Endlich war es soweit, das Haus von Madame de Brézolles aufzusuchen. Der Lakai öffnete so schnell, als hätte er hinter der Tür gewartet, und auch der taprige Monsieur de Vignevieille war gleich zur Stelle. Wie einen Fremden fragte er mich nach Namen und Stand, dann teilte er mir mit, weil die Frau Marquise heute ein wenig unpäßlich sei, erwarte sie mich zum Essen in der ersten Etage. Mein Junker hingegen möge ihm die Ehre erweisen, sein Mahl mit ihm im Erdgeschoß zu teilen. Vollendet höflich wie stets, verbarg Nicolas seine Enttäuschung. Obwohl er ein Ausbund an ehelicher Treue war und gewiß immer sein würde, hätte er lieber in weiblicher Gesellschaft, und sei es mit einer Kammerzofe, gespeist als mit dem verknöcherten Alten.
Noch war Madame de Brézolles nicht erschienen, aber schon in der Sorgfalt und der fröhlichen und beschwingten Art, mit der sie in dem kleinen Kabinett den Tisch hatte decken lassen, war sie mir gegenwärtig. Diese Kunst verstand nur sie.
Der Haushofmeister forderte mich auf, Platz zu nehmen, doch ich wollte nicht. Bewegt warf ich meine Blicke in die Runde auf Möbel und Zierat und sah, wie ein jegliches hier ihre Wahl und Anordnung verriet.
Dann endlich kam sie, und nun gab es nur noch sie, so viel Wärme, Schönheit und Zärtlichkeit hielten zugleich mit ihr Einzug. Mechanisch tauschten wir Grüße und Reverenzen samt den geziemenden Worten, allein unsere Augen sagten einander, wie sehr dieses Wiedersehen nach so langer Trennung uns ergriff.
Ich fand Madame de Brézolles aufgeblüht, üppiger die Brüste, die Taille geschwungener, und auf ihrem schönen Gesicht lag ein neuer Zug von tiefer, inniger Zufriedenheit. Doch waren es dieselben goldbraunen Augen, ob sie lachten oder vor Rührung glänzten, dieselbe fein ziselierte Nase und diese Lippen, über die ich Bände schreiben und doch nicht wiedergeben könnte, welches Glück sie in mir erweckten. Leser, vergib mir |279|diesen unsinnigen Überschwang angesichts meiner Geliebten, dafür sei dir versichert, daß du von mir nicht den leisesten Einwand hören wirst, wenn du deine Erwählte vor mir über die Wolken erhebst.
Diese neue, stille Erfülltheit in dem schönen Gesicht von Madame de Brézolles hätte mich bestimmt ziemlich beunruhigt, wenn ihre Blicke mir nicht gleich eingangs unmißverständlich gesagt hätten, welchen Anteil ich daran hatte.
Was ich bei dieser Mahlzeit aß, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Sicherlich waren die Speisen vom Feinsten, doch weiß ich, daß mich auch jeder noch so spartanische Fraß köstlich gedünkt hätte, nur weil ich bei ihr war. Schweigend verschlang ich sie mit den Augen, und sie erwiderte meine Blicke, ohne daß wir dieses steten Wechselspiels müde wurden, wir konnten uns aneinander nicht sattsehen.
Nun gab es aber, wie gesagt, gewisse dunkle Punkte in meinem Verhältnis zu Madame de Brézolles, die ich erhellt wissen wollte, bevor ich den Mächten Raum gab, die mich zu ihr trieben. Ich brauchte ihr meine Fragen jedoch nicht erst zu stellen, denn sie spürte sie hinter meinem Schweigen und begann von selbst, mir die Rätsel ihres Betragens zu erklären.
»Mein Freund«, sagte sie, »ich habe Euch mancherlei mitzuteilen, ich weiß. Bitte, hört mir geduldig zu, und Ihr werdet sehen, daß es Gründe gibt, mich vielmehr zu beklagen als zu tadeln. Blutjung wurde ich mit Monsieur de Brézolles vermählt, aber zehn Jahre nach der Hochzeit hatte ich, wie Ihr wißt, noch immer kein Kind, und Monsieur de Brézolles scheute sich nicht, diese Unfruchtbarkeit mir zur Last zu legen. Zuerst glaubte ich ihm, dann aber beobachtete ich, daß keine der zahllosen Kammerjungfern, mit denen er es trieb wie die Ratz im Stroh, jemals schwanger wurde, und ich begriff mit dem größten Schmerz, daß er selbst unfruchtbar war und daß ich niemals Mutter werden würde. Wie es weiterging, habe ich Euch erzählt. Monsieur de Brézolles wurde im Kampf auf der Insel Ré am Schenkel verwundet. Seine Wunde wäre bestimmt geheilt, denke ich, hätte er sich der Narretei enthalten, mich seiner Männlichkeit mit dem üblichen Getöse versichern zu wollen. Das Ende kennt Ihr: Die Wunde brach auf, und er verblutete.
»Drei Tage, nachdem er begraben war, drei Tage sage ich, |280|erschient Ihr am Tor von Brézolles wie ein missus dominicus. Der Herr, so fühlte ich, hatte meine Gebete erhört und sandte Euch mir, um mich zur Mutter zu machen. Ich weiß, es mutet Euch ausgefallen an, aber das Wunder bestätigte sich mir bald: Ich hatte mich so schnell, daß Ihr stauntet, Euch hingegeben, und schon war ich schwanger. Um den Skandal zu vermeiden, den außereheliche Beziehungen sonst erregen, dachte ich mir aus, dem Arzt und dem Pfarrer weiszumachen, das Kind sei von Monsieur de Brézolles, so wenige Tage waren es nur zwischen seinem Tod und dem Augenblick, als ich feststellte, daß ich schwanger war. Nun, und diese meine der Scham entsprungene Lüge wurde nicht nur nicht bestraft, sondern tausendfach belohnt.
»Niemand bezweifelte sie. Aus dem einfachen Grund, daß das Haus ja quasi von unten bis oben noch vom Brunstgeschrei meines seligen Gemahls widerhallte.«
»Aber, meine Liebe«, sagte ich mit leisem Vorwurf, »von diesen Dingen habt Ihr mir nie ein Wort gesagt.«
»Es lag an Euch, mein Freund«, sagte Madame de Brézolles mit einem so bezaubernden Lächeln, daß ich sofort geneigt war, ihr zu glauben.
»An mir?«
»Tatsächlich, Lieber. Erinnert Euch bitte: Als ich all Eure – für mich so neuen und so köstlichen – Zärtlichkeiten und Liebkosungen mit Freuden erwiderte, mich aber den Vorsichtsmaßregeln verweigerte, rieft Ihr erschrocken: ›Ja, wollt Ihr denn ein uneheliches Kind?‹ Und gleich habt Ihr mich verdächtigt, ich wolle den Erstbesten heiraten, um die Existenz dieses Kindes zu rechtfertigen. Und als ich Euch fragte, ob Euch das denn etwas ausmachen würde, antwortetet Ihr: ›Selbstverständlich würde es mir etwas ausmachen, wenn ein Hergelaufener mein Kind aufzöge!‹«
»Richtig«, sagte ich, »das waren meine Worte.«
»Ach, mein Freund! Ihr glaubt ja nicht, wie es mich rührte, als Ihr sagtet: ›Mein Kind‹, und wie ich Euch um dieser Worte willen in mein Herz schloß. Denn war es nicht wunderbar? Noch ehe das Kind gemacht war, nahmt Ihr es schon als Eures! Nur heftete sich an diese schöne Erklärung ein für mich bedrohlicher Schatten. Ich fürchtete, Eure neuerwachte väterliche Ader könnte die Pläne stören, die ich zu meinem Schutz |281|gefaßt hatte. Deshalb verheimlichte ich Euch meine Schwangerschaft.«
»Um Vergebung, Liebste, zu dieser Heimlichtuerei gesellte sich aber eine zweite. Als Ihr von Brézolles abreistet, wolltet Ihr mir nicht sagen, was die ›schändliche Klausel‹ in Eurem Ehevertrag beinhalte, dank derer Eure Schwiegereltern Anspruch auf dieses Euer Haus zu Nantes erheben konnten.«
»Ach, mein Freund, wie hätte ich Euch den Inhalt dieser Klausel enthüllen dürfen, ohne bei Euch den Verdacht zu erregen, daß ich mich einzig an Euren Hals geworfen hätte, um schwanger zu werden und dem niederträchtigen Anspruch meiner Schwiegereltern ein Schnippchen zu schlagen?«
»Wäre das so falsch gewesen?«
»Grundfalsch! Als ich mich Euch hingab, kannte ich die schändliche Klausel noch gar nicht, denn, wie üblich, war mein Ehekontrakt von meinem Vater unterzeichnet worden.«
»Nun, meine Liebe, wollt Ihr mir heute eröffnen, was diese Klausel besagt?«
»Sie lautet klipp und klar: Sollte meine Ehe betrüblicherweise kinderlos bleiben, würde dieses Haus zu Nantes, also der Teil, den mein Mann in die Gütergemeinschaft eingebracht hatte, an meine Schwiegereltern zurückfallen, wenn ihr Sohn stürbe.«
»Das ist aber eine ungewöhnliche Klausel! Es wundert mich, daß sie Euren Herrn Vater nicht hellhörig machte. Denn wie kamen Eure Schwiegereltern auf die Idee dieser Unfruchtbarkeit?«
»Aus gutem Grund! Wie ich viel später durch eine Kammerfrau erfuhr, die meine Schwiegereltern entlassen hatten und die durch Zufall in meine Dienste trat: Monsieur de Brézolles hatte von seinem fünfzehnten bis zu seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr – als er mich heiratete –, mit sämtlichen Zofen des elterlichen Schlosses geschlafen, und nie war eine von ihm geschwängert worden. Das konnte meinen Schwiegereltern nicht entgangen sein.«
»Was sind das denn für Menschen! Nicht allein wußten sie im voraus, daß ihr Sohn Euch das Glück versagen würde, Kinder zu haben – sie begingen gleich noch die zweite Schofelei, Euch nach seinem Tod den Teil seines Besitzes rauben zu wollen, |282|den die Ehe Euch rechtmäßig eingebracht hatte. Meine Liebe, was tatet Ihr gegen diese Gefahr?«
»Als ich nach Nantes reiste – wobei mir die Vorsehung half, denn ohne Euren Herrn Vater und seine starke Eskorte hätte ich es nicht können –, da trug ich ein schriftliches Zeugnis unseres Arztes mit, worin er beeidete, daß Monsieur de Brézolles infolge seines letzten Beischlafs mit mir zu Tode gekommen sei und daß ich, wie er an untrüglichen Zeichen festgestellt habe, ein posthumes Kind unterm Herzen trüge. Wieviel die gegnerische Partei auch in Brézolles spionierte und mich zu widerlegen versuchte, mein Gesinde hielt zu mir. Und schlußendlich ist dieses Haus mein und mein auch das Kind, dessen Vater Ihr seid.«
»Meine Liebste«, sagte ich tief bewegt, »habt Dank, daß Ihr meine Ungewißheiten und Zweifel zerstreut habt. Und nun zu dem Kind, das Euch so glücklich macht: Meint Ihr nicht, daß Ihr mir endlich sagen solltet, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist?«
»Ein Junge, und es ist alles an ihm dran!«
Ich lachte, entzückt von diesem mütterlichen Stolz.
»Und wie habt Ihr ihn getauft?«
»Emmanuel.«
»Wißt Ihr, Liebste, daß Emmanuel ein hebräisches Wort ist und ›Gott mit uns‹ bedeutet?«
»Das wußte ich nicht. Für mich ist Emmanuel ein Vorname seines Vaters.«
»Ich bin gerührt. Darf ich meinen Sohn auch sehen?«
»Sicher. Ich will nur erst abräumen lassen.«
Hierauf läutete sie eine kleine silberne Glocke, und es erschienen nacheinander drei Diener in dem Kabinett, die im Handumdrehen reinen Tisch machten und verschwanden. Ich wette, dieses Ballett war vorbereitet, so flink und wohlgeordnet ging es vonstatten.
»Mein Freund«, sagte sie, indem sie sich erhob, »beliebt mir zu folgen.«
Sie trat auf die zweite Tür des Kabinetts zu, öffnete sie, und staunend erblickte ich ein großes Zimmer, das dem Schlafzimmer in Brézolles wie ein Ei dem anderen glich: Teppich, Himmelbett, Gardinen, Möbel, alles war genauso.
»Ja, ob in Nantes oder Brézolles«, erklärte sie, »mein Nest mag ich nicht wechseln.«
|283|Damit faßte sie mich bei der Hand und führte mich zur Wiege mit den Worten: »Hier, Monsieur, ist Euer Sohn.«
Ich muß gestehen, Leser, bis zu diesem Tag hatte ich mir, wie die meisten Männer, nie viel aus kleinen Kindern gemacht und sie eher für unerträgliche und übelriechende Schreihälse gehalten. Aber mit dem eigenen wird natürlich alles anders: Wenn es schreit wie am Spieß, sagt man, es hat gute Lungen, und wenn es seine Windeln vollmacht, es hat eine gute Verdauung. Offen gestanden, das liebliche Knäblein, das er werden würde, sah man dem Säugling noch nicht recht an, er hatte die Augen geschlossen, ein etwas dickliches Gesicht und kaum Haare auf dem Kopf, vor allem war vor Wickeltüchern von seinem Körper nichts zu sehen. Aber schließlich war es mein Sohn, und je länger ich ihn betrachtete, wie er da mit seinen geschlossenen Fäustchen schlief (was für kleine Hände er hatte!), desto tiefer war ich bewegt, desto höher schlug mir das Herz in der Brust.
»Laßt uns gehen«, sagte Madame de Brézolles leise, »wenn er uns spürt, wacht er auf.«
Und plötzlich warf sie sich in meine Arme und bedeckte mein Gesicht über und über mit Küssen, und ihre Lippen waren so emsig, daß ich Mühe hatte, sie mit meinen zu fangen. Seltsam, daß mir in diesem Augenblick einfiel, was Homer in der »Odyssee« so schön sagt, wenn Odysseus nach zwanzigjähriger Abwesenheit zu Penelope zurückkehrt: »Jene bestiegen / Freudig ihr altes Lager, der keuschen Liebe geheiligt.«
***
Es ist wahr, ich wäre Monsieur de La Luthumière, der sich für den König der Meere und den Vizekönig von Cherbourg in einem hielt, schwerlich begegnet, wenn Madame de Brézolles mich am folgenden Tag nicht zugleich mit ihren Gästen zum Mittagsmahl eingeladen hätte. Doch sogar bei Tisch blieb er so distanziert und eisig, daß ich ihn wohl kaum zu einem Gespräch unter vier Augen hätte bewegen können, hätte ich nicht angedeutet, daß der König ihn für seine Heldentat mit einem höheren Adelsrang zu belohnen gedenke.
Bei diesen Worten nämlich spitzte Madame de La Luthumière ihre niedlichen Ohren und blickte ihren Gemahl auf eine |284|Weise an, die mich voll überzeugte, daß derjenige von beiden, der den anderen geentert, gekapert und zum Traualtar geführt hatte, nicht der Korsar des Königs war. Die Dame war übrigens ein wahres Kleinod von einem Weib, ebenmäßig geformt, wenige Reize, die aber in ständiger Bewegung, feurige Augen und ein Mündchen, um alle Männer der Schöpfung zu verknuspern. Von gutem, aber kleinem Adel, war sie durch die Eroberung La Luthumières und seines großen Reichtums, der beileibe nicht nur aus Schiffen bestand, Baronin geworden. Damit war ihr Ehrgeiz jedoch nicht gestillt, sie wollte Marquise werden. Sie hieß mit Vornamen Charlotte, und Madame de Brézolles meinte, ihr Mann habe die zweitausendsechshundert Livres teure Glocke, die er seiner Gemeinde gestiftet hatte, mit gutem Grund »Charlotte« getauft: Die einzige Stimme, auf die er jemals hörte, war seine Frau.
Charlotte also hatte ihn angesehen, eher einschmeichelnd übrigens als herrisch, und das genügte. Nach dem Käse wechselten die Damen einverständige Blicke und zogen sich zurück. La Luthumière holte eine kurze Pfeife hervor, und während er sie stopfte, fragte er, welches Anliegen ich an ihn hätte. Nach seinem Ton hätte man denken können, ein König erweise einem Gesandten die Gnade, ihn zu empfangen.
Dabei war La Luthumière keine unangenehme Erscheinung, mit seinem sonnengebräunten Gesicht, das ebenso kantig war wie sein ganzer Bau, der kraftvollen Nase, einem Kinn wie ein Bug und blitzblauen Augen. Und sobald das Gespräch in Gang kam, war es, als lege er einen Panzer ab, er sprach weder unhöflich noch unfreundlich, doch kamen seine Antworten gebieterisch und rasch.
»Baron«, sagte ich, indem ich mich seinem Ton anzugleichen suchte, »der Auftrag, den der König mir erteilt hat, ist schlicht und einfach der: Er möchte Euch die vier Kriegsschiffe abkaufen, die Ihr den Engländern gekapert habt.«
»Nein«, sagte La Luthumière sofort, »ausgeschlossen, das will ich nicht.«
Weil er jedoch merkte, daß seine Antwort etwas harsch ausgefallen war, bemühte er sich, sie ein wenig nachzubessern.
»Wenn es dem König, dessen untertäniger Diener ich bin (nicht allzu untertänig, dachte ich), an großen Schiffen mangelte, müßte man darüber nachdenken. Aber der Engländer hat |285|nur noch sieben und Seine Majestät vierundzwanzig. Seine Majestät braucht meine Schiffe nicht.«
»Könntet Ihr sie ihm wenigstens vermieten, bis die Belagerung beendet ist?«
»Vermieten! Und mich dem Befehl eines Admirals unterstellen? Nein!«
»Aber, ich bin überzeugt, daß Kommandeur de Valençay Euch jede Wertschätzung erweisen würde, die Euch gebührt.«
»Das ist nicht der Punkt«, sagte Monsieur de La Luthumière in dem gleichen entschiedenen Ton, »königliche Flotte und Korsaren kämpfen nicht auf dieselbe Weise. Die Flotte zieht auf, begibt sich in Schlachtordnung. Die feindliche Flotte ebenso. Dann greifen beide Flotten an. Das hat mit der Korsarenmethode nichts zu tun.«
»Darf ich fragen, Baron, wie diese Methode ist?«
»Der Korsar, Graf, ist ein Jäger. Ob er allein oder im Verbund auf Beutezug geht wie ich. Auf jeden Fall jagt er, und zwar lauert er immer mit List und Taktik dem Tier auf, das der Sturm von der Herde getrennt hat. Ist das Tier zu groß, beißt der Korsar, flieht, kehrt wieder, beißt wieder, kurzum, er setzt seiner Beute so lange zu, bis sie die weiße Fahne hißt oder untergeht. Es ist ein abenteuerliches Gewerbe, Graf, das einzige, das wir verstehen und das wir lieben. Aber uns einer Flotte eingliedern, nur auf Befehl handeln und auf den Feind warten, anstatt ihn zu jagen, das ist nicht unsere Art.«
Ich hatte Monsieur de La Luthumière für gewandter im Handeln als im Sprechen gehalten und staunte, wie gesprächig er auf einmal wurde. Aber wenn ein Mann über das Metier spricht, das er liebt und das ihm Gut und Ehre einbringt, muß er wohl nicht nach Worten suchen.
»Baron«, sagte ich, »ich verstehe Eure Gründe und werde sie dem König übermitteln. Trotzdem, könntet Ihr Eure doppelte Ablehnung, einmal, Eure Schiffe zu verkaufen, das zweitemal, sie zu vermieten, nicht durch irgendein Zugeständnis mildern, um zu beweisen, daß Ihr ein treuer Untertan des Königs seid und ihm gerne dient?«
»In dem letzten Treffen habe ich dem König gut gedient, und nicht nur so getan«, sagte La Luthumière voller Stolz. »Muß ich daran erinnern? Ich habe den Engländern drei Schiffe versenkt und vier gekapert. Und wenn die Engländer wiederkommen, |286|um La Rochelle zu unterstützen – und das werden sie, tapfer und hartnäckig, wie sie sind –, dann denke ich noch mehr zu tun. Ich werde ihnen auf den Schwanz treten, wenn sie kommen, und wieder, wenn sie abziehen. Auf die Weise werde ich dem König ebenso gut dienen wie der Deich, die Palisaden, die Küstenbatterien und sämtliche Admiräle Frankreichs.«
Das Zugeständnis war klein, aber ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß ich es dem Kardinal als eine bindende Verpflichtung La Luthumières darstellen konnte, der zukünftigen englischen Expedition mit all seiner Kraft zu schaden. Im übrigen muß ich sagen, daß La Luthumière mich von seiner Entscheidung völlig überzeugt hatte und daß es gewiß besser war, diese feurige Dogge nicht an die Leine zu legen, sondern ihr freien Lauf und ihre eigene Kampfart zu lassen.
So nahm ich von ihm Abschied. Mein Auftrag war erfüllt, dem Drängen des Kardinals gemäß hätte ich noch am selben Tag nach La Rochelle zurückkehren müssen. Das aber hätte geheißen, Madame de Brézolles nicht mehr allein zu sehen. Deshalb sagte ich, als La Luthumière und ich uns zu den Damen im Salon gesellten, wie beiläufig, ich würde erst am übernächsten Morgen reisen, so konnte meine Liebste mich am folgenden Tag durch ein Billett zum Mittagessen nur mit ihr bestellen, denn die La Luthumières wollten dann einen Freund in Ligné, einige Meilen von Nantes entfernt, besuchen.
Madame de Brézolles schien ebenso »unpäßlich« wie das erste Mal, denn wieder speisten wir in dem kleinen Kabinett neben ihrem Schlafzimmer. Das Essen war gut wie immer, aber wir ehrten es nur zerstreut, anderer Wonnen harrend, obgleich wir wußten, welche Melancholie sie begleiten würde. Am nächsten Morgen mußte ich in aller Frühe aufbrechen, um ins Feldlager von La Rochelle zurückzukehren, und der Teufel mochte wissen, wie lange diese neuerliche Trennung dauern würde, denn sie konnte ja erst enden, wenn La Rochelle sich dem König ergab.
Nachdem unser Verlangen gestillt war, fand ich neue Freuden darin, meine Schöne anzusehen, wie um mir einen Vorrat an Bildern von ihr zu schaffen. Ob wir redeten oder schwiegen, es war ein einziger Zauber, sie in dem Kerzenschein zu betrachten, der durch die Bettvorhänge drang und ihr schönes Gesicht mit so traulichem, sanftem Licht umgab.
|287|»Ich habe ein Gefühl«, sagte sie, an mich geschmiegt, »als wären wir beide ein einziges Wesen und ich wäre nichts mehr, wenn du gehst.«
»Nichts mehr?« sagte ich. »Bleibst du nicht die Mutter meines Sohnes, dessen leisen Atem ich bis hierher höre? Bleibst du nicht meine Liebe, der ich mich mit Herz und Hand ergeben habe?«
»Ist das wirklich wahr?« fragte sie mit einer Stimme, die eine gewisse Unruhe verriet. »Wißt Ihr noch, wie ich Euch vor meiner Abreise von Brézolles sagte, wenn Ihr mich um meine Hand bätet, würde ich sie Euch rundweg abschlagen?«
»Natürlich weiß ich das, Liebste, auch, daß ich Euch nach dem Grund dieser Feindseligkeit fragte und Ihr mir antwortetet, ich liebte Euch noch nicht genug. Meine Freundin, darf ich fragen, ob dieses Genug erreicht ist?«
»Nicht ganz, mein Herr. Dazu müßtet Ihr, wieder in Brézolles, dieser Perrette den Laufpaß geben, die in meiner Abwesenheit Eure Nächte verzaubert.«
Der Schlag saß. Mein Gott, dachte ich, wie töricht von mir zu glauben, die kleine Geschichte würde der Wachsamkeit von Madame de Bazimont entgehen oder sie würde sie ihrer Herrin verschweigen.
»Madame«, sagte ich nach einer Weile, »sie verzauberte meine Nächte nicht, sie erleichterte sie.«
Kaum hatte ich dies ausgesprochen, reute es mich auch schon: Mußte ich Perrette herabwürdigen, um Madame de Brézolles zu beschwichtigen, zumal das Wort »erleichtern« zwar geschickt, aber nicht die ganze Wahrheit war?
»Auch die Erleichterung ist zuviel, Monsieur«, sagte Madame de Brézolles sanft, aber entschieden. »Ich würde nicht die treue Ehefrau eines Edelmannes werden, der mir nicht treu wäre. Deshalb, mein Freund, flehe ich Euch an (und hierbei wurde ihre Stimme ebenso zärtlich wie gebieterisch), auf diese Perrette zu verzichten. Im übrigen werde ich ihr eine kleine Rente aussetzen, sobald sie mein Haus verlassen hat, denn ich will es ihr nicht nachtragen, daß sie Eurer Verführung erlegen ist.«
»Meine Liebe«, sagte ich, »Euer Wille geschehe. Aber wenn er erfüllt ist, seid Ihr dann einverstanden, auch meinen Willen zu erfüllen?«
|288|»Könnt Ihr daran zweifeln, mein Freund?« sagte sie. »Ich würde Euch sogar hundertmal heiraten, und ich werde Euch tausendmal mehr lieben, als jede andere Frau es könnte. Beendet nur erst diesen furchtbaren Krieg, mein Freund, dann mögen Euch Flügel wachsen und Euch zu mir tragen.«
***
Am nächsten Morgen, bei Tagesanbruch, rollte ich in meiner stuckernden Karosse über rauhe Straßen, vornweg die Musketiere Monsieur de Cléracs, hintennach die Schweizer von Hauptmann Hörner. Nicolas neben mir war ganz zappelig vor Erwartung, nach so langen Tagen und Nächten seine schöne junge Gemahlin wiederzusehen, aber ich hielt die Augen geschlossen, damit er mich mit seiner Vorfreude verschone, und versenkte mich in meine Gedanken an Madame de Brézolles, die mich die ganze lange Reise über nicht verließen.
Die Heimlichkeiten, die sie mir zugemutet hatte, waren zu meiner Befriedigung aufgeklärt, meine Vorbehalte, sie ganz zu lieben, waren verschwunden und einer großen Bewunderung für die Geschicklichkeit und Kühnheit gewichen, mit denen sie ihren Casus gedeichselt hatte, so daß sie nun reicher war um ein Kind – nach dem sie sich so sehr gesehnt hatte –, und gleichzeitig, dank dieser günstig gelegenen Geburt, hatte sie ihren Prozeß, ihr Haus zu Nantes als sicheren Besitz und obendrein einen Gemahl gewonnen.
Sicherlich hatte Perrette sich nie in der Hoffnung gewiegt, unsere Liebelei könnte die Belagerung von La Rochelle überdauern, und ich hatte mich wohl gehütet, ihr in dieser Hinsicht Versprechungen zu machen. Und obwohl dieses Verhältnis mit meiner Beziehung zu Madame de Brézolles gar nicht vergleichbar war, konnte ich mich schwer dazu verstehen, daß ein schlichtes fleischliches Band zu verachten sei, vor allem wenn es Güte und herzliche Wärme einschloß. Die Aussicht, mit Perrette brechen zu müssen, hatte nichts Spaßiges für mich. Ich fürchtete mich, ihr weh zu tun, denn in ihrer unbedachten Gutmütigkeit hatte sie sich sehr an mich gebunden, und noch bevor ich ihr das Ende unserer gemeinsamen Nächte zu verkünden hatte, plagte mich das Gewissen, ihr Leid zuzufügen. Denn dieses Leid, daß ich es nur gestehe, teilte ich in gewissem Maße, |289|weil ich wußte, wie unendlich trübselig und quälend es sein würde, gleich einem Mönch in seiner Zelle schlafen zu müssen, ohne an meiner Seite die Wärme eines weiblichen Körpers zu spüren.
Am ersten Tag, nachdem ich ins Feldlager von La Rochelle zurückgekehrt war, nahm ich mit Nicolas den Weg nach Pont de Pierre, um den Kardinal aufzusuchen. Ich fand aber nur Charpentier, der sehr beschäftigt war, die Verpackung ganzer Aktenberge in Kisten zu überwachen. Der Kardinal, so unterrichtete er mich, habe in Pont de Pierre zu sehr unter Regen und Wind gelitten und sei daher umgezogen ins Schloß von La Sauzaie, das ihn, weiter landein gelegen, besser vor diesen Unbilden schütze. Doch als ich mich darauf besorgt nach der Gesundheit Seiner Eminenz erkundigte, lächelte Charpentier von einem Ohr zum anderen.
»Seine Eminenz hat sich um zehn Jahre verjüngt, seit die englische Expedition so kläglich gescheitert ist. Mitunter trällert er ein Liedchen, ohne Worte, und abends lädt er jetzt die Marschälle ein zum Kartenspiel.«
»Was sagt Ihr da?« rief ich. »Der Kardinal spielt Karten?«
»Und wie! Und im Eifer des Spiels passiert es sogar, daß er Verwünschungen ausstößt, wenn auch dezente.«
»Und die Belagerung?«
»Die Rochelaiser sind mittlerweile zu schwach auf den Beinen, um Ausfälle zu machen, und der Kardinal hält es für unnütz, noch Menschenleben in Kämpfen zu riskieren. Er meint, jetzt müsse man nur noch warten: La Rochelle werde dem König in die Hände fallen wie eine reife Frucht.«
»Wird verhandelt?«
»Es wurde versucht, aber ohne viel Erfolg. Der König hatte den Einfall, seinen Herold in prächtigen Kleidern und mit drei Trompetern im Gefolge auszuschicken, damit er vor einem der beiden Tore einen Aufruf an die Stadt verlese. Darin versprach er den Rochelaisern ein Generalpardon, wenn sie sich ›ihrem Herrscher und natürlichen Gebieter‹ ergeben würden. Hingegen drohte er ihnen mit ›allen Härten‹, falls sie in ihrer Rebellion fortführen.«
»Gefiel es denn dem Kardinal«, fragte ich lächelnd, »daß der königliche Herold die Rochelaiser mit ›allen Härten‹ bedrohte?«
|290|»Weiß ich nicht«, sagte Charpentier, der es sehr wohl wußte.
Tatsächlich hatte Bürgermeister Guiton, um den Widerstand der Rochelaiser zu stärken, das Gerücht ausgestreut, wenn die Stadt kapituliere, würden »alle Männer gehängt, die Frauen und Mädchen vergewaltigt und die Häuser geplündert«. Von »allen Härten« sprechen hieß also, Wasser auf seine Mühle zu leiten.
»Und was wurde aus dem schönen Herold in seinem prächtigen Kleid?« fragte ich.
»Auf Befehl des Bürgermeisters drohten ihm die Rochelaiser von den Wällen, ihn zu erschießen, wenn er seine Proklamation verlesen würde. Er saß ab, legte seine Proklamation auf die Erde, saß wieder auf und schwenkte voll Würde kehrtum.«
Ich lachte. Charpentier aber, der fürchtete, schon zuviel gesagt zu haben, verschloß sich wie eine Auster. Doch lehrte mich sein Schweigen, daß es zwischen dem König und seinem Minister wegen dieser majestätischen Proklamation eine Meinungsverschiedenheit gegeben hatte. Mich regte das nicht auf. Ludwig und Richelieu gerieten immer wieder mal in Streit und schmollten einander sogar, ohne daß ihre tiefe Eintracht dadurch beeinträchtigt wurde.
Ich bat Charpentier, bei den Musketieren des Kardinals, die über den Transport der Geheimdokumente wachten, anzufragen, ob sie mir einen der ihren leihen könnten, um mich zum Schloß La Sauzaie zu führen. So wurde mir ein Musketier namens Lameunière zugeteilt, der mir sehr verbindlich diente, aber ohne ein Wort zu sagen.
Im Gegensatz zu den Königlichen Musketieren, die sämtlich von Adel waren, waren es die Musketiere des Kardinals bei weitem nicht alle. Und anstatt Großmäuler und Prahlhänse zu sein wie die königlichen, glänzten sie durch Schweigen und Bescheidenheit. Sosehr sie also von den königlichen verachtet wurden, weil sie nicht durchweg Edelleute waren, nötigten sie diesen doch einen gewissen Respekt einzig auf Grund ihrer Verschwiegenheit ab. Im übrigen wurde von Musketier zu Musketier – ob sie dem König unterstanden oder dem Kardinal – niemals blankgezogen: Ein Duell galt als Kapitalverbrechen und wurde unverzüglich mit dem Tod beider beteiligter Parteien bestraft.
Im Schloß La Sauzaie fand ich den Kardinal so glücklich |291|und vergnügt, wie ich ihn noch nicht erlebt hatte: Daß die Engländer vor der Bucht von La Rochelle aufgeben mußten, hatte den Bau des Deiches gerechtfertigt, für den er von Anfang an erbittert gestritten hatte, gegen die anfänglichen Zweifel des Königs. Sobald allerdings der Deich Gestalt annahm, hatte ihm der König bei dieser gewaltigen Aufgabe die unwandelbarste und tatkräftigste Unterstützung gewährt. Ludwig hatte beim Bau sogar selbst mit Hand angelegt.
»Nun, Orbieu«, sagte der Kardinal mit einer fast übersprudelnden Fröhlichkeit, die ich nicht an ihm kannte, »was bringt Ihr uns aus Nantes?«
Ich berichtete ihm, daß La Luthumière leider nicht bereit war, seine Schiffe zu verkaufen, nicht einmal zu vermieten, daß er sich aber verpflichtet habe, der nächsten englischen Expedition, sowohl wenn sie käme, wie wenn sie abzöge, kräftig auf den Schwanz zu treten. Und auf dieses sein Wort sei durchaus Verlaß, weil es ihn nach einem höheren Adelsrang gelüste, vielmehr weil seine Gemahlin gar zu gern Marquise wäre.
»Ich werde es dem König mitteilen«, sagte Richelieu und lächelte: »Sua cuique voluptas.1 Für mich war es die höchste Genugtuung, wie die Engländer unverrichteterdinge beidrehen mußten: Es war ein Paukenschlag, der die Feinde des Königs betäubt hat, auch die inneren Feinde. Wie hätten sie über unsere Niederlage triumphiert, und wie betrübt sie jetzt unser Sieg! Stellt Euch vor, Orbieu, stellt Euch die Trauer unseres schönen Hofes vor, die satanische Herzogin von Chevreuse, die diabolischen Reifröcke: Ihr Buckingham zum zweitenmal besiegt! Müssen da nicht sogar die Engel lachen?«
Doch wie überrascht von seinem eigenen Überschwang, besann sich Richelieu, setzte sich und fiel wieder in den knappen, entschiedenen Ton, in dem er seine Instruktionen erteilte.
»Monsieur d’Orbieu, ich habe für Euch einen neuen Auftrag: Gestern sind zwei Richter des Rochelaiser Präsidialgerichts aus ihrer Stadt geflohen. Sie erreichten ohne Aufhaltungen unser Fort Beaulieu, stellten sich vor und unterwarfen sich dem König. Im Moment sind sie bei mir. Es sind Männer von einiger Bedeutung. Ich möchte, daß Ihr sie mitnehmt nach Schloß Brézolles, wo Ihr, wie ich höre, ja quasi der Herr im |292|Hause seid … Bietet ihnen, wenn möglich, gute Tafel, gute Unterkunft, behandelt sie aufs beste. Hütet Euch aber, sie zu unvermittelt auszufragen. Beschränkt Euch darauf, den Mitteilungen, die sie Euch unfehlbar machen werden, ein geneigtes Ohr zu leihen. Meinen Zuträgern zufolge brennt es zwischen dem Stadtrat von La Rochelle und dem Präsidialgericht, ich möchte darüber Genaueres wissen.«
Damit entließ mich Richelieu und überließ es mir und seinen Sekretären, den Aufbruch der beiden Richter zu arrangieren, die sich vermutlich sehr erstaunt und geehrt in der Karosse des Kardinals wiederfanden, während Nicolas und ich vorweg trabten, um ihnen den Weg nach Brézolles freizumachen. Im stillen fragte ich mich natürlich, woher der Kardinal wußte, daß ich auf Brézolles »quasi der Herr im Hause« sei. Offenbar spionierte er nicht nur die Feinde des Königs aus, er hatte auch auf die treuesten Untertanen Seiner Majestät ein wachsames Auge für den Fall, daß ihre Ergebenheit einmal ins Wanken käme.
Unterwegs beschloß ich, Nicolas vorauszuschicken, um Madame de Bazimont zu benachrichtigen, daß ich zum Mittagessen zwei Gäste mitbrachte, denen der Kardinal seine Karosse zur Verfügung gestellt hatte in der Hoffnung, sie könnten für einige Zeit im Schloß wohnen, wenigstens bis der König über ihren weiteren Aufenthalt entschieden hätte.
Wer weiß, was Nicolas dem Hauptmann Hörner erzählte, jedenfalls stand bei unserer Ankunft das Gittertor von Brézolles weit offen, und die Schweizer bildeten ein Ehrenspalier, wenn nicht für die Gäste, so zumindest für das Gefährt des Kardinals. An so viele Ehren zum Empfang meiner Gefangenen hatte ich nicht gedacht, doch mochte ich Nicolas deshalb nicht tadeln, denn wenn ich meinen Gästen nützliche Auskünfte abgewinnen wollte, konnte zuviel Liebenswürdigkeit nicht schaden.
Schön geputzt und frisiert, empfing Madame de Bazimont die Gäste auf der Freitreppe und geleitete sie in den kleinen Salon, damit sie es sich bequem machten, während ich die Haushofmeisterin, indem ich sie vertraulich unterhakte, beiseite nahm und fragte, ob es möglich sei, die Herren, dem Wunsch des Kardinals gemäß, für einige Tage bei uns aufzunehmen. Sie zögerte zunächst, und nach einer Flut von Höflichkeiten verlangte sie zu wissen, wer diese Herren seien.
|293|»Es sind ehrwürdige Richter vom Präsidialgericht zu La Rochelle.«
»Was, Hugenotten?« rief sie erschrocken, »Hugenotten in unserem Haus! Aber was wird man in Saint-Jean-des-Sables dazu sagen?«
»Madame«, sagte ich ernst, »wer könnte Euch einen Vorwurf machen, wenn Ihr Seiner Majestät gehorcht? Und wer unter den guten Leuten von Saint-Jean-des-Sables dürfte sich rühmen, ein besserer Katholik zu sein als der Herr Kardinal?«
So beunruhigt sie auch war, hierauf wußte sie nichts zu entgegnen.
Als ich den kleinen Salon betrat, sah ich die beiden Richter mit ihren Bärten und schwarzen Kleidern stocksteif einander gegenübersitzen. Den Wein und die kleinen Leckerbissen, die ich ihnen hatte bringen lassen, hatten sie nicht angerührt, als würden diese papistischen Genüsse ihre hugenottischen Kehlen vergiften. Mein Gott, dachte ich, wie soll ich diesen gestrengen Würdenträgern auch nur ein Wort über die Lage in La Rochelle entlocken?
Um die Unterhaltung zu eröffnen, stellte ich mich mit meiner gewohnten Höflichkeit vor, verschwieg aber, daß ich nicht nur Erster Königlicher Kammerherr und Mitglied des Staatsrates war, sondern auch Ritter vom Heilig-Geist-Orden, weil ich mich entsann, daß die Hugenotten die Heilige Dreifaltigkeit in Zweifel zogen.
»Herr Graf«, sagte der größere und vielleicht auch ältere der beiden mit einer gewissen Feierlichkeit, »mein Name ist Pandin des Martes, ich bin Richter am Präsidialgericht von La Rochelle.«
»Und ich«, sagte sein Gefährte, »heiße Ferrières und bin ebenfalls Richter am Präsidialgericht von La Rochelle, wie mein Freund.«
»Meine Herren«, sagte ich, während ich mir ihre Namen einzuprägen versuchte, »Seine Majestät war sehr gerührt über Eure Unterwerfung, doch möchte der König gern genauer wissen, aus welchem Grunde Ihr Euch der Gefahr aussetztet, die Mauern von La Rochelle zu überwinden und zu ihm zu kommen.«
»Herr Graf«, sagte Pandin des Martes, »wenn Monsieur Ferrières es erlaubt, spreche ich in unser beider Namen, Monsieur |294|Ferrières möge mich korrigieren, falls er meint, daß ich mich irre.«
»Ich bin mir gewiß, mein Freund«, sagte Ferrières, »daß ich das nicht muß, da ich weiß, was Sie sagen werden und welche unserer Ansichten von der Mehrheit des Präsidialgerichts geteilt werden.«
Mit einem Blick auf Monsieur Ferrières erriet ich an seiner Miene, daß ihn zum Einspruch niemand auffordern mußte, Richter widersprechen zu gerne, das ist ihr Metier.
»Mit einem Wort«, sagte Pandin des Martes, »wir haben es niemals gebilligt, wie Monsieur de Soubise den König mitten im Frieden reizte, indem er ihm eine Stadt nahm, floh, sobald der König erschien und sie wieder befreite, und ihm, kaum daß er den Rücken gekehrt hatte, die nächste raubte. Ebensowenig gebilligt haben wir das verräterische Bündnis mit England sowie die bedeutende Hilfe, die La Rochelle den Engländern leistete, als diese die Insel Ré besetzten.«
»Eine bedeutende, aber nicht uneigennützige Hilfe«, sagte Ferrières. »Sie war höchst einträglich für den Rochelaiser Handel, man verkaufte den Engländern auf Ré zu sehr überhöhten Preisen die Lebensmittel, derer sie bedurften und die uns dann bitter mangelten, als die Belagerung begann.«
»Gewißlich«, sagte Pandin des Martes, »lieben und verehren wir das höchstedle Haus Rohan, indes müssen wir feststellen, daß dieser Krieg die Frucht seines Ehrgeizes ist. Es ist eindeutig, daß der Herzog von Rohan und sein Bruder Soubise sich das Land Aunis, die Inseln und das Languedoc zum unabhängigen Herrschaftsbereich machen wollen. Seht nur, wie man sich in der höchstedlen Familie die Rollen aufteilte: Soubise setzte in London Himmel und Hölle in Bewegung, damit König Karl I. La Rochelle abermals zu Hilfe eile. Der Herzog von Rohan durchstreift mit einem kleinen Heer das protestantische Languedoc, um die hugenottischen Städte gegen den König aufzuwiegeln. Und die wackere Herzogin hat sich in La Rochelle niedergelassen, um die Rochelaiser zum Kampf bis ans Ende zu ermutigen, was leider auch heißt, bis ans Ende ihres Lebens.«
»Frau von Rohan ist aber nicht die einzige in La Rochelle«, sagte ich, »die jeden Gedanken an Kapitulation voll Abscheu verwirft.«
|295|»Das ist richtig«, sagte Ferrières, »Ihr könnt Euch aber nicht vorstellen, Herr Graf, wie gering die Zahl dieser Erbitterten in Wahrheit ist. Sie lassen sich sehr schnell aufzählen: Der Bürgermeister Guiton, die zwölf Schöffen, die ihm im Stadtrat eine schmale, aber getreue Mehrheit sichern, und unsere acht Pastoren, die keine unbedeutende Rolle spielen.«
»Wahrhaftig«, sagte ich, »das sind nicht viele!«
»Aber sie haben die unumschränkte Macht«, sagte Pandin des Martes, »die Pastoren über das Geistige, der Bürgermeister und die zwölf Schöffen über das Zeitliche.«
»Und was sagen die Pastoren?«
»Ha, die Pastoren!« sagte Ferrières. »Wißt Ihr nicht, daß sie im Besitz der absoluten Wahrheit sind? Im Namen dieser absoluten Wahrheit behaupten sie, Gott werde ihrer Sache zum Sieg verhelfen, weil es die gerechte Sache ist. Im übrigen sind sie der Meinung, die Toleranz, die das Edikt von Nantes ihnen wie uns allen gewährt, gelte nur für sie. Wie schon in Pau geschehen, wurden mit Beginn der Belagerung die katholischen Priester aus der Stadt vertrieben. Herr Graf, ich bekenne mich selbst zur reformierten Religion, wenn man die Sache aber gerecht beurteilen will, muß man einräumen, daß unsere guten Rochelaiser als erste und guten Gewissens das Edikt von Nantes gebrochen haben, ein Edikt, das uns alle schützt.«
»Ich bezweifle aber«, sagte ich, »daß die Pastoren mit ihren Predigten noch lange Menschen überzeugen und zwingen können, die vor Hunger zugrundegehen, die sich, wie wir hörten, vor dem Rathaus zusammenrotteten und ›Frieden oder Brot!‹ schrien. War es nicht so, meine Herren?«
»So war es«, sagte Pandin des Martes. »Aber was vermögen diese armen abgezehrten Menschen, die sich kaum auf den Beinen halten, gegen Guitons Soldaten, die sie mit gesenkten Piken abdrängen und im Handumdrehen auseinandertreiben?«
»Guitons Soldaten?« fragte ich. »Ist er denn auch Befehlshaber der Truppen?«
»Nach seiner Wahl zum Bürgermeister hat er sich dazu erklärt«, sagte Pandin des Martes, »um nach Gott der einzige Herr an Bord zu sein. Und seit er sich zum Diktator erhoben hat, verletzt er ungestraft die Institutionen der Stadtgemeinde!«
Daß dies eine schwere Anklage gegen Guiton war, begriff ich, weil ich wußte, welch hohe Achtung die Hugenotten ihren |296|selbstgeschaffenen Institutionen erwiesen. Ich konnte der Angelegenheit im Moment aber nicht nachgehen, denn Luc trat zaghaft herein und bat mich mit vor Respekt oder Angst flackernden Augen ums Wort – vor Angst, meine ich, denn er hütete sich wie vor der Pest, auch nur einen Blick auf meine Hugenotten zu werfen.
»Herr Graf«, sagte er mit stockender Stimme, »Madame de Bazimont läßt fragen, ob Ihr mit den Herren zu speisen wünscht?«
»Meine Herren«, sagte ich, indem ich aufstand, »wollen wir zu Tisch gehen?«
Während meine beiden Richter sich mit majestätischer Gemessenheit und ohne ein Wort erhoben, bemerkte ich, daß sie vom Wein nur genippt, die Leckereien aber noch immer nicht angerührt hatten. Doch wie freudig wurde ich überrascht, als ich ihnen voraus das Speisezimmer betrat und den Domherrn Fogacer erblickte! Meine beiden Richter indessen erblaßten angesichts seiner Robe und schienen im Begriff, sich in ihr hugenottisches Schneckenhaus zu verkriechen.
»Meine Herren«, sagte Fogacer mit seinem langsamen, gewundenen Lächeln und indem er die Brauen wölbte, »bitte, erschreckt nicht über mein Gewand. Ich heiße Fogacer und bin in der Tat Domherr, aber ich bin auch Doktor der Medizin, und Seine Majestät schickte mich zu Euch nicht Eurer Seelen wegen, die meiner Fürsorge gewiß nicht bedürfen, wie mir scheint, sondern um mich Eurer leiblichen Hüllen und der Beeinträchtigungen anzunehmen, die Ihr vielleicht infolge der Nöte erleiden mußtet, welche die Belagerung Euch auferlegte.«
Hiermit grüßte er sie. Ein wenig erstaunt immerhin, daß ein »Papist« sich derweise ausdrücke, beruhigten sich meine beiden Richter jedoch und erwiderten, allerdings ohne den Mund aufzutun, den Gruß Fogacers auf das höflichste. Auf unserer Stufe war damit der Frieden zwischen Hugenotten und Papisten hergestellt, und ich bemühte mich, alle ihren Neigungen gemäß am Tisch zu plazieren. So setzte ich die hübsche junge Madame de Clérac zur Rechten von Monsieur Ferrières in der Annahme, daß er trotz seines steifen und würdevollen Wesens dem weiblichen Geschlecht nicht abhold sei. Auf einen Wink von mir, den er mit sichtlicher Bangnis erwartete, setzte sich Nicolas zur anderen Seite seiner strahlenden Gemahlin, die er |297|die ganze Mahlzeit über mit begehrlichen Augen betrachtete. Wahrscheinlich konnte er nach den furchtbaren vierzehn Tagen und Nächten, in denen die Reise nach Nantes ihn seines Glückes beraubt hatte, von ihr noch immer nicht genug bekommen.
Neben Nicolas setzte ich Fogacer, der, auch wenn er seinem Atheismus und seinen schwulen Neigungen auf alle Zeit entsagt hatte, für die Anmut schöner junger Männer platonisch gleichwohl empfänglich blieb. Zwischen Fogacer und mich hieß ich die vor Glück errötende Madame de Bazimont Platz nehmen, und den Ehrenplatz zu meiner Rechten bot ich Monsieur Pandin des Martes als dem älteren der beiden Richter. Hierauf warf ich einen Blick in die Runde und fand, ohne mich mit Gott vergleichen zu wollen, daß mein Werk gelungen war. Ein jeder am Tisch konnte sich seines Nachbarn freuen.
Sobald alle saßen, fragte Fogacer die Richter, ob sie in La Rochelle sehr unter dem Hunger gelitten hätten, weil es sich in dem Fall empfähle, zunächst vorsichtig zu essen.
»Wir haben unter Einschränkungen gelitten«, sagte Pandin des Martes, »aber nicht gehungert, weil wir jeder nur einen Mund versorgen mußten: den eigenen, denn beide hatten wir, bevor die Belagerung begann, Frau und Kinder in unsere Landhäuser im Aunis geschickt, um ihnen die Schrecken des Krieges zu ersparen.«
Wie ich bemerkte, setzten diese Worte Madame de Bazimont in Erstaunen. Weil der Pfarrer von Saint-Jean-des-Sables gesagt hatte, die Hugenotten seien verräterische Rebellen gegen ihren König und Gebieter, vor allem aber geschworene Feinde unseres heiligen Vaters, des Papstes, kurzum, teuflische Geschöpfe, den ewigen Flammen der Hölle geweiht, konnte sie es kaum fassen, daß sie doch Menschen waren und, wie es den Anschein hatte, sogar gute Ehemänner und Väter.
»Meine Herren«, sagte sie, womit sie zum erstenmal das Wort an die beiden Hugenotten zu richten wagte, »dann müßt Ihr doch sehr ungeduldig sein, Eure Familien aufzusuchen.«
»Dessen dürft Ihr gewiß sein!« sagte Ferrières, »und zumal der Weg vom königlichen Lager bis zu unseren Landhäusern nicht einmal weit ist, denkt man den ganzen Tag nur daran. Aber die Entscheidung liegt in den Händen Seiner Majestät. Wir mögen die Rebellion der Unseren gegen unseren Herrn |298|und König noch so mißbilligt haben, allein auf Grund der Tatsache, daß wir während der Belagerung in La Rochelle geblieben sind, haben wir gewissermaßen an dem Bürgerkrieg teilgenommen.«
Dieser Skrupel, der nur einem sehr strengen Gewissen entspringen konnte, rührte mich außerordentlich.
»Meine Herren«, sagte ich, meiner Aufwallung folgend, »ich wünsche von ganzem Herzen, daß der König Euch vergebe und daß Ihr Eure Familien bald wiedersehen könnt.«
Ein Murmeln warmherziger Zustimmung lief um den Tisch, und ich sah, wie es unsere Richter bewegte, obwohl sie schwiegen.
Warum, fragte ich mich später oft, mag diese Tischrunde in meiner Erinnerung eine so glückliche Spur hinterlassen haben, daß ich noch heute nicht daran denken kann, ohne daß Freude mein Herz erfüllt? Ich kann es mir nur so erklären, daß in allen, die damals um unseren Tisch auf Brézolles versammelt waren, viel Liebe war und viel guter Wille.
***
Nachdem meine Gäste am nächsten Morgen gefrühstückt hatten, bat ich sie zu mir in den kleinen Salon und nahm mit ihrer Zustimmung das Gespräch an dem Punkt wieder auf, bei dem es gestern verblieben war und der mir von großer Bedeutung erschien: die Verletzung der Institutionen von La Rochelle durch den Bürgermeister, Jean Guiton.
»Herr Graf«, sagte Pandin des Martes, »um den Konflikt zwischen dem Bürgermeister und dem Präsidialgericht zu verstehen, müßt Ihr Euch ins Gedächtnis rufen, daß in den französischen Städten, die ein Schwurgericht haben, das Präsidialgericht über die leichteren Delikte urteilt und Strafen wie Auspeitschen, Pranger oder Galeere für eine begrenzte Zeit verhängt. Die eigentlichen Verbrechen, welche die Todesstrafe oder lebenslängliche Galeere nach sich ziehen, unterliegen dem Schwurgericht. In Städten jedoch wie La Rochelle, wo es kein Schwurgericht gibt, urteilt und straft das Präsidialgericht sowohl in Delikt- wie in Verbrechensfällen. So hatten wir vor nicht langem denn folgenden Mordfall: Ein Edelmann aus der Saintonge war bei einem völlig nichtigen Streit von einem Rochelaiser |299|Soldaten erschlagen worden. Unser Kriminalassessor, Raphael Colin, machte sich mit den Tatsachen vertraut, setzte den Soldaten fest und begann, ihn zu verhören. Kaum aber hatte er damit begonnen, erhielt er ein Schreiben vom Bürgermeister, der ihn des Falles gebieterisch entsetzte unter dem Vorwand, da das Verbrechen von einem Soldaten begangen wurde, unterliege die Affäre dem Kriegsrat, welchem er als Heerführer vorsteht.«
»Gehörte denn auch das Opfer der Armee an?« fragte ich.
»Eben nicht«, sagte Ferrières. »Ergo, gehörte der Fall vors Präsidialgericht, welches einstimmig entschied, daß Raphael Colin die Entsetzung durch den Bürgermeister verwerfen solle. Was er auch tat.«
»Und wie reagierte Guiton?«
»Höchst übel. Er gebrauchte Gewalt gegen uns. Er schickte an die zehn Männer, welche unseren Kerker erbrachen, sich des Soldaten bemächtigten und ihn in den Kerker des Stadtrats verbrachten, wo er auf der Stelle gerichtet wurde.«
»Änderte das irgend etwas am Schicksal des armen Teufels?« fragte ich.
»Nichts«, sagte Pandin des Martes. »Das Verbrechen war unentschuldbar. Der Kriegsrat verdammte ihn zum Galgen. Unser Präsidialgericht hätte nichts anderes getan.«
Ich kam nicht umhin, mich im stillen zu fragen, was die ganze Aufregung sollte, wenn das Ergebnis hier wie dort das gleiche war. Aus den ernsten und düsteren Gesichtern meiner Richter las ich jedoch eine solche Entrüstung, einen solchen Groll, daß mir klar wurde, wie schwer die Beleidigung war: Die ihnen heiligen Institutionen waren verletzt worden, zum ersten durch die Entsetzung und dann durch die Hinrichtung.
»Was tatet Ihr darauf?« fragte ich.
»Wir machten Guiton und seinen Anhängern insgeheim den Prozeß und verurteilten sie, mit dem Strick um den Hals und barfuß im Gerichtssaal öffentliche Abbitte zu leisten. Sie sollten Gott, den König und die Gerichtsbarkeit um Verzeihung bitten und hierauf für drei Jahre aus La Rochelle verbannt werden.«
Ein Glück, dachte ich, daß die Richter sich noch herbeigelassen hatten, die Gerichtsbarkeit nach Gott und dem König an die dritte Stelle zu setzen.
|300|»Aber das Urteil konnte doch nicht ausgeführt werden«, sagte ich, »da Guiton die Waffenhoheit innehat.«
»Selbstverständlich«, sagte Pandin des Martes, »war unser Urteil nicht durchführbar, es muß geheim und schwebend bleiben, bis der König La Rochelle befreit.«
Meine Güte, dachte ich, dann gibt es ja wenigstens ein paar Rochelaiser, die nicht vor Gram und Zorn vergehen werden, wenn der König ihre Mauern betritt!
»Meine Herren«, sagte ich, »was geschah aber, das Euch zur Flucht veranlaßte?«
»Guiton war empört, daß Raphael Colin es gewagt hatte, seine Macht zu bestreiten, ließ ihn unverzüglich wegen Konspiration festnehmen und setzte ihn gefangen. Der Kriminalassessor des Präsidialgerichts im Kerker! Stellt Euch die Entrüstung des Präsidialgerichts vor, aber auch seine furchtbare Sorge. Denn wenn Guitons Schöffen anfingen, Colins Papiere zu durchwühlen, fänden sie mit Sicherheit das schmähliche geheime Urteil, welches das Präsidialgericht über den Bürgermeister und seine Gefolgschaft verhängt hatte … Am selben Tag versuchten Monsieur Ferrières und ich, die Rochelaiser Mauern zu überwinden, und es ist uns, Gott sei Dank, geglückt.«
Nun hatte ich reiche Ernte an Auskünften über die inneren Kämpfe in La Rochelle gemacht, und ich muß sagen, ich war baff. Was sollte man zu der Anmaßung dieses Bürgermeisters sagen, der dem Präsidialgericht willkürlich einen Fall entzog, nur damit er den Ruhm einstreichen konnte, einen Galgenstrick zu verurteilen und zu hängen? Und was zu der Einfalt dieser Richter, die besagten Bürgermeister zu drei Jahren Verbannung verurteilten, obwohl er in ihrer Stadt alle Macht in Händen hielt? Gütiger Gott, dachte ich, was sind die Menschen doch närrisch, kindisch und kleinlich, und das noch in den Fängen des gräßlichsten Todes! Allerdings, um noch Lust an solchen Spielchen zu haben, dürften weder das Präsidialgericht noch der Stadtrat einen Hunger leiden wie das Volk, das auf den Straßen »Frieden oder Brot!« schrie und wankend zurückwich vor den Piken der Soldaten.
Nach einem Blick auf meine Taschenuhr nahm ich Abschied von meinen Gästen, versicherte sie, ich würde mein Bestes tun, damit der König ihnen Vergebung gewährte und sie bald zu ihren Familien im Aunis entließe. Dann nahm ich mit Nicolas |301|den Weg nach Schloß La Sauzaie. Als ich von Charpentier aber erfuhr, daß Richelieu in Surgères beim König sei, spornte ich meine Accla, auch diese lange und beschwerliche Strecke brav zurückzulegen.
Welch ein Jammer, dachte ich, daß unsere schönen Pferde ein so kurzes Leben haben und selten älter werden als zwanzig Jahre, so daß ein Reitersmann in seinem Leben zwei oder drei treue Gefährten zu betrauern hat, obgleich sein eigenes doch so lange auch nicht währt! Ich entsinne mich, wie ich meinen Großvater Siorac einmal treuherzig sagen hörte, wenn der Herr ihn in sein Paradies aufnähme, so wollte er dort lieber einige seiner schönen Füchse wiedersehen als so manche Menschen, die er beim Namen nennen könnte.
Der König wie der Kardinal waren so begierig zu erfahren, was innerhalb der Rochelaiser Mauern geschah, daß ich vorgelassen wurde, kaum daß ich dem Türhüter meinen Namen genannt hatte. Ich fand, der König sah gut aus und hatte gute Farbe, denn es war Sommer, und er jagte viel in Surgères, die Jagd war das Brot und die Milch seines Lebens. Dafür wirkte der Kardinal wieder hohlwangig und angespannt, was mich nicht wunderte bei seiner riesigen täglichen Arbeit.
Ich lieferte dem König und Richelieu einen genauen Bericht meiner Gespräche mit den beiden Richtern, ohne etwas auszulassen, ohne etwas hinzuzufügen, nicht einmal einen günstigen Kommentar über die Personen. Aber dieser Kommentar war ja auch überflüssig, er ergab sich aus meinem Bericht.
»Ich danke Euch, Siorac«, sagte Ludwig, »welchen Auftrag man Euch auch gibt, Ihr erfüllt ihn immer lobenswert. Was meint Ihr, Herr Kardinal?«
»Monsieur d’Orbieu bestätigt im allgemeinen und in gewissen Punkten vollständig, was ich durch meine Zuträger aus La Rochelle höre. Es ist unverkennbar, Sire, daß Guiton nach und nach eine absolute Macht errungen hat. Er hat die militärische Gewalt an sich gerissen und befehligt als einziger in der Stadt die Truppen. Er hat dem Präsidialgericht die richterliche Gewalt entzogen und einem Kriegsrat übertragen, der aus seinen Getreuen besteht und dessen Vorsitz er führt. Er hat den ehemaligen Bürgermeister, Jean Godefroy, ausgeschaltet, einen hochgeachteten Mann, dem, nach ihm, die erste Stimme im Rat zustand.
|302|»Guiton ist noch weitergegangen: Er hat eine Sonderkommission gegründet, die befugt ist, jeden zu verfolgen und zu verurteilen, der über Stadtrat oder Bürgermeister übel redet. Im Wissen um die Tyrannei, die er ausübt, und in der Furcht, ermordet zu werden, hat er sich eine Prätorianergarde von Hellebardieren geschaffen, die ihn umgibt und schützt, wo er geht und steht. Ich würde sagen, alles in allem beruht diese tyrannische Macht auf acht Pastoren und den zwölf Schöffen, die ihm im Stadtrat die Mehrheit sichern. Noch nie hat eine so kleine Anzahl von Personen, die höchstwahrscheinlich gut zu essen hat, so unnütz eine ganze Stadt dem Hungertod überantwortet.«
»Herr Kardinal«, sagte Ludwig, »meint Ihr, daß die Bevölkerung von La Rochelle unter diesen furchtbaren Bedingungen noch lange durchhalten kann?«
»Sire, sie wird gezwungenermaßen durchhalten, solange die Handvoll Personen, die sie unterjocht, die Hoffnung nährt, daß die neue englische Expedition, die Buckingham und König Karl ihnen versprochen haben, endlich kommt und ihre Stadt erlöst.«