkunst der Athener nicht entfalten konnte. Dies beschränkte den Operationsspielraum der spartanischen Flotte noch einmal erheblich, solange nicht aus besonderen Umständen die überlegene Seeherrschaft der Athener ins Wanken geriet.
Die Schwäche des Gegners und die eigenen Stärken bestimmten die Kriegsstrategie der Athener: Sie verfolgten eine begrenzte Kriegsführung zu Lande, die jede offene Feldschlacht vermied, dagegen offensive Operationen zur See und an den Küsten der Peloponnes.12 Das Festungsdreieck zwischen der Stadt und dem Piräus bot der Bevölkerung im Fall eines Angriffes der spartanischen Landarmee genügend Platz. Die Flotte sorgte für Nachschub und sollte den Gegner durch Angriffe von See auf die Küsten der Peloponnes zermürben und von Getreide- und Holzzufuhren (vor allem aus Sizilien) abschneiden sowie die Seeherrschaft über den Saronischen Golf und die Ausfahrt des Korinthischen sichern.13
Die Spartaner setzten dagegen angesichts der beschriebenen Schwierigkeiten maritimer Kriegsführung zunächst auf ihre siegesgewohnte Hoplitenarmee. Dies war sicherlich auch eine Folge der geringeren finanziellen Rücklagen, die ihnen im Gegensatz zu den Athenern zur Verfügung standen.14 Die Landtruppen sollten durch regelmäßige Einfälle in Attika die Nahrungsgrundlagen der Athener zerstören und die gegnerische Bürgerarmee zum Kampf vor den Mauern verleiten.15 Obwohl ihnen dies nicht gelang, hielten sie in der Folgezeit an den Landexpeditionen vor die Tore Athens wohl auch deshalb fest, um die athenische Flotte zu binden und sie von eigenen maritimen Expeditionen im Westen Griechenlands (Kerkyra) abzulenken.16 Die Kriegsstrategie Spartas war also keineswegs so unflexibel und hausbacken, wie sie mitunter dargestellt wird.17 Ungewöhnlich war schon allein die Dauer der spartanischen Besetzung des attischen Landes; sie umfasste bis zu 40 Tage und wiederholte sich sechsmal; nach 413 entwickelten die Spartaner mit dem epiteichismos, der dauerhaften Besetzung Attikas (vom Grenzort Dekeleia aus) ein neues Strategem, das nun nicht mehr nur die lokale Öl- und Getreideversorgung, sondern auch die gewerbliche Produktion sowie den Silberabbau in den Minen von Laureion lahmlegte.18
Nicht nur die Athener, auch die Spartaner verliehen damit dem Kampf um Ressourcen und Materialien eine Dimension, die der griechischen Kriegsführung bis dahin fremd war. Die Zerstörung von Feldern sowie das Plündern von Vieh und Gehöfte hatten seit Urzeiten das Gesicht des Krieges in Griechenland geprägt, doch bewegten sich diese Aktionen bis ins erste Drittel des 5. Jahrhunderts in einem überschaubaren räumlichen Rahmen; sie haben die griechische Landkriegsführung territorial erheblich eingeschränkt. Doch als die persische Invasion zu großräumigeren Planungen zwang und die wachsende Bevölkerung Athens immer abhängiger von überseeischen Getreideimporten wurde – vor Beginn des Peloponnesischen Krieges musste wahrscheinlich schon die Hälfte mit ausländischem Getreide versorgt werden (siehe >)19 –, musste sich die Kriegführung den erweiterten Rahmenbedingungen anpassen. Die endgültige Wende brachten die raumgreifenden Operationen der athenischen Flotte und der Aufbau des Seebundes. Sie erschlossen der Kriegsführung völlig neue strategische Optionen, machten aber gleichzeitig – wie bereits die Vorgeschichte des Krieges verdeutlichte – die Beteiligten immer abhängiger von überseeischer Versorgung. Der Peloponnesische Krieg entwickelte sich so zu einem »weltweiten« Ringen um Routen und Ressourcen, bei dem es nur noch selten zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen den Armeen beider Seiten kam.
In einer solchen Konstellation hatten die Athener aufgrund ihrer Seeherrschaft zunächst Vorteile. So konnte bereits 429 der Stratege Phormion nach einem Sieg an der Einfahrt in den Golf von Korinth über eine zahlenmäßig überlegene peloponnesische Flotte die Kornzufuhr von Sizilien nach Korinth und auf die Peloponnes so weit unterbinden, dass die Getreidepreise im Gebiet der Peloponnes stiegen. Demgegenüber bewirkten die Einfälle der Spartaner in Attika wenig, weil athenische Reiter größere Verwüstungen verhindern konnten und die Flotte die Nahrungsversorgung sicherstellte.20 Selbst als eine im Jahr 430 ausbrechende Seuche ein Drittel der Athener Bevölkerung dahinraffte, blieb die Stadt kriegsbereit.
Ein weiterer Nebeneffekt der strategischen Neuausrichtung des Krieges wurde von beiden Seiten zunächst unterschätzt: Er bestand in der Dauer und räumlichen Ausweitung des Krieges. Alle Kriegsteilnehmer hatten ihren Rekruten einen kurzen Einsatz und schnellen Sieg versprochen. »Es herrschte eine begeisterte Kriegsstimmung« – so Thukydides –; »außerdem war in der Peloponnes wie in Athen die junge Kriegsmannschaft sehr zahlreich; diese zog mit Freuden in den Krieg, weil sie ihn noch nicht erlebt hatte.«21 Die Realität ließ die Freude bald verfliegen. Schon in den ersten Jahren griff das Kriegsgeschehen über das griechische Mutterland hinaus und konfrontierte die Poleis mit Kampfformen, an die ihre Bürgersoldaten nicht gewöhnt waren. Immer öfter wurde der geregelte Kampfrahmen der Hoplitenphalanx durch Leichtbewaffnete und Reiter aufgebrochen.22 Die Schwerbewaffneten erlitten dabei hohe Verluste, die sich früher auf die ersten Reihen beschränkt hatten. Planmäßige Überfälle und langjährige Belagerungen prägten nun häufiger das Gesicht des Krieges. Hier wurden Gefangene getötet, eingeschlossene Hopliten gesteinigt und im Häuserkampf aus dem Hinterhalt überfallen.23 Und wie immer in der Geschichte des Krieges nahm die Brutalität der Kampfhandlungen mit der unerwarteten Dauer der Auseinandersetzungen zu.24 Insbesondere längere Belagerungen waren ungeheuer belastend, weil die Verteidiger nicht nur mit unerbittlichen Angreifern, sondern mit Verrätern in den eigenen Reihen rechnen mussten. Natürlich hatte es solche Situationen auch früher gegeben, doch nun bestimmten sie über einen längeren Zeitraum den Krieg in einem solchen Maß, dass sie die Erfahrung einer vergleichsweise kurzen Phalanxschlacht in den Hintergrund drängten: Die schnelle Entscheidung innerhalb eines berechenbaren Kampfrahmens wich einer langwierigen Konfrontation mit unkalkulierbaren Risiken bis hin zum Bürgerkrieg – eine Erfahrung, die den Verarbeitungsdruck einer vom Krieg gebeutelten Bürgerschaft in einer zuvor unbekannten Weise erhöhte und noch lange die Wahrnehmung militärischer Ereignisse auch nach Kriegsende prägte.25
Die einzige Landschlacht zweier großer Hoplitenarmeen im Jahr 418 bei Mantineia zwischen Athen, Argos, Mantineia und Elis auf der einen sowie Sparta auf der anderen Seite fand bezeichnenderweise in einer Zeit statt, als der Peloponnesische Krieg offiziell (durch den Frieden des Nikias, siehe >) sistiert war.26 Sie gilt als Höhepunkt der Phalanxtaktik und ist wohl deshalb von Thukydides auch so ausführlich beschrieben, weil es sie nur noch selten gab.27 Im Zuge der Perserkriege hatten Athen und Sparta die Reihen ihrer Hopliten wahrscheinlich noch enger geschlossen (siehe >). Spätestens seit dieser Zeit prallten auch bei Schlachten zwischen den Poleis geschlossene und bis zu 12 Schilde tief gestaffelte Phalangen aufeinander. In den nie länger als zwei Stunden dauernden Gefechten trugen allerdings wohl nur die ersten, schwer bewaffneten Reihen den Nahkampf aus, während die hinteren, leichter bewaffneten Kämpfer die Promachoi mit Hilfe ihrer Schilde nach vorn schoben.28 Komplizierte taktische Manöver waren weder möglich noch erwünscht. Das Ziel war, die gegnerische Phalanx zu zersprengen. Die Attacke ging meistens vom rechten Flügel aus. Von hier aus suchte man die linke Flanke des Gegners zu überflügeln und den Rest der Armee aufzurollen.29 Der Grund für die Rechtslastigkeit des Angriffs liegt in dem von Thukydides erstmals beschriebenen Rechtsdrall der Hoplitenheere. Er ergab sich daraus, dass der Phalangit seine ungedeckte rechte Seite so eng wie möglich hinter den Schild seines Nebenmannes zu bringen versuchte. Ferner wird deutlich, weshalb die Spartaner bei solchen Schlachten meist die Oberhand behielten. Während nämlich die Gegner »heftig und stürmisch«, also recht ungeordnet vorstießen, rückten die Spartaner wohlgeordnet nach dem Klang von Flötenspiel auf den Gegner zu30: Dies verschaffte ihnen – wie später den Römern (siehe >) – einen entscheidenden psychologischen und taktischen Vorteil. Der Anblick einer gemessenen Schrittes anrückenden Phalanx ließ die Gegner häufig noch vor dem Zusammenstoß die Flucht ergreifen. Außerdem ermöglichten es die bis zum Kampf bewahrte Ordnung und der einkalkulierte Sieg des rechten Flügels, auf Krisen schnell zu reagieren; so entschied bei Mantineia der spartanische König, der übrigens zum ersten Mal auch freigelassene Heloten als Hopliten einsetzte, die Schlacht durch den Erfolg des rechten Flügels gegen den größeren Teil des feindlichen Heeres, obwohl sein linker Flügel zurückgedrängt wurde und die Lücke nicht geschlossen werden konnte.31
Die Überlegenheit der Spartaner beruhte demnach weniger auf einer besonderen taktischen Ausbildung oder Flexibilität – auch sie konnten den Rechtsdrall der Phalanx nicht verhindern und mussten mit Lücken in den Reihen rechnen32 –, sondern auf der Erfahrung, der Disziplin und dem Selbstbewusstsein ihrer Hopliten in der Schlacht sowie auf der Hoffnung, dass es überhaupt zu einer Schlacht kam und ein Sieg den Krieg entscheiden würde. Genau dies trat aber nicht ein, weil Perikles »den Krieg ohne Entscheidung, durch bloße Ermattung«33 zu gewinnen suchte. So entwickelte sich der Peloponnesische Krieg zu einem großräumigen Ringen um maritime Nachschubwege und strategische Positionen in Küstennähe. Landkämpfe wurden gegen Invasoren von See her geführt, hier hatten die Athener wegen des Überraschungseffekts Vorteile.34 425 besetzte Demosthenes die Festung Pylos in der Bucht von Navarino in der Nähe des Berges Ithome. Nach dem Sieg über eine Flotte des Bundes konnte er mit Leichtbewaffneten (Peltasten) ein spartanisches Heer auf dem für Hopliten ungewohnten Gelände der Insel Sphakteria einschließen und ein Jahr später zur Kapitulation zwingen.35
Ausweitung der Operationen:
Brasidas in der Nordägäis und die
Sizilienexpedition der Athener
Erst jetzt konnten jüngere Mitglieder führender Familien in Sparta eine Modifizierung der engräumigen, auf Schlachtentscheidungen und Plünderungen abzielenden Kriegspolitik 36 durchsetzen. Sie übertrugen damit in mancher Hinsicht die maritime Strategie Athens auf das Land. Im Frühjahr 424 marschierte Brasidas mit einem Heer aus peloponnesischen Söldnern und 700 Heloten, denen vermutlich die Freiheit nach dem Kampfeinsatz versprochen war, quer durch Böotien und Thessalien nach Norden; während des Zuges wurde das Heer vielleicht noch durch leichtbewaffnete Söldner oder Bündner ergänzt. Dieser Feldzug war revolutionär und richtungsweisend. Er nahm eine Praxis raumgreifender Feldzüge außerhalb der Peloponnes im 4. Jahrhundert vorweg. Sie wurden nicht mehr überwiegend mit der Hoplitenarmee der Spartiaten, sondern mit gemischten Verbänden aus Söldnern, Leichtbewaffneten und freigelassenen Heloten, sogenannten Neodamoden, geführt (siehe >).37
Brasidas war außerordentlich erfolgreich. Er eroberte das für den Holzexport so wichtige Amphipolis und gewann die Kontrolle über die Minen des Pangaion in Thrakien.38 Mit diesen Ressourcen begann er den Bau einer Flotte, um die nordägäische Seeherrschaft Athens ins Wanken zu bringen. In diesem Augenblick verweigerten die spartanischen Behörden jedoch ihre Unterstützung. Sie fürchteten wohl um die spartanischen Gefangenen in Athen und glaubten, der erfolgreiche Kommandeur könne sich so weit entfernt vom spartanischen Kosmos mit einer zu großen Teilen aus Söldnern zusammengesetzten Truppe und zumal zur See ihrer Kontrolle entziehen.39 Brasidas fiel kurze Zeit später in einer Schlacht gegen den Athener Kleon, der ebenfalls starb. Damit war der Weg frei für einen Frieden (des Nikias, 421 v. Chr.), der allerdings nicht lange hielt.
Zu groß war auf beiden Seiten die Unzufriedenheit über das bisher Erreichte. Besonders die Athener hatten zwar ihren alten Besitzstand wahren können, aber nicht die uneingeschränkte Seeherrschaft zurückgewonnen und auch noch nicht die strategischen Möglichkeiten genutzt, die sich ihnen ganz zu Beginn durch das Bündnis mit Kerkyra im fernen Westen boten. Willkommener Anlass war die Bitte der sizilischen Stadt Segesta um Unterstützung gegen Leontinoi und Syrakus. In langwierigen Verhandlungen konnte Alkibiades die Volksversammlung dazu bewegen, 143 Trieren sowie zahlreiche Transportschiffe mit über 25 000 Ruderern und 6400 Soldaten nach Sizilien zu schicken. Es war die größte Flotte, die jemals eine griechische Polis über diese Entfernung ausgesandt hatte – der Höhepunkt der raumgreifenden Seestrategie Athens. Neben den üblichen Motiven solcher Großexpeditionen, die Aussicht auf Beute und militärische Erfolge, welche die Solidarität der Bündner zu Athen stärken sollten, konnte Alkibiades mit zwei machtpolitischen Argumenten überzeugen: Nur ein Präventivschlag werde die Syrakusaner so weit schwächen, dass sie als Verbündete der Spartaner ausfielen. Nach Thukydides und Plutarch plante Alkibiades aber nicht nur Sizilien, sondern auch Karthago, Italien und die Küstengebiete des Westens zu erobern, um mit dem geballten Militärpotential des Westens Sparta endgültig niederzuringen.40 Auch diese völlig unrealistischen Pläne waren die Folge einer Seekriegspolitik, die keine räumlichen Grenzen kannte. Perikles hatte den Mitbürgern in seiner letzten Rede (430) zugerufen: »(...) ich aber will euch beweisen, dass ihr über einen der beiden Bereiche, die dem Menschen zur Benutzung offen liegen, nämlich Land und Meer, ohne jede Schranke gebietet, so weit ihr ihn heute für euch in Besitz habt und so sehr ihr ihn noch erweitern möget, und es gibt niemanden, der euch, wenn ihr mit der verfügbaren Flottenmacht in See geht, in den Weg treten könnte, weder der Großkönig noch ein anderes der jetzigen Völker.«41
Als die hoch gerüstete Flotte in See stach, überwog die Zuversicht. Doch von Beginn an lähmte der Streit der Kommandeure über die richtige Strategie die Schlagkraft der Flotte. Außerdem flüchtete mit Alkibiades der fähigste Kommandeur vor einer Anklage in Athen nach Sparta und eröffnete den Behörden Details und Ziele des Unternehmens. Noch schwerer wogen militärtechnische Versäumnisse: So schlug man zwar die syrakusanische Flotte in einem ersten Gefecht, aber die Stadt selbst war nicht einzunehmen, weil den Athenern gegen die hervorragende Reiterei der Belagerten eine eigene Kavallerie sowie Leichtbewaffnete und Belagerungsmaschinen fehlten.
Die endgültige Wende zu Gunsten der Syrakusaner brachte das Eingreifen einer spartanischen Entsatzarmee unter Führung des Gylippos, einem Mann, der aus demselben Holz geschnitzt war wie Brasidas. Gylippos kannte sich in den sizilischen Verhältnissen bestens aus und hatte zahlreiche Söldner angeworben.42 Er reorganisierte die Verteidigung der Syrakusaner und veranlasste sie, die Bauart korinthischer Kriegsschiffe zu übernehmen: Um den engen Raum im Hafen auszunutzen und die überlegene Manövrierkunst der Athener nicht zum Zuge kommen zu lassen, verkürzte man die Schiffsvorderteile, verstärkte die Stabilität der Einheiten durch Stützen innerhalb des Rumpfes und versah die Schiffe am Bug mit Sturmbalken.43 Das bedeutete im Prinzip eine Umkehrung der Verhältnisse von Salamis, wo die Athener ihrerseits die marinetechnische Überlegenheit ihrer Gegner ausschalten konnten (siehe >). Die Syrakusaner gewannen mit der gleichen Taktik die Oberhand. Nachdem mehrere Durchbruchsversuche der Athener gescheitert waren, gaben ihre Strategen den Befehl, die letzten Einheiten zu verbrennen. Der Rest der Invasionsarmee kapitulierte nach einem verlustreichen Rückzugsversuch über Land.
Die Niederlage in Sizilien erschütterte weniger die Zuversicht der Athener auf ein günstiges Kriegsende; vielmehr überzeugte sie die Spartaner und Korinther davon, dass unter günstigen Umständen ein Sieg über die als unbezwingbar geltenden athenischen Schiffe möglich war. Die persischen Satrapen Kleinasiens waren über die Situation informiert und sahen in ihr eine große Chance, Athen zu schwächen und dadurch wieder in den Besitz der ionischen Küstengebiete zu kommen. Sie boten den Spartanern gegen die Preisgabe der kleinasiatischen Küste große Geldmengen zum Flottenbau an. Damit gewannen sie das, was ihnen bisher zum Aufbau einer leistungsfähigen Marine gefehlt hatte. Tatsächlich konnten die Spartaner in der Folgezeit mit der athenischen Flotte rein quantitativ mindestens gleichziehen. Und so entwickelte sich die letzte Phase des Peloponnesischen Krieges zu einem einzigen Kampf von Geschwadern und Flotten in den strategisch wichtigen Gewässern der nördlichen und östlichen Ägäis.
Initiator der spartanischen Flottenpolitik wurde Lysander, der wie Brasidas nicht aus den ersten Adelsfamilien stammte. Seine Freundschaft mit Kyros, dem Oberbefehlshaber der persischen Truppen in Kleinasien, sicherte einen steten Geldzufluss, und er war es auch, der wie Brasidas das Operationsgebiet der Flotte in die nordöstliche Ägäis verlegte, um Athen von der Getreideversorgung abzuschneiden. Trotz einiger Erfolge der Athener unter dem rehabilitierten Alkibiades ging sein Plan auf. Im Jahr 405 verlor die letzte athenische Flotte ein entscheidendes Gefecht bei Aigospotamoi. Ein Jahr später schlossen spartanische Schiffe und Landtruppen Athen ein. Nach einem halben Jahr kapitulierte die Stadt. Sparta setzte gegen den Protest Korinths, Thebens und anderer Poleis, welche die Zerstörung Athens forderten, durch, dass Athen seine verbliebenen Schiffe bis auf zwölf ausliefern, die Stadtmauern schleifen und alle Besitzungen außerhalb Attikas freigeben sowie Mitglied des Peloponnesischen Bundes werden müsse.44
In der Stadt wurde mit Rückendeckung des spartanischen Feldherrn Lysander ein oligarchisches Regiment (»Herrschaft der Dreißig«) installiert und mit einer Besatzung verstärkt. Trotzdem gelang es einer Gruppe von emigrierten Demokraten unter Führung des Thrasybulos den Piräus zu besetzen. Unterstützung erhielt sie von dem spartanischen König Pausanias, der das allzu selbstherrliche Gebaren des Lysander (ähnlich wie seinerzeit das des Brasidas) einzuschränken suchte. In den folgenden Straßenkämpfen brach die »Herrschaft der Dreißig« zusammen. Den Oligarchen wurde eine Amnestie gewährt, von der nur der engere Kreis ihrer Anhänger ausgeschlossen war. 403 feierten die Athener die Wiederherstellung der Demokratie. Sie hatte die militärische Niederlage überlebt, weil sie sich bereits zu tief in den Köpfen und in den Herzen der meisten Bürger als die ihnen angemessene Ordnung festgesetzt hatte.45
Eine wichtige Voraussetzung für die Stabilisierung der Demokratie war, dass sich auch die Wirtschaft vergleichsweise schnell erholte, der Piräus wieder aufblühte und Athen von einer Agrarkrise verschont blieb.46 Und sofort lebte auch der kriegerische Kampfgeist der Demokratie wieder auf – von Kriegsmüdigkeit keine Spur 47: Nicht einmal zehn Jahre nach der Kapitulation marschierte ein athenisches Hoplitenheer nach Theben, um die Stadt gegen Sparta zu unterstützen. Der Peloponnesische Krieg ging unter veränderten Vorzeichen weiter und zog sich noch einmal bis in die Mitte der 380er Jahre hin. Sparta wurde immer mehr isoliert und zeigte sich nicht in der Lage, das Machtvakuum zu füllen, das durch die Kapitulation Athens zunächst entstanden war. Auch ein Krieg gegen die Perser in Kleinasien zur Befreiung der kleinasiatischen Städte ging verloren und kostete den Spartanern die Flotte und die Seeherrschaft in der Ägäis. Stattdessen kontrollierten nun wieder persische Schlachtschiffe das östliche Mittelmeer.48 Schon in den 390er Jahren kreuzten persische Geschwader in der Ägäis und installierten ein pro-persisches Regiment in Korinth. Auch Athen erhielt Subsidien, um ein Gegengewicht gegen Sparta zu bilden. Die griechische Welt schien rund hundert Jahre nach Salamis ein Spielball persischer Machtpolitik.
Im Jahr 386 beschied schließlich der persische König die kriegführenden Poleis nach Sardeis und verkündete ein Friedensdiktat, das den Persern die kleinasiatischen Städte zusicherte und die Gemeinden des griechischen Mutterlandes für autonom erklärte. Konkret bedeutete dies, dass sie nicht mehr Mitglied eines Bundes werden durften. Damit war allen überregionalen Machtbildungen im griechischen Raum der Boden entzogen. Auch wenn der Peloponnesische Bund weiterexistierte und Athen im Jahr 377 einen neuen, gegen Persien gerichteten Seebund organisierte – die große Zeit der Bündnissysteme ging zu Ende. Durch die langen Kriege geschwächt und ohne den Enthusiasmus von Salamis und Plataiai war weder Athen noch Sparta in der Lage, auch nur annähernd die dominierende Rolle des 5. Jahrhunderts einzunehmen. Gewinner waren die Randmächte: im Westen Karthago, im Norden Makedonien und im Osten das persische Reich.
Neue Waffengattungen und
Aufgaben des Feldherrn
Der machtpolitische Wandel korrespondierte mit den militärtechnischen Veränderungen des Peloponnesischen Krieges. Hopliten bildeten zwar immer noch den Kern der Bürgerheere, doch spätestens seit den erfolgreichen Kämpfen der Athener auf Sphakteria (siehe >) kamen immer häufiger, meist aus Thrakien angeworbene Leichtbewaffnete zum Einsatz. Sie wurden wegen ihres kleinen Schildes (pelte) Peltasten genannt und kämpften ohne Körperpanzerung mit Wurfspeer und Dolch (seltener mit Stoßlanze und Schwert). Dieser hochmobile Soldatentyp konnte den Hopliten auf hügeligem und unzugänglichem Terrain schwere Verluste beibringen, weil er seine Angriffe aus dem Hinterhalt auf die Flanke der Phalanx vortrug und sich zurückzog, bevor die Schwerbewaffneten reagierten.49
Eine zweite Neuerung betraf die Reiterei. Traditionell hatten die klassischen Poleis wie Sparta, Athen oder Korinth dieser (aristokratischen) Waffengattung geringe Bedeutung beigemessen. Erst die Perserkriege veranlassten Athen dazu, sich trotz der ungünstigen naturalen Bedingungen Attikas eine Reitertruppe von rd. 300 Mann zu halten.50 Sie spielte aber in den folgenden Kämpfen in Griechenland wohl nur eine untergeordnete Rolle und wurde im Peloponnesischen Krieg vornehmlich eingesetzt, um die spartanischen Invasionen in Attika zu behindern. Als dann aber die Poleis im weiteren Verlauf des Krieges ihre Feldzüge nach Westen (Sizilien) und Norden (Chalkidike) ausdehnten, trafen sie auf Gemeinden, die über hochtrainierte Reiterverbände verfügten und diese unter bestimmten Umständen sehr erfolgreich gegen die Flanken der Hoplitenarmeen einsetzten, wie etwa die Athener bei der Belagerung von Syrakus erfahren mussten.51
Die größten Erfolge versprachen schließlich kombinierte Verbände aus Reitern, Peltasten und Hopliten. Sie vereinten die Beweglichkeit der neuen, insgesamt leichter gerüsteten Waffengattungen mit der Stoßkraft der Phalanx und waren selbst vor Flankenangriffen geschützt. So konnte der Athener Alkibiades die Truppen des Satrapen Pharnabazos in Kleinasien mit athenischen Fußsoldaten und Reitern besiegen und bis in die Nacht hinein verfolgen. Es war nicht mehr allein die Wucht der Phalanx, sondern der kombinierte Einsatz verschiedener Waffengattungen, der über Erfolg und Niederlage entschied.52
Mit der räumlichen Ausdehnung des Krieges und der Veränderung der Kampftaktiken begann auch ein neuer Soldatentyp das Kampfgeschehen zu prägen. Um sich auf die Bedingungen des Krieges in den Randgebieten einzustellen, warben Athen und Sparta Peltasten und Reiter gegen Sold an, die fast durchweg aus den Einsatzgebieten selbst stammten und mit den dortigen Verhältnissen vertraut waren. Nach Kriegsende bildeten diese Söldner ein großes Potential beschäftigungsloser Soldaten, die für Geld überall und gegen jeden zu kämpfen bereit waren. Zu ihnen stieß eine wachsende Zahl von Vagabunden und Verbannten aus den Poleis selbst. Angeführt wurden sie von Offizieren der ehemaligen Kriegsgegner, die, dem Leben der Bürgergemeinde entwöhnt, den Kontakt zu möglichen Auftraggebern herstellten.
Das klassische Bild eines solchen Söldnerführers hinterließ der Athener Xenophon. Er trat im Jahr 402 in den Dienst des persischen Prinzen Kyros in Kleinasien.53 Oberbefehlshaber der rund 13 000 griechischen Söldner des Kyros war der Spartaner Klearchos, ein Mann – so Xenophon –, »der dem Krieg leidenschaftlich ergeben ist; der, obgleich es ihm freisteht, ohne Schande und Nachteil im Frieden zu leben, den Krieg vorzieht; der, wenn es ihm schon möglich wäre, ein bequemes Leben zu führen, lieber sich für den Krieg anstrengen will; der, wenn er schon ungefährdet sein Vermögen behalten könnte, vorzieht, es im Krieg zu vermindern. (...) Dass er für den Krieg geschaffen war, zeigte sich darin, dass er die Gefahr liebte, Tag und Nacht den Feinden nachsetzte, und in gefährlichen Lagen besonnen war, wie alle, die dabei waren, überall bezeugen konnten.«54
Das ist das Psychogramm eines Berufskriegers, der im Krieg seine Erfüllung findet, sich im zivilen Leben dagegen unwohl fühlt, vielleicht sogar traumatische Stressphänomene erleidet55, ein Mann wie der »Kreter« Odysseus, der immer wieder aufs Neue den Kampf sucht und das behagliche Leben in der Heimat verachtet (siehe >). Was er und seine Mannschaften zu leisten vermochten, zeigte der Kriegszug, den er unter den Fahnen des persischen Prinzen Kyros gegen dessen Bruder, den Großkönig Artaxerxes II., unternahm. In der Schlacht von Kunaxa blieben die griechischen Söldner unter Klearchos auf dem rechten Flügel siegreich, aber ihr Soldherr starb im direkten Kampf mit dem Großkönig.56 Wenig später fielen die griechischen Offiziere einem Anschlag zum Opfer. Sofort bildeten die Söldner ein neues Offizierskorps – unter ihnen Xenophon – und schlugen sich vom Euphrat bis zum Schwarzen Meer durch. Nie zuvor war es einer griechischen Armee gelungen, ein Territorium dieser Größenordnung zu durchqueren. Fortan schien es möglich, großräumige Strategien, die man bisher nur im Bereich der Seekriegsführung kannte, auch zu Lande und sogar in den Weiten Vorderasiens zu planen.
Diese Möglichkeiten verbesserten sich zusätzlich, als um 402/1 Ingenieure in Syrakus Katapulte entwickelten, die von Belagerungstürmen aus ihre Geschosse mit weit größerer Wucht und Treffsicherheit schleuderten als einfache Bogenschützen. Einige Städte begannen zwar im Gegenzug den Festungsbau voranzutreiben, doch konzentrierten sich diese Anstrengungen vor allem auf die reichen Poleis des Westens wie Syrakus, die kleinasiatischen Städte und persischen Residenzen. In Griechenland hat wohl nur Athen weiträumig in den Ausbau der Wehranlagen investiert. Insgesamt erhöhte die Weiterentwicklung der Artillerie die Chancen auf die Eroberung und Erstürmung von Städten und Festungen beträchtlich, zumal sich nun auch die mobilen Peltasten unter den Angreifern befanden. Kriegszüge, die früher durch langwierige Belagerungen ins Stocken gerieten, konnten nun schneller und raumgreifender geführt werden. Der Landkrieg mit differenzierten Waffengattungen durchbrach endgültig seine zeitlichen und räumlichen Grenzen, die ihm der Bürgerhoplit auferlegt hatte.
Damit stellte der Krieg auch neue Anforderungen an den Feldherrn. Es genügte nicht mehr, sich für ein oder zwei Monate dem Kriegshandwerk zu widmen und die Regeln der Phalanxschlacht zu beherrschen. Nun hatte der Feldherr die Versorgung, Bezahlung und Einquartierung der Truppe über einen längeren Zeitraum sicherzustellen. Um die Möglichkeiten des kombinierten Einsatzes verschiedener Waffengattungen auszuschöpfen, musste er ein neues Verständnis taktischer Gefechtsführung entwickeln, außerdem Übungen und Drill intensivieren. Schon der langjährige Krieg, den Sparta seit 395 gegen die miteinander verbündeten Korinther, Thebaner und Athener führen musste (»Korinthischer Krieg«), hat viele Feldherren hervorgebracht, die diesen Anforderungen entsprachen. Einer der erfolgreichsten war der Athener Iphikrates. Kaum zwanzigjährig formte er aus einer Peltasteneinheit eine Kampftruppe, die auf allen Kriegsschauplätzen erfolgreich war. Nach Kriegsende (386) verdingte er sich als Söldnerführer des thrakischen und des persischen Königs, diente aber auch als Stratege Athens.57
Der Ruhm des Iphikrates gründete sich auf militärische Erfolge zu Land. Der Krieg zur See verlor demgegenüber im Bereich des griechischen Mutterlandes an Bedeutung. Technische Innovationen, wie der Bau größerer, mit Katapulten besetzter Schiffe, kamen aus Syrakus. Ausgangspunkt war der Sieg der schweren Schiffe der Syrakusaner über Athens Trieren im Jahre 413. Rund 10 Jahre später ließ Dionysios als Oberbefehlshaber gegen Karthago die Reihen der Ruderer auf jeder Seite auf vier erweitern und die Schiffe mit den neuen Katapulten bestücken.58 Nicht ohne Grund tauchen Vierruderer gleichzeitig nur in den phönikischen Hafenstädten auf. Denn der Bau der neuen Schiffe und die Besoldung der Ruderer, der zusätzliche Einsatz von Katapulten und der Ausbau der Fortifikationsanlagen, die Bezahlung von Söldnern und der Unterhalt der Reiterei verschlangen Unsummen, die sich nur der Perserkönig als Auftraggeber der Phöniker oder ein reicher Tyrann wie Dionysios leisten konnten.59 Die Kassen der mutterländischen Poleis waren dagegen leer. Deshalb ignorierten die meisten kostspielige militärtechnische Innovationen und reduzierten folgerichtig auch ihre Flotten. Nur Athen stemmte sich eine Zeitlang gegen den Trend. Dies konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Aufschwung der Marine im griechischen Mutterland aufs Ganze gesehen vorbei war.
Anpassungsprobleme der alten Mächte
Die steigenden Kriegskosten waren aber nicht das einzige Problem, mit dem die Poleis zu kämpfen hatten. Eine Umstellung der Militärstruktur hätte auch eine einschneidende Veränderung des bürgerlichen Kriegsethos bedeutet. Der Bürger erwarb sich Ruhm und Ehre als Hoplit (oder als Ruderer), aber nicht als Bogenschütze, den die Treffsicherheit seiner Fernwaffen vor dem direkten Kontakt mit dem Feind bewahrte, oder als Leichtbewaffneter, der aus dem Hinterhalt kämpfte. Die geringsten Schwierigkeiten einer behutsamen Gewichtsverlagerung bereitete noch die Kavallerie, weil es seit der Archaik eine ungebrochene Tradition aristokratischer Reiterei gab. Selbst den Athenern – dies zeigen die Grabreliefs des 4. Jahrhunderts mit Reiterdarstellungen – war es daran gelegen, diese an sich elitäre Waffengattung in die demokratische Wertewelt zu integrieren und sie zum Bestandteil der regulären Bürgerarmee zu machen.60 Nicht ohne Grund verfasste der Athener Xenophon zwei (»hippische«) Schriften Über die Reitkunst und Über die Aufgaben des Reiterobersten.
Das gegenteilige Extrem bildete die Artillerie. Als der Spartaner Archidamos eines der neuen Katapulte aus Syrakus sah, rief er klagend aus: »O Herakles, der kriegerische Wert (areté) des Mannes gilt nichts mehr.«61 Katapulte mochten von einem Tyrannen wie Dionysios zur Verteidigung seiner Stadt verwendet werden, im Felde waren sie für all diejenigen eine Bedrohung, die als freie Bürger gewohnt waren, innerhalb der Phalanx und im Nahkampf Mann gegen Mann ihren Mut zu beweisen und daraus ihre politische Vorrangstellung abzuleiten. Gerade sie wäre durch eine militärische Aufwertung der Leichtbewaffneten und Reiter gefährdet worden. Deshalb beharrte man auf dem Bürgerheer und auf der mit ihm verbundenen traditionellen Kriegführung. Nur in bestimmten Krisensituationen (zum Beispiel im Falle einer Belagerung) und wenn man es sich leisten konnte, setzten die Poleis zusätzlich Söldner ein.
Dass gerade ein Spartaner eine so tief verwurzelte Skepsis gegenüber den neuen Waffentechniken äußerte, ist kein Zufall: Sparta hatte in besonderem Maße mit den Veränderungen des Krieges zu ringen und sich schon immer gegenüber Neuerungen reserviert verhalten, während die Athener bereits beim Aufbau der Flotte nach dem Perserkrieg gezeigt hatten, wie aufgeschlossen sie gegenüber erfolgreichen fremden Kriegstechniken waren (siehe >). Die Spartiaten bezogen einen Großteil ihrer Legitimation aus dem Erfolg ihrer Hopliten und sahen darin auch eine Garantie ihrer Herrschaft über die Heloten. Der enge Zusammenhang zwischen militärischem Ethos, politischem System und der machtpolitischen Basis der Polis ließ Änderungsversuche als einen Angriff auf das Staatsganze erscheinen.
Das Verharren in den alten Formen musste jedoch in einer Zeit, als die Zahl der Spartiaten durch Geburtenschwund und Kriegsfolgen stetig zurückging (oliganthropia), den Widerspruch zwischen der politischen Struktur und dem Herrschaftsanspruch über größere Territorien zusätzlich verschärfen. Um die Stärke des Heerbannes angesichts der schwindenden Zahl der Spartiaten aufrechtzuerhalten, hatte man schon während des Peloponnesischen Krieges vor allem für auswärtige Operationen wie unter Brasidas und Gylippos (siehe >, >) Neodamoden (und später Periöken) rekrutiert, die aber von schlechterer militärischer Qualität waren und auch politisch als nicht besonders zuverlässig galten.62 Nach dem Ende des Krieges und der Ausweitung der spartanischen Hegemonie über die Ägäis wurde diese Kriegspolitik forciert. Besonders die Könige, die in Kleinasien gegen Persien kämpften, führten viele tausend Neodamoden ins Feld; auch die übrigen Operationen außerhalb der Peloponnes stützten sich zunehmend auf Periöken und Neodamoden.63 Da aber die Ephoren nicht in der Lage waren, Kriegsgewinne und Tribute in einen geregelten Militäretat zu überführen, und die Entwicklung einer zeitgemäßen Geldwirtschaft in Lakonien blockierten, litten diese Unternehmungen unter chronischem Geldmangel. Es blieb so den am Bosporos oder in Kleinasien operierenden Kommandeuren gar nichts anderes übrig, als die Besoldung und Verpflegung ihrer Truppen durch ausgedehnte Plünderungszüge sicherzustellen, wobei sie selbst sich über die Maßen bereicherten.64
Diese Entwicklung bestätigte das alte Misstrauen vieler Spartiaten gegenüber den negativen Auswirkungen einer Herrschaftsausdehnung außerhalb der Peloponnes; sie musste aber auch all diejenigen Poleis enttäuschen, die sich von Sparta eine bessere Zukunft erhofft hatten. Ihr Missmut erhielt zusätzliche Nahrung, als der Krieg Spartas gegen Persien in Kleinasien sehr schnell offenbarte, dass die Spartaner ausgiebig plünderten und offene Gefechte gegen die Satrapen siegreich gestalten, aber keine militärische Entscheidung erzwingen konnten, weil ohne Leichtbewaffnete und Belagerungsmaschinen die Eroberung persischer Festungen unmöglich war. Als Sparta dann noch im Jahr 394 seine Flotte bei Knidos verlor, nahm man Abschied vom Traum einer ägäischen Hegemonie, beschränkte sich auf den Kaperkrieg und konzentrierte sich wieder auf die Herrschaft im griechischen Festland.65
Aber auch hier hatte sich die Situation gewandelt. Gegen Ende des 5. Jahrhunderts begann die große Zeit spartanischer Söldnerführer, die auf den Spuren des Brasidas und Gylippos meist mit Einwilligung der heimatlichen Behörden ihr militärisches Können befreundeten Mächten in Kleinasien und Sizilien (Dionysios I.) zur Verfügung stellten und mit peloponnesischen Berufssoldaten das nach dem Sieg über Athen erweiterte Herrschaftsgebiet zu halten versuchten.66 Auch der Zug der Zehntausend (Anabasis) gehört in diesen Zusammenhang; nach der Ermordung des Klearchos (siehe >) waren auffallend viele spartanische Offiziere unter denen, die das Kommando über die griechischen Söldner übernahmen.67 Die nach Kleinasien zurückgekehrten »Kyreer« dienten unter dem Spartaner Thibron zusammen mit anderen Söldnern, Bündnern und Neodamoden, dann unter Derkylidas und schließlich unter König Agesilaos gegen die persischen Satrapen, bevor sie für Sparta in Griechenland während des Korinthischen Krieges kämpften.68
Dass Sparta nicht nur Söldner in die Fremde ziehen, sondern in zunehmendem Maße auch für sich selbst kämpfen ließ, hängt wahrscheinlich auch mit einer Veränderung der Modalitäten des Peloponnesischen Bundes zusammen. Deren Mitglieder boten Anfang der 380er Jahre an, im Bündnisfall Geld anstelle von Soldaten zu liefern. Die Spartaner akzeptierten gern, weil sie mit dem Geld nicht nur (neben den Neodamoden und Periöken) zusätzliche Söldner einstellen und damit den Rückgang der Spartiatenzahlen ausgleichen, sondern ihre Außenpolitik auch unabhängiger von den Bündnern gestalten konnten.69 Doch hatte diese Entwicklung auch den Nachteil, dass die Bündner ihrerseits im Krisenfall den Spartanern nicht mehr so loyal zur Seite standen. Ferner belastete die wachsende Verwendung von Söldnern trotz der Beiträge der Bündner die angespannten Finanzen so sehr, dass manche Könige wie etwa Agesilaos selbst in den Solddienst fremder Regenten traten, um mit den erhofften Belohnungen die heimische Kriegskasse zu füllen.
Solche aus finanziellen Zwängen geborene Unternehmungen erschwerten eine stringente Außen- und Kriegspolitik.70 Ferner zeigten die auf den Kampf mit Hopliten eingestellten spartanischen Könige – anders als die athenischen Strategen – auffällige taktische Schwächen beim Einsatz der neuen Waffengattungen, insbesondere der Söldner-Peltasten.71 Das alte Hoplitenethos und die Zentrierung auf den Kampf mit Schwerbewaffneten, seien es Neodamoden, Periöken oder Söldner, waren offensichtlich so stark im militärischen Denken der Spartaner verhaftet, dass eine konsequente Einstellung auf den allgemeinen Wandel der Kriegsführung nicht möglich war. Als im Jahr 390 die Peltasten des Iphikrates bei Korinth eine spartanische Hoplitenabteilung (mora) von immerhin 600 Mann aufrieben72, deutete sich an, dass die Überlegenheit des spartanischen Heeres in dem Maße schwand, wie der Einsatz alternativer, mobilerer Waffengattungen an Bedeutung und die potentiellen Gegner an Professionalität gewannen.
Der Erfolg des Iphikrates zeigt, dass Athen flexibler war und andere Prioritäten setzte73: Schon während des Peloponnesischen Krieges war die Hoplitenarmee nicht mehr die schlachtentscheidende Waffengattung. Gegen Ende des 5. Jahrhunderts war das militärische Training bereits professioneller als in Sparta.74 Um der Bedrohung überlegener Landtruppen zu begegnen, sicherte man das attische Bauernland durch ein neues Festungssystem.75 Ferner nutzten Athener Strategen wie Iphikrates ihre Kontakte zu den thrakischen Königen in weitaus größerem Umfang zur Anwerbung von Peltasten. Sie entwickelten sich unter athenischem Oberkommando zu einer der schlagkräftigsten Kampfeinheiten der Zeit.
Schwierigkeiten bereitete dagegen die Reaktivierung einer starken Kriegsflotte, auf der das Selbstbewusstsein und die Versorgung der Stadt in besonderem Maße beruhten. Der im Jahre 378/77 gegründete »Zweite« Seebund verschaffte den Athenern zwar die politische Rückendeckung, um die Hegemonie in der Ägäis wiederzugewinnen, aber sie konnten anders als im 5. Jahrhundert nicht mehr mit regelmäßigen Beiträgen der Bündner rechnen. Wie die spartanischen Feldzüge zu Land, so litten die Operationen Athens zur See unter chronischem Geldmangel. Die Strategen und Trierarchen waren gezwungen, Darlehen aufzunehmen, ihre Trieren zu Kaperzügen (auch gegen bundesgenössische Schiffe) und privaten Handelsgeschäften zu missbrauchen oder sich nach Ende des offiziellen Kommandos (wie so manche spartanische Könige und Offiziere) als Söldnerführer bei den Persern zu verdingen. Die Schiffsmannschaften traten häufig nur unvollzählig ihren Dienst an und mussten regelmäßig durch Fremdruderer ergänzt werden, die jedoch oft während des Einsatzes desertierten oder von finanzkräftigeren Mächten (Persien) abgeworben wurden. Wie die spartanische Landarmee litt die athenische Flotte – wenn auch aus anderen Gründen – unter einem personellen Substanzverlust, der ihre Schlagkraft allmählich minderte.
Bis in die sechziger Jahre des 4. Jahrhunderts hatten diese Probleme noch keine gravierenden außenpolitischen Auswirkungen, weil viele Bündner trotz der athenischen Übergriffe von der Sicherung des Handels profitierten und es keinen ernsthaften Konkurrenten in der Ägäis gab. Erst zwischen 357 und 355 gelang es den abtrünnigen Bundesgenossen Chios, Rhodos und Byzanz, mit finanzieller Unterstützung des karischen Fürsten Maussolos eine Flotte von 100 Schiffen gegen Athen zu mobilisieren. Die Athener erhöhten daraufhin die Zahl ihrer Schiffe auf 120, trieben damit aber die Kosten für die Ausrüstung und den Rudersold in die Höhe. Die Eroberung von Chios scheiterte, weil den Athenern, wie seinerzeit den Spartanern in Kleinasien, Belagerungsmaschinen fehlten. Der Stratege Chares warb daraufhin Söldner an, musste aber zu deren Bezahlung und auf deren Druck in den Dienst des Satrapen Artabazos treten. Die Drohungen des Perserkönigs Artaxerxes und die leeren Kriegskassen zwangen die Athener schließlich, den Krieg abzubrechen und die rebellierenden Bundesgenossen zu entlassen. Die finanzielle Doppelbelastung einer Flotte und einer Söldnerarmee führte fast zum Staatsbankrott.76
Unter dem Druck der vermögenden Schichten, welche die Kriegskosten zu tragen hatten, änderte Athen seine Kriegspolitik: Eine ursprünglich für den Theaterbesuch der armen Bürger eingerichtete Sonderkasse (Theorikon-Kasse) sicherte dem Volk regelmäßige Gelder und zügelte die aus finanzieller Not geborene Kriegsbereitschaft. Die Flotte wurde zwar auf nominell 349 Trieren gebracht, tatsächlich stachen jedoch nie mehr als 30 in See. Um Transportkosten zu sparen, warb man in entfernten Einsatzgebieten Söldner an. Abhängig von der Loyalität fremder Söldnerführer und Fürsten, verlor auch Athen an außenpolitischer Reaktionsfähigkeit und militärischer Schlagkraft.
Aufstieg Thebens und die Schlacht bei Leuktra
Günstigere Bedingungen herrschten in Thessalien, in Böotien, auf der Chalkidike, in Arkadien und Phokis, also überall dort, wo aristokratische Eliten und stammesstaatliche Strukturen gegenüber einer auf politische Selbstbestimmung pochenden Polis-Bürgerschaft dominierten und wo gefolgschaftsähnliche Bindungen einen schnelleren Einsatz von Kriegergruppen unter adliger Führung ermöglichten.77 Frei von den Zwängen des Hoplitenethos bildeten hier mit wenigen Ausnahmen Peltasten- und Reiterverbände einen anerkannten Bestandteil der einheimischen Truppen, die nun nur noch abgerufen, aber nicht neu in die heimische Militärstruktur integriert werden mussten. Fast alle Gemeinden der Randgebiete konnten zudem auf eine lange Tradition heimischer Söldner zurückblicken.
Bis weit in das 5. Jahrhundert hinein war es den Bündnissystemen Athens und Spartas gelungen, dieses militärische Potential zumindest teilweise für sich verfügbar zu machen und eigenständige Machtbildungen zu blockieren. In dem Maß, wie sich die alten Poleis den neuen Militärtechniken versperrten oder sie nur selektiv übernahmen, gewannen die Randstaaten auch neue Handlungsspielräume. Durchweg nutzten reiche Adlige die latenten Kraftreserven ihrer Heimat mit Hilfe ihrer Gefolgschaften und ihrem Vermögen. Die meisten mussten allerdings zunächst eine Organisationsform finden, mit der das militärische Potential gebündelt und vom Zugriff der alten Hegemonialmächte befreit werden konnte. Eine erfolgversprechende Lösung boten Staatenbünde (koiná) unter Führung der jeweils bevölkerungsreichsten Gemeinde. So rüstete in den 360er Jahren Olynth seine aus Peltasten, Reitern, Hopliten und thrakischen Söldnern bestehende Armee auf und errang im Rahmen des chalkidischen Bundes eine bedeutende Machtposition auf der Halbinsel. Epaminondas und Pelopidas nutzten dagegen den Bevölkerungsreichtum Thebens und die lange Tradition der Pferdezucht zum Aufbau einer Armee von 8000 Hopliten und Peltasten, 1500 Reitern und der 300 Mann starken Eliteeinheit der »Heiligen Schar«. Mit dieser Streitmacht gelang den Thebanern im Jahre 371 bei Leuktra ein vollständiger Sieg über den spartanischen Heerbann. Er gilt gemeinhin als Werk des genialen Feldherrn Epaminondas, der »die Regelbücher über Bord warf« (N. M. Kennell) und die Spartaner mit der revolutionären Taktik der »schiefen Schlachtordnung« überraschte.
Nun entsprach allerdings die angebliche Regelkonformität griechischer Schlachten selten der Realität (siehe >). Oft entpuppen sich »revolutionäre Neuerungen« und der Genius des Feldherrn als flexible Anpassungen länger angelegter Tendenzen in einem bestimmten gesellschaftlich-militärischen Zusammenhang, der in vielfacher Hinsicht repräsentativ für die allgemeine Entwicklung der Kriegskunst ist. Genauso verhielt es sich auch im Falle der Schlacht von Leuktra78: Die böotischen Bauernhopliten waren Milizionäre, die der Disziplin und taktischen Kunst der spartanischen Phalanx nichts als die Wucht eines ersten Frontalangriffs entgegenzusetzen hatten – eine Taktik, die auch später weniger geschulte Armeen gegen einen taktisch überlegenen Gegner anwandten (siehe >). Um die Stoßkraft zu maximieren, hatten die nur für ein Jahr kommandierenden thebanischen Feldherren schon während des Peloponnesischen Krieges (424) bei Delion ihre Phalanx bis zu 25 Mann tief gestaffelt.79 Der Nachteil einer solch tiefen Aufstellung bestand darin, dass sie von einem zahlenmäßig etwa gleich starken Gegner, der seine Phalanx wie üblich nur acht oder zehn Reihen tief staffelte und seine Linie weiter ausdehnen konnte, relativ leicht überflügelt werden konnte.
Die Aufwertung der Reiterei im Verlauf des Peloponnesischen Krieges bot nun die Chance, diesen Nachteil auszugleichen, indem die Reiter den Flankenschutz der tief gestaffelten Phalanx übernahmen sowie zusätzlich den Angriff der Hopliten unterstützten. Die Thebaner waren wie die Syrakusaner und Thessalier berühmt für ihre hervorragend trainierte Kavallerie. Voraussetzung für den Schlachterfolg war, dass man den Flankenangriff des Gegners möglichst im Keim erstickte und die Kampfkraft der Reiter früh mit der Wucht der Phalanx koordinierte. Zu diesem Zweck griff Epaminondas auf eine Taktik zurück, die nicht gänzlich neu war 80, nun aber in der Kooperation mit der Reiterei schlachtentscheidend wurde: Anstatt wie üblich die besten Truppen auf der rechten Flanke zu postieren und von hier aus die Offensive einzuleiten, stärkte er den linken Flügel. Dadurch rückte die Schlachtreihe nach links und wurde aus der Sicht des Gegners »schief«. Von der linken, vorgeschobenen Flanke stieß die Masse des thebanischen Hoplitenheeres (von 4000 Mann), angeführt von der keilförmig aufgestellten Elitetruppe der »Heiligen Schar«, direkt auf die Spartiaten unter ihrem König Kleombrotos und zerschlug ihre Reihe gleich beim ersten Ansturm. Vor dem Angriff hatte die böotische Reiterei die vor der Front postierte spartanische Kavallerie zerstreut. Dennoch versuchte der spartanische König der drohenden Überflügelung auf dem rechten Flügel durch Massierung seiner Truppen entgegenzuwirken. Dadurch entstand wie seinerzeit bei Mantineia (siehe >) eine Lücke zu den bundesgenössischen Einheiten auf dem linken Flügel, die auch diesmal nicht geschlossen werden konnte.81 Die Spartaner waren dem doppelten Angriff von Reiterei und gegnerischer Phalanx ausgesetzt – ein Triumph der verbundenen Waffen gegen eine Militärordnung, die allein auf die Erfahrung der Phalanx vertraute. 400 Spartiaten fielen – ein Schlag, von dem sich Sparta nicht mehr erholen sollte. Theben sicherte sich dagegen im Rahmen des böotischen Bundes ein Jahrzehnt lang die Hegemonie in Griechenland.
Makedoniens Weg zur Großmacht
Wieder eine andere Konstellation ergab sich in Gebieten wie Arkadien und Phokis, deren Wirtschafts- und Finanzkraft weit hinter den reichen Agrarstaaten Böotiens oder der Chalkidike zurückblieb. Hier konnte sich der Ehrgeiz reicher Adliger ungehemmter entfalten, weil ihnen weder aus der ländlichen Bevölkerung noch aus den wenigen Poleis nennenswerte Gegengewichte erwuchsen. So gewann der Phoker Philomelos in den 350er Jahren den Demos mit der Aussicht auf die Inbesitznahme Delphis für seine Pläne und setzte seine Wahl zum obersten Feldherrn (strategós autokrátor) des Bundes durch. In den folgenden Monaten investierte er große Teile seines Vermögens in die Anwerbung eines Söldnerheeres und ließ 1000 einheimische Peltasten nach dem Vorbild des Iphikrates ausbilden.82 Danach verstärkte er zusammen mit seinem Bruder Onomarchos das Söldnerheer auf 20 000 Reiter und Fußsoldaten. Ingenieure entwickelten wahrscheinlich auch die in Syrakus erfundenen Katapulte zu mobilen Steinwerfern weiter.83 Phokis gebot damit über die stärkste Landarmee Griechenlands.
Eine dritte Variante des adligen Machtaufstiegs konzentrierte sich auf die wenigen Poleis der Randgebiete. Häufig waren es innere Konflikte oder äußere Bedrohungen, die den Ruf nach einem starken Mann mit militärischen Ordnungskräften (Söldnern) laut werden ließen. Nachhaltiger Erfolg war jedoch nur dem beschieden, der breite städtische Schichten an sich zu binden und seine Herrschaft über ein größeres Gebiet auszudehnen vermochte. Diese Konstellation war in Thessalien gegeben. Das Land war trotz seines Reichtums durch den Kampf konkurrierender Adelssippen geschwächt, die ihre lokale Macht vornehmlich auf Landbesitz und auf der großen Zahl abhängiger Kleinbauern (Penesten) gründeten. In den 380er Jahren bot der Adlige Jason in Pherai und Pagasai landflüchtigen Bauern und Handwerkern wie Polyeides, der später im Dienste Philipps das Torsionsgeschütz erfand, lukrative Beschäftigung beim Aufbau einer 6000 Mann starken, aus Reitern und Fußsoldaten bestehenden Söldnerarmee. Hochtrainiert und loyal sicherte sie ihrem Kommandeur bald die Macht über Thessalien und die Bergregionen, aus denen Jason seine Peltasten rekrutierte. Im Jahr 372 konnte Jason über weitere Fußsoldaten und Reiter des thessalischen Bundesheeres verfügen. Mit ihnen strebte er nach der Hegemonie in Griechenland und erwog sogar die Eroberung des Perserreiches.84
Dass es nicht dazu kam und sein Nachfolger sich wieder mit einer regionalen Machtposition begnügen musste, lag an den Umständen des Aufstiegs. Dieser war nur im Rahmen einer Ausnahmestellung möglich, die mit den Interessen der Standesgenossen kollidierte; potentiell erhöhte jeder militärische Erfolg den Widerstand adliger Konkurrenten: So weigerten sich thessalische Adlige, ihre Gefolgschaften an das Bundesheer unter einem Feldherrn abzutreten, der ihre Handlungsspielräume einengte. Deshalb hat Jason nie das gesamte Bundesheer Thessaliens einberufen. Der Widerstand der Aristokratie blockierte somit den hegemonialen Aufstieg ihrer Heimat, weil sie nicht bereit waren, militärische Macht in die Hände eines Konkurrenten zu legen. Als Jason im Jahr 370 auf dem Zenit seines Ruhms stand, wurde er von sieben Jünglingen der Adelsreiterei von Pherai ermordet.85 Danach brach die Vorherrschaft Thessaliens über Mittelgriechenland, die so stark vom Aufstieg und Erfolg eines Mannes abhängig war, binnen weniger Jahre zusammen.
Das Beispiel Thessaliens offenbart eine der entscheidenden Schwächen der Randgebiete. Ihr Aufstieg hing zu sehr von der Initiative einzelner Adliger ab. Wenn diese ihren Rückhalt unter der Landbevölkerung verloren und ihr teures Heer nicht mehr durch dauernde Plünderungszüge und militärische Erfolge finanzieren konnten, dann brach ihre Macht schnell unter den wieder auflebenden adligen Konkurrenzkämpfen zusammen. Doch so kurzlebig die Herrschaftsbildungen in den Randgebieten auch waren, die militärischen Erfahrungen ihrer Strategen gingen nicht verloren: Sie wurden dort genutzt und weiterentwickelt, wo die Bereitschaft zur Übernahme militärischer Innovationen mit einer stabileren Herrschaftskonstellation korrespondierte, wo sich also die Funktionen des militärischen Reformers, des Feldherrn, Söldnerführers und des Eroberers auf legale Weise und mit Zustimmung des Adels miteinander verbanden. Dies war nur in einem Gebiet Griechenlands der Fall, nämlich in Makedonien. Philipp II., als Usurpator auf den makedonischen Thron gelangt, übernahm sein militärisches Rüstzeug von den Söldnerführern und Tyrannen. Ein entscheidendes Vorbild war Jason von Pherai, dessen Aufstieg sich in unmittelbarer Nachbarschaft Makedoniens abspielte. Philipp II. nutzte seine guten Verbindungen zu den Thessalern und engagierte den Ingenieur Polyeides zur Entwicklung mobiler Torsionsgeschütze.86 Die Thessaler setzten ferner als Einzige neben den Makedonen ihre Reiterei offensiv in einer rautenförmigen Formation ein. Die keilförmige Angriffsformation der Reiterei Philipps bildete die Hälfte der Raute. Dies deutet darauf hin, dass er einen Großteil des thessalischen Reiteradels in die eigene Hetairenreiterei integrierte; wie Jason verfügte auch er über eine 600 Mann starke Reitergarde der hetairoi.87 Schließlich wandte er auch die von Jason entwickelten Trainings- und Exerziermethoden auf die einheimischen Truppen an und schuf damit ein homogenes, stehendes und für griechische Verhältnisse sehr diszipliniertes Heer mit einem ausgeprägten Korpsgeist. Es blieb ganzjährig gefechtsbereit und war wegen seiner hohen Ausbildungsqualität jeder Bürgerarmee überlegen.88
Die Bewaffnung der regulären Fußtruppen mit kleinem Schild und leichtem Brustpanzer orientierte sich dagegen offensichtlich an den Peltasten des Iphikrates.89 Philipp verbesserte deren Bewaffnung mit der Einführung der Sarissa, einer rund 6 Meter langen Lanze, und verknüpfte auf diese Weise die Mobilität der Peltasten mit der Stoßkraft der Hopliten. Wie die Feldherrn der Randgebiete ergänzte Philipp die Sarissenphalanx mit der nach Peltastenart bewaffneten Garde der pezhetairoi. Zusätzlich finanzierte er mit den Erträgen des Pangaiongebirges 3000 Söldner und ließ eine Flotte von Fünfzig- und Dreißigruderern bauen, die sich zum Kaperkrieg eigneten.90 Nach ersten Erfolgen konnte er als Archon Thessaliens sowie im Besitz der Chalkidike und Teile Thrakiens den Kaperkrieg mit den Bewegungen der Landarmee koordinieren und bis zum Bosporos sowie Euböa ausweiten. Jedes Krisengebiet, das Athen erst nach langwierigen Rüstungen anlaufen musste, erreichte Philipp in kürzerer Zeit auf der inneren Linie.
Philipp nutzte somit die neuen Möglichkeiten des Krieges in einem Ausmaß, das weit über die Anpassungsbemühungen der Poleis und die kurzfristigen Anstrengungen der Randstaaten hinausging. Als König des Landes und Führer des makedonischen Heerbanns hatte er ganz andere Möglichkeiten als die Strategen der Bünde und der Poleis, um militärische Innovationen frei von Kontrollen öffentlicher Entscheidungsprozesse oder adliger Konkurrenz einzusetzen. Das ist das Geheimnis des Aufstiegs Makedoniens zum erfolgreichsten Erobererstaat der griechischen Geschichte. Der Krieg hatte einer Herrschaftsform den Weg gebahnt, die in den nächsten Jahrhunderten nicht nur das Schicksal Griechenlands und des östlichen Mittelmeerraumes bestimmen sollte.