In den folgenden Tagen und Nächten zerbrach ich mir unentwegt den Kopf darüber, wie dieser Erkundungsgang bei schwarzer Nacht durch das sumpfige Gelände vonstatten gehen sollte. Eine Laterne konnte ich schwerlich zu Hilfe nehmen, der Lichtschein hätte mich sofort zur Zielscheibe des hugenottischen Musketenfeuers gemacht.
Der Abstand zwischen dem vordersten königlichen Graben und den Mauern von La Rochelle betrug nicht mehr als hundertfünfzig Klafter, den legte man am hellen Tag in wenigen Minuten zurück. Da es sich aber um unregelmäßig verlaufende Pfade durch die versumpften einstigen Salzfelder handelte, würde es viel mehr Zeit, Vorsicht und ein besonderes Gespür erfordern, den richtigen Pfad und die richtige Richtung nicht zu verlieren. Natürlich wäre ein Kompaß sehr nützlich, um die Mauern anzupeilen und um nach getanem Werk zu unseren Gräben zurückzufinden. Doch würden unsere Wege zu vielfach gebrochen sein, als daß man den Kompaß zu Rate ziehen könnte, außerdem müßte man dazu Feuer schlagen, und selbst wenn dies im Schutz einer Mantelbahn und nur für einen Augenblick erfolgte, könnte der Schein den Verdacht der Rochelaiser Späher erregen. Es wäre das Ende der Mission. Entweder würde der Feind das Gelände aufs Geratewohl mit Musketenfeuer bestreichen oder einen Ausfall machen, um uns gefangenzunehmen.
Bartolocci hatte geprahlt, er erkenne die Pfade auch in tiefer Nacht und könne uns sicher zu den gegnerischen Mauern führen. Ich würde ihm also nur nachfolgen müssen, doch wie, wenn ich ihn nicht sah? Konnte er mich nicht mitten in diesem Labyrinth im Stich lassen und später behaupten, ich hätte mich verirrt? Wie sollte ich diesem Halunken vertrauen, der sich so leicht bereit erklärt hatte, unsere Sprengmeister zum Maubec-Tor zu führen, dann aber so seltsam vor einem einfachen Erkundungsgang zurückscheute?
Je länger ich die Schwierigkeiten des Unternehmens überdachte, |227|desto gewisser wurde ich mir, daß die eigentliche Gefahr mir weniger von den Hugenotten als von Bartolocci drohte. Daher beschloß ich, vor unserem Aufbruch in die Sümpfe hinsichtlich des Kerls alle Vorsichtsmaßregeln zu treffen, die mir geboten erschienen.
Nach dem Beschluß, mich gründlich mit Hörner zu beraten und auf entsprechende Mittel zu sinnen, wurde mir wohler zumute, und von nun an harrte ich nur mehr voll Ungeduld des rechten Zeitpunkts. Denn wir mußten für unsere Expedition den Neumond abwarten, wenn der Mond nämlich so neu ist, daß man ihn gar nicht sieht. Und wenn es sich dann noch trifft, daß die Sterne gleichzeitig von einer dichten Wolkendecke verhüllt werden, sieht man kaum mehr die Hand vor Augen. Nicolas hätte mich bei dieser Mission furchtbar gerne begleitet, weil ich aber für seine Andeutungen in der Richtung taub blieb, fragte er mich rundheraus.
»Nicolas«, sagte ich, »du begleitest mich zu Pferde bis zu Bartoloccis Hütte, und dort wachst du bei unseren Tieren, bis ich zurückkomme.«
»Herr Graf, unsere Tiere könnte doch auch einer von den Schweizern bewachen.«
»Habe ich recht gehört?« sagte ich streng. »Wenn du noch mein Junker sein willst, wie kannst du deine Aufgaben dann einem anderen zuschieben wollen?«
»Ich bin Euer Junker, Herr Graf, und Euren Befehlen gehorsam.«
»Schön, die kennst du, und sie sind unwiderruflich.«
Nicolas wurde über und über rot und sah so beschämt aus, daß ich einlenkte.
»Höre«, fuhr ich fort, »Bartolocci und ich müssen in tiefster Finsternis hintereinander gehen, er vornweg, weil er den Weg kennt, und ich hinterher, weil ich ihn nicht kenne. Was brächte es, wenn du mir folgtest, da du ihn auch nicht kennst? Zwei Unwissen addiert, ergeben kein Wissen.«
»Aber angenommen, Herr Graf, der Kerl sticht Euch einfach nieder und verschwindet?«
»Und was könntest du dagegen ausrichten? Ihm blindlings nachlaufen? In den Sumpf fallen und ertrinken? Davon hätte ich aber was!«
»Herr Graf, Ihr geht doch nicht unbewaffnet?«
|228|»Keine Bange, Nicolas. Ein Kettenhemd unterm Wams. In den Taschen zwei geladene Pistolen und einen Dolch im Gürtel. Außerdem wirst du mir einen Hanfstrick beschaffen, einen guten Klafter lang, wozu, wirst du noch erfahren.«
Armer Junge, dachte ich, wie gerne wäre er durch dieses Abenteuer wenigstens eine Zeitlang seinen Tantalusqualen entronnen: Seit Mademoiselle de Foliange in unseren Mauern weilte, hatte er immer diese liebliche Frucht vor Augen, doch kosten konnte er sie nicht.
So sind die Menschen, dachte ich, ein jeder hängt seinen eigenen Träumen, Plänen oder Sorgen nach! Fiebrig wartete Nicolas auf die Rückkehr des Königs, damit seine Hochzeit ihn erlöse. Die Belagerung scherte ihn so wenig wie der Deich von La Rochelle. Und ich, ich zählte die Tage und Nächte, bis der Neumond endlich das meiner Mission günstige Dunkel brächte.
Doch nichts in unserem Erdenleben ist sicher als der Tod: Mein Warten wurde unversehens abgekürzt. Als ich am nächsten Morgen den Fuß vor die Tür setzte, herrschte ein so dichter und düsterer Nebel, daß ich am Fuß der Freitreppe Hörner, Nicolas und unsere gesattelten Pferde nur wie übergroße, verschwommene Schatten gewahrte.
»Herr Graf«, sagte Hörner mit einer Stimme, die sich seltsam gedämpft und fern anhörte, »wenn Ihr jetzt nach Pont de Pierre zum Herrn Kardinal reitet, gebt gut acht auf den Wegen: Man sieht Mensch oder Tier erst, wenn man draufstößt.«
Und so war es. Zum Glück bewegten sich Gefährte, Pferde und Soldaten aus Furcht vor Karambolagen mit der Geschwindigkeit von Schnecken. Und immer wieder erschien alles Nahende ebenso schattenhaft wie riesengroß. Es war auch viel weniger Lärm als sonst, so sehr erstickte die wattige Umhüllung jedes Geräusch.
In Pont de Pierre fand ich nur Charpentier vor. Der Kardinal, sagte er, sei trotz des Wetters zum Deich geeilt, weil er fürchte, man könnte aufhören zu arbeiten, wenn er sich nicht zeige. Er habe mir aber Instruktionen hinterlassen. Wenn der dichte Nebel bis zum Abend anhalte, solle ich, ohne auf den Neumond zu warten, die Geländeerkundung mit Bartolocci unternehmen. Dieser erwarte mich gegen neun Uhr abends in seiner Hütte. Monsieur de Clérac werde ebenfalls dort sein und uns bis zum vordersten Graben am Maubec-Tor begleiten, damit der dortige |229|Kommandeur unseren Aufbruch wie unsere Rückkehr nicht behindere.
Wieder in Brézolles, rief ich Hörner in mein Zimmer, um ihn in meinen Auftrag einzuweihen und zu hören, was er mir dazu riete. Ich hatte volles Vertrauen zu ihm, denn angelegentlich des Hinterhalts von Fleury en Bière hatte er zu meinem Schutz so besonnene Maßnahmen getroffen, daß man mit vollem Recht behaupten konnte, Hörner »kenne den Krieg aus dem Effeff«, wie Henri Quatre zu sagen pflegte.
»Erlauben Sie mir, Herr Graf, Ihnen einen Rat zu geben«, sagte er und erbat sich in seiner steifen und gewissenhaften Höflichkeit ebendas, was ich von ihm verlangte. Doch es blieb nicht bei einem Rat.
Zum ersten, sagte er, solle ich dunkle Kleider anlegen, am besten schwarze, nichts an mir dürfe leuchten oder blinken. Sodann solle ich Stiefel ohne Stulpen wählen, denn wenn ich den Pfad nur einmal verfehlte, wären die weiten Stulpen im Nu voll Wasser und Schlamm. Er riet mir zu meinen hohen Reitstiefeln, die zum Fußmarsch zwar weniger geeignet waren, aber um die Knie dicht anlagen. Weiterhin habe er dem Herrn Chevalier de Clérac (so nannte er Nicolas) bereits einen zwei Klafter langen Strick gegeben, und er vermute, ich wolle mich damit an den vor mir im Dunkeln gehenden Salzarbeiter anseilen, um ihn nicht zu verlieren oder vielmehr um ihm nicht verlorenzugehen.
»Gut, Herr Hörner«, sagte ich, »was können Sie mir sonst noch empfehlen?«
»Herr Graf«, sagte er nach kurzem Nachdenken, »wenn dieser Salzarbeiter ein so undurchsichtiger Mensch ist, wie Sie sagten, sollten Sie ihn zur Vorsicht gleich bei Betreten der Hütte von Eurem Junker von Kopf bis Fuß durchsuchen lassen. Dann sind Sie sicher, daß er nicht etwa ein Messer bei sich trägt, mit dem er Sie im Finsteren verletzen könnte.«
»Vielen Dank, Herr Hörner. Das wäre alles, nicht wahr?«
»Herr Graf«, sagte er, »darf ich eine andere Frage stellen?«
»Bitte.«
»Die Hütte des Salzarbeiters hat doch sicher keinen Pferdestall?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Das heißt, daß der Herr Chevalier mit den Pferden im |230|Freien auf Sie warten muß. Das ist sehr gefährlich. Wie ich höre, gibt es trotz der guten Disziplin im Feldlager bei Nacht hin und wieder Pferdediebstähle und Gewalttaten.«
»So ist es«, sagte ich, im stillen schmunzelnd, weil ich ahnte, worauf Hörner hinauswollte.
»Meine Aufgabe hier, Herr Graf«, fuhr er bedächtig fort, »ist, Sorge zu tragen für die Sicherheit Ihrer Person, Ihrer Nächsten und Ihres Eigentums.«
»Und deshalb wollen Sie heute über Nicolas wachen?«
»Auch über Ihre Pferde, Herr Graf.«
»Und wie?«
»Ich und drei meiner Männer werden genügen.«
»Gut, Herr Hörner. Dann brechen wir heute abend gemeinsam um Schlag acht Uhr auf.«
***
Kurz vor acht Uhr stellte sich auf Brézolles der Hauptmann de Clérac ein, ihm folgte auf seinem Maultier der Pater Joseph, um uns zu Bartoloccis Hütte zu führen. Somit stieg die Zahl der Reiter auf acht, denen Madame de Bazimont, ganz aufgeregt über so viele stattliche Männer, einen Abschiedstrunk kredenzte. Den nahmen auch alle dankbar an bis auf Pater Joseph, der sich Wasser ausbat. Weil aber das Wasser des Schlosses einer klaren, wohlschmeckenden Quelle entsprang, trank er es mit so sichtlichem Behagen, daß ich mich fragte, ob er nicht doch der Sünde des Genusses frönte.
In dichtester Dunkelheit machten wir uns auf. Daß Pater Joseph seine Wegmarken trotzdem unfehlbar erkannte, grenzte an ein Wunder. Als wir zu fünft, Monsieur de Clérac, Hörner, Nicolas, Pater Joseph und ich, Bartoloccis stinkende, baufällige Hütte betraten, wirkte dieser sonderbar verdruckst, und er sah sehr erschrocken aus. Sein Schrecken wuchs, als er in meinen Händen den Strick erblickte: Er glaubte, man wolle ihn hängen, doch der mitleidige Pater beruhigte ihn, indem er ihm den Zweck des Strickes erklärte. Trotzdem, setzte er hinzu, müsse man ihn nach Waffen durchsuchen.
»Ich, eine Waffe!« schrie Bartolocci auf. »Ich habe keine Waffe, das schwöre ich beim heiligen Namen Gottes!«
|231|»Schwöre nicht!« sagte der Pater streng. »Wer bei Gott schwört, begeht eine Todsünde.«
»Was ist denn das, Bartolocci?« sagte ich, »du sprichst auf einmal gutes Französisch? Bei dem Herrn Kardinal hast du uns mit deinem italienischen Kauderwelsch aufgewartet.«
»Herr Graf, wenn man mit einem hohen Herrn spricht, ist es immer ratsam, sich dümmer zu stellen, als man ist. Und ich dachte mir, da der Herr Kardinal auch italienisch spricht, freut es ihn, es aus meinem Mund zu hören.«
»Und woher kannst du so gut Französisch?«
»Ich war in meinen besseren Tagen Jesuitenschüler, Herr Graf.«
»Jesuitenschüler!« sagte Monsieur de Clérac. »Und dann Salzarbeiter und Schmuggler! Da muß man sich doch ein paar Fragen stellen.«
»Ach, das ist eine lange Geschichte«, sagte Bartolocci und senkte mit einer reuigen Miene den Kopf, daß ich mit den Zähnen knirschte, so scheinheilig mutete sie mich an.
»Nicolas«, sagte ich, »frischauf, durchsuche ihn!«
Verlegen trat der Junge auf Bartolocci zu und begann ihm voller Scheu Brust und Rücken, Arme und Beine bis zu den Knien abzutasten, dann erklärte er, der Mann habe tatsächlich keine Waffe bei sich. Ich runzelte die Stirn, und ärgerlich über soviel Selbstgewißheit, fragte ich Hörner, wie er die Durchsuchung beurteile, die Nicolas da vorgenommen hatte.
»Sehr schlecht«, sagte Hörner.
Der arme Nicolas errötete bis über beide Ohren, aber ich war nicht zur Nachsicht geneigt.
»Nicolas«, sagte ich, »hast du Bartolocci wirklich von Kopf bis Fuß durchsucht?«
»Ich denke ja, Herr Graf«, sagte Nicolas.
»Oh, nein! Du hast ihn durchsucht, wie die Wache des Louvre im Jahr 1610 Ravaillac durchsucht hat: Am nächsten Tag erstach er Henri Quatre!«
»Was habe ich denn vergessen?« fragte Nicolas mit zitternder Stimme.
»Die Waden.«
Hätte er gekonnt, mein Nicolas wäre in die Erde versunken. Er beugte ein Knie zu Boden vor Bartolocci, der ein wenig blaß geworden war, und machte sich an den hohen, schmutzigen |232|Stiefeln des Salzarbeiters zu schaffen, deren Leder aber so dick war, daß Nicolas nichts ertasten konnte und hilfesuchend zuerst mich anblickte, dann Hörner, der seinen Blick ebenso ungerührt erwiderte, dann seinen großen Bruder.
»Junge, denk nach!« sagte der Hauptmann rauh. »Was tust du, wenn dich in deinem Stiefel etwas drückt?«
»Ich ziehe ihn aus und taste das Innere ab.«
»Also, worauf wartest du?«
Schneller, als er begriffen hatte, ging Nicolas an die Ausführung. Er zog Bartolocci die Stiefel nacheinander so schwungvoll von den Füßen, daß der Salzarbeiter rücklings auf seinen Strohsack fiel, und hielt sie in die Höhe.
»Puh!« rief er, »wie die stinken!«
Trotzdem tauchte er mit der Hand tapfer in den einen wie in den anderen, und im linken – ein Beweis, daß Bartolocci Linkshänder war – entdeckte er im Schaft ein Futteral, aus dem ein langes, sehr spitzes und sehr gut geschärftes Messer zum Vorschein kam.
»Bartolocci, du hast gelogen«, sagte ich. »Du besitzt eine Waffe und hast sie versteckt.«
»Herr Graf«, sagte Bartolocci, bleich, aber nicht aus der Fassung gebracht, »das ist keine Waffe. Das ist ein Messer zum Austernöffnen.«
»Du machst dich wohl lustig! Ein Austernmesser ist niemals so lang und schmal. Was meinen Sie, Hörner?«
»Damit schlitzt man Bäuche auf«, sagte Hörner.
»Herr Graf«, sagte Bartolocci, »alle Salzarbeiter tragen so ein Messer bei sich, ohne das hätte man in der Zunft nicht lange zu leben.«
»Aber mit dem Ding wird man auch nicht alt«, sagte ich. »Bartolocci, ich muß dich für die Zeit unserer Expedition deiner Waffe berauben.«
Damit faßte ich das Messer bei der Spitze und warf es über meine Schulter, so daß es wippend in einem Deckenbalken steckenblieb. Bartolocci schaute beeindruckt, wie ich es mir erwartet hatte, er wäre wohl nie auf die Idee gekommen, daß ein Edelmann sich aufs Messerwerfen verstand, eine Fähigkeit, die ich in jungen Jahren vom Chevalier de La Surie erlernt hatte.
Hörner, seine Schweizer und Nicolas blieben bei den Pferden zurück, und ich folgte so gut wie blind dem Hauptmann de |233|Clérac durch das Gewirr der königlichen Gräben, in denen er sich auskannte wie kein zweiter. Bartolocci, den Strick schon um den Bauch geknüpft, dessen Ende ich fest in der Hand hielt, stapfte mir zur rechten. Sonderbar, während ich in dieser Dunkelheit einen Fuß vor den anderen setzte, verfiel ich in sehnsüchtige Gedanken an Madame de Brézolles, die mich sehr schmerzten. Ganze sieben Monate waren nun schon vergangen, seit sie nach Nantes gereist war, und was hätte ich nicht darum gegeben, sie wiederzusehen!
Auf einmal verwunderte es mich, daß mich zu Beginn eines so tückischen Abenteuers ausgerechnet solche Gedanken bewegten. Obwohl sie mich anfangs melancholisch gestimmt hatten, erfüllten sie mich aber schließlich mit Zuversicht. Denn einem kuriosen Aberglauben anhängend, wie er Liebenden eigen ist, sagte ich mir, daß, wenn ich diese Prüfung bestünde, der Himmel mich belohnen und mir meine Liebste wiederbringen würde.
Das Geheimnis unserer Expedition war so gut gewahrt worden, daß nur der Kommandeur des vordersten Grabens, den wir endlich erreichten, es kannte. Er raunte mir die Parole ins Ohr, die ich bei meiner Rückkehr auf Anruf des Wachtpostens nennen sollte, um vor einer Schießerei geschützt zu sein: Es war der Vorname der Königin.
Nicht ohne ein gewisses Zwicken im Herzen verließ ich Hauptmann de Clérac und den Graben und tappte meinem zwielichtigen Gefährten Bartolocci nach, mit dem ich durch den Strick verbunden war. Sobald wir an den Punkt gelangten, wo die Sümpfe begannen und er gezwungenermaßen den Schritt verlangsamte, merkte ich, daß ich mich näher an ihn halten mußte, damit ich ihm auf all den Kehren der labyrinthischen Pfade nach rechts oder links folgen konnte. Das aber löste eine neue Furcht in mir aus. Wie leicht konnte er, wenn ich so dicht hinter ihm ging, mir mit dem Ellbogen einen Haken in den Magen versetzen, der mich zu Boden streckte und mich ihm auf Gedeih oder Verderb auslieferte.
Ich zog also an dem Strick, und als der Kerl stehenblieb, setzte ich ihm einen Pistolenlauf an den Hals.
»Vergiß nicht, Bartolocci«, zischte ich ihm ins Ohr, »was du versprochen hast, sonst brenne ich dir ein kleines Loch in den Nacken, das dich schneller in die Hölle bringt, als du dachtest.«
|234|»Das dachte ich überhaupt nicht«, sagte Bartolocci gequält. »Ich bin ein guter Katholik, gehe jeden Sonntag zur Messe und bete zu Gott.«
»Dann gib acht, daß deine Taten zu deinen Gebeten passen. Marsch, vorwärts! Und keinen Verrat, wenn du eines Tages in geweihter Erde ruhen willst, anstatt hier im Schlamm zu verfaulen!«
Wie der Leser sich entsinnen wird, waren es nur hundertfünfzig Klafter von dem vordersten Graben bis zu den Rochelaiser Mauern. Aber diesen Weg in aller Finsternis mit tastenden Füßen zurückzulegen, die eine Hand um einen Strick geklammert, ohne meinen Vorgänger zu sehen, war wirklich ein Vorgeschmack des Hades, denn jeden Augenblick fürchtete ich, den Pfad um Fußesbreite zu verfehlen und in den Sumpf zu rutschen, und daß mein Führer die Güte haben würde, mich herauszuziehen, bezweifelte ich stark.
Ich versuchte, wenigstens die Wegkehren zu zählen, während ich Bartolocci nachtappte, merkte aber bald, daß ich mir die ständigen Richtungswechsel dadurch auch nicht besser einprägen konnte. Nebenbei bemerkt, entstieg diesen Sümpfen ein so fader, widerlicher Gestank, daß ich nur mit dem größten Ekel atmete. Mir schien, so rieche der Tod. Die Zeit, die ich diese unsicheren Pfade ging, dünkte mich endlos, und das Herz war mir zusammengezerrt vor Grauen, ich müßte in diesem Gestank versinken.
Plötzlich blieb Bartolocci stehen, und zwar so jäh, daß ich fast gegen ihn stolperte.
»Um Himmels willen, Herr«, flüsterte er, »stoßt mich nicht! Ich stehe am Rand des Grabens. Er ist voll Wasser, vielmehr voll Schlamm. Wir können nicht weiter.«
»Das käme dir so zupaß! Aber ich glaube dir nicht!« sagte ich wütend.
Doch Bartolocci mußte meinen Unglauben vorausgesehen haben, er drückte mir einen großen Stein in die Hand.
»Bitte, Herr Graf«, flüsterte er, »werft den Stein sacht ins Wasser und horcht genau, welches Geräusch er macht.«
Wirklich, ich hörte einen weichen Aufschlag, dem nach einer Weile ein saugendes Geräusch folgte. Der Stein sank ganz langsam in den Schlamm.
»Wie breit ist der Graben?« fragte ich fast an seinem Ohr.
»Dann muß man ihn mit einer Planke überqueren können.«
»Ja, so haben wir es immer gemacht, um an die Mauer heranzukommen.«
»Wer, wir?«
»Alle, die mit den Belagerten ihre Geschäfte machten.«
»Und was ist auf der drübigen Seite?«
»Eine fünfundzwanzig Fuß lange, überdachte Galerie, die an der Zugbrücke endet.«
»Und was ist hinter der Zugbrücke?«
»Das Maubec-Tor.«
»Wie seid ihr über die Zugbrücke gekommen?«
»Da kommt man nicht hinüber. Man konnte nur Körbe durch die Gitterstäbe schieben. Die Rochelaiser warfen uns Seile zu. Wir banden die Körbe fest, und so gingen Waren und Geld hin und her.«
»Bartolocci, wieso sprichst du in der Vergangenheit?«
»Weil es Vergangenheit ist, leider! Das ist ja das Unglück. Die Hugenotten haben den Schmuggel entdeckt und haben die Galerie mit Wolfsfallen gespickt. Fünf meiner Gefährten sind drin gefangen worden. Ich war, Gott sei Dank, noch auf dieser Seite des Grabens. Aber ich habe gehört, wie meine Freunde geschrien haben vor Schmerzen, und dann haben die Hugenotten sie von der Zugbrücke aus abgeknallt. Ich warf mich auf meiner Grabenseite flach zu Boden und habe mich nicht gerührt, bis alles ringsum still wurde. Ich habe von Kopf bis Fuß geschlottert, als ich den Rückweg antrat.«
»Abgesehen von dem Schlottern«, sagte ich, »werden wir jetzt dasselbe machen. Hierbleiben nützt ja nichts.«
Die Rückkehr kam mir schneller vor als der Herweg, wahrscheinlich hatte ich mich an diesen blinden Marsch durch die Sümpfe gewöhnt, vor allem aber war es ein Trost, dem Bekannten und Sicheren entgegenzugehen. Das einzige, was uns noch drohen konnte, war, daß man entgegen den Befehlen aus dem königlichen Graben auf uns schoß. Als wir nahe genug waren, rief ich leise den Namen der Königin und wurde erhört. Bartolocci und ich wurden zu dessen Hütte geleitet, und als Clérac dort Feuer schlug und ein Talglicht entzündete, sah er mich von oben bis unten mit Schlamm bespritzt.
»Mein Gott, Herr Graf, wie seht Ihr denn aus!« rief er.
|236|Nicolas bemühte sich, mich von dem gröbsten Schmutz zu reinigen, doch erst in Brézolles konnte ich mit Perrettes Hilfe die verdreckten Kleider abwerfen und mich waschen. Aber so oft ich auch Wasser durch die Nase einzog und es wieder ausschnob, wurde ich doch den Pestilenzgestank nicht los, den ich auf dieser schauerlichen Wanderung durch die Sümpfe eingeatmet hatte. Und immer, wenn ich seit jenem Tag an die Hölle denken muß, die ich hoffentlich nie kennenlernen werde, stelle ich sie mir nicht als einen düsteren Ort mit lodernden Flammen vor, wie man sie uns schildert, sondern als einen großen schwarzen Schlammpfuhl. Und diese Vorstellung, meine Leser, ist nicht minder grausig, das dürfen Sie mir glauben. Bevor ich Bartolocci verließ, hatte ich ihm Stillschweigen über alles, was wir erlebt hatten, befohlen, auch gegenüber seinem Beichtiger. Und ich blieb ebenso stumm gegen Pater Joseph wie auch gegen Monsieur de Clérac, um meinen Bericht dem Kardinal vorzubehalten.
Dem lauschte er am folgenden Tag in Pont de Pierre hinter verschlossenen Türen mit größter Aufmerksamkeit. Mehrmals entschuldigte ich mich, zu sehr ins einzelne zu gehen.
»Nur zu, nur zu, Monsieur d’Orbieu!« sagte er erregt, »laßt mir kein Detail aus, dessen Ihr Euch erinnert! Es kann immer sein, daß etwas, das Euch verzichtbar dünkt, sich nachher als äußerst wichtig erweist.«
Obwohl er seinen Sekretären voll vertraute – er hatte sie sich vor langen Jahren mit größter Sorgfalt ausgewählt –, rief er keinen zum Mitschreiben in sein Kabinett, sondern notierte sich alles selbst, indem er mich hin und wieder mit beredter Geste bat, im Sprechen einzuhalten, bis er einen ihn fesselnden Umstand aufs Papier geworfen hatte.
Als ich endete, verharrte er eine Zeitlang schweigend. Und ich entsinne mich gut, welche Frage er mir als erste stellte.
»Monsieur d’Orbieu, denkt Ihr, daß Ihr den Weg durch die Sümpfe bis zu dem Graben vor der Zugbrücke allein finden könntet?«
»Auf keinen Fall, Herr Kardinal, leider!«
Und ich erläuterte ihm die Gründe, die der Leser schon kennt.
»Dann ist uns Bartolocci also unentbehrlich«, sagte der Kardinal, »und das ist der Haken bei der Sache, denn er ist offenbar ein abgefeimter Lügner.«
|237|Hierauf schwieg Richelieu lange Zeit, dann ging er das ganze Problem in seiner methodischen und peinlich genauen Art durch, und resümierte die Situation, sorglich bedacht, keine der Gegebenheiten außer acht zu lassen.
»Erstens müssen die Sprengmeister unter Bartoloccis Führung glücklich durch den Irrgarten der Sümpfe bis zu dem Graben gelangen. Zweitens müssen sie den Graben mit Hilfe von Planken überqueren, die sie außer den Sprengkörpern mit sich führen müssen. Drittens sind in der überdachten Galerie die Fallen zu umgehen, damit sie weiter vordringen können. Viertens müssen die Sprengkörper angebracht werden, um die Zugbrücke in die Luft zu jagen. Fünftens müssen sie, wenn die Schnüre gezündet sind, schnellstens durch die Galerie und über den Graben zurückgelangen, um sich in Sicherheit zu bringen. Sechstens müssen sie rasch zurückkehren, die Planken jedoch liegenlassen, damit unsere Soldaten zum Angriff vorgehen können.«
Der Kardinal schloß kurz die Augen, dann öffnete er sie wieder: Er lächelte spöttisch. Ich war verblüfft, denn Spott war sonst nicht seine Sache, er mochte es auch nicht, wenn in seiner Gegenwart gespottet wurde.
»Wenn das Maubec-Tor«, sagte er, »tatsächlich der schwächste Punkt der Festung ist, wie Bartolocci behauptet, wie steht es dann wohl um die anderen Tore?«
Hieraus entnahm ich, daß Richelieu, durch alle die aufgezählten Schwierigkeiten entmutigt, auf seinen Plan verzichtete. Aber das hieß seine eherne Beharrlichkeit verkennen. Schon am nächsten Tag kam er auf die Sache zurück. Seines Erachtens, sagte er, müßten den von Bartolocci geführten Sprengmeistern zwei Soldaten vorangehen und jedesmal, wenn der Italiener nach rechts oder links abbiege, einen halbklafterlangen Pfahl einschlagen. Diese Pfähle wären gleichsam der Ariadnefaden durch das Labyrinth, der zuerst gehende Sprengmeister müßte nur immer die Arme waagerecht ins Dunkel nach den besagten Pfählen ausstrecken.
Pater Joseph, der bei diesem Gespräch zugegen war, wurde beauftragt, Bartolocci zu unterrichten, daß er für diese Aufgabe zum kommenden Neumond gebraucht würde, der uns, dem Kalender zufolge, in der Nacht vom elften auf den zwölften März die notwendige Dunkelheit garantierte. Vielleicht war es |238|ein Fehler, den Schmuggler zu früh zu benachrichtigen, am neunten März jedenfalls verschwand er. Noch ohne den so sehr begehrten salvacondotto erhalten zu haben, der ihm das Verlassen des Lagers erlaubt hätte, war es ihm gelungen, dem Netz der Bewachung zu entschlüpfen und ein sicheres Versteck zu finden, denn obwohl die Gendarmen in allen Richtungen nach ihm fahndeten, wurde er nicht gefunden.
Erneut glaubte ich, Richelieu würde seinen Plan aufgeben, denn die Chancen dafür hatten sich entschieden verringert. Dem war nicht so. Mag sein, daß er verzweifelt versuchte, mit La Rochelle zu Rande zu kommen, um so schnell wie möglich Casale zu Hilfe zu eilen, mag auch sein, daß er angesichts der immer häufigeren Krankheiten des Königs fürchtete, dieser könnte der Belagerung gänzlich leid werden und sie aufheben.
Für mein Gefühl ließ der neue Plan des Kardinals nichts zu wünschen übrig. Er teilte die Sprengmeister in kleine Gruppen ein, und wenn es ihnen gelänge, die Zugbrücke des Maubec-Tors zu erreichen und zu zerstören, sollten sofort die Wachen des Kardinals vorrücken und danach zehntausend in Bereitschaft liegende Soldaten, die Richelieu selbst befehligen würde.
Unglücklicherweise verirrten sich die Sprengtrupps im Labyrinth der Pfade, liefen endlos in die Irre und kehrten kläglich an ihren Ausgangspunkt zurück. Schon nahte der Morgen, und mit dem wiederkehrenden Tag war die Partie verloren. Der Befehl zum Rückzug erging, und zehntausend Mann kehrten zurück in die Quartiere.
Am dreizehnten März unternahm Richelieu einen weiteren nächtlichen Versuch, diesmal gegen das Tasdon-Tor, das angeblich schwach bewacht wurde, doch wurden unsere Soldaten entdeckt, im Nu starrten die Rochelaiser Zinnen von Musketenläufen, und eine heftige Schießerei vertrieb unsere Truppen.
Am achten April versuchte es Richelieu erneut, wiederum bei Nacht, ließ Kanonen in Reichweite der Mauern desselben Forts vorrücken und es gnadenlos beschießen. Doch richteten unsere Kugeln keinen großen Schaden an, sie schürften die gewaltigen Hausteine nur, die mit Kalk und Sand felsenfest verbunden waren. Schnell erfolgte die Antwort der Rochelaiser Artillerie, und ebenso schnell mußten wir unsere Kanonen in Sicherheit bringen, bevor sie zerstört wurden. Offenbar hatten |239|sich unsere wackeren Hugenotten besser mit Pulver und Kugeln versehen als mit Nahrungsmitteln.
Da die Franzosen es nicht lassen können, alles zu bekritteln, gab es im Lager viel Geschimpfe gegen diese Angriffe, nur waren die Schimpfer dieselben, die sich vorher beklagt hatten, daß nichts unternommen werde. Trotz dieses Geredes aber war nun der Beweis unwiderleglich erbracht: La Rochelle war nicht durch Angriffe zu bezwingen, sondern einzig durch Aushungern. Mit noch größerem Eifer trieb Richelieu den Deichbau voran, kaufte weiterhin holländische Schiffe und bemannte sie mit Seeleuten, die er aus der Bretagne und der Normandie kommen ließ, um eine Flotte zu schaffen, die es mit der englischen aufnehmen konnte. Seine Spione hatten ihm gemeldet, daß die Engländer, obwohl sie auf der Insel Ré gescheitert waren, zu einer zweiten Expedition rüsteten, um La Rochelle bei dieser nicht endenwollenden Belagerung zu unterstützen.
***
Ludwig hatte Paris, seinem Wort getreu, am dritten April 1628 verlassen, einundzwanzig Tage später traf er im Lager ein. Das war keine besonders schnelle Reise, wenn man sie mit denen unserer Kuriere verglich. Der königliche Troß umfaßte jedoch – außer den Ministern und den hohen Militärs – die Musketiere, die Schweizer Garden, die französischen Garden und einen Teil des Hofes. Einen Teil sage ich, denn trotz ihrer Bitten hatte es der König unter dem Vorwand, daß im Lager Seuchen herrschten, abgelehnt, die Königin und etliche Damen mitzunehmen. In Wahrheit wollte er es, zusätzlich zu den Eifersüchteleien der Marschälle, nicht noch mit den Intrigen der diabolischen Reifröcke zu tun bekommen. Auf dieser Reise wand sich der Geleitzug aus rumpelnden Karossen und staubbedeckten Reitern über die Straßen wie ein riesiger Wurm, den seine eigene Länge verlangsamte, ganz zu schweigen davon, daß es auf den Etappen viel Zeit kostete, so viele Menschen unterzubringen und genügend Nahrungsmittel aufzutreiben, um alle satt zu bekommen. Außerdem ging es mittlerweile auf Ostern, und Ludwig, der sehr fromm und in seinen Christenpflichten sehr gewissenhaft war, verweilte drei Tage in Niort, um das Osterfest zu feiern und das Abendmahl einzunehmen.
|240|Seine Rückkehr ins Lager setzte all jenen das Herz wieder an den rechten Fleck, die der endlosen Belagerung so überdrüssig geworden waren, daß sie sich ihr gern entzogen hätten, wäre dies nur ohne Ehrverlust durchzuführen gewesen. Um den Rochelaisern klarzumachen, daß die Belagerung trotz unserer fehlgeschlagenen Angriffe unerbittlich weiterging, wurde Seiner Majestät ein ebenso festlich beleuchteter wie geräuschvoller Empfang bereitet. Rings auf den Umzingelungswällen brannten Freudenfeuer, aus allen Gräben wurden Musketensalven gefeuert, und die Kanonen donnerten ohrenbetäubend.
Wenn Sie erlauben, Leser, gehe ich hier wenige Schritte zurück. Von Niort nämlich hatte der König einen Kabinettskurier gesandt, um dem Kardinal sein Kommen anzukündigen. Ich war dabei, als er das Schreiben erhielt, und sowie der Kardinal das Siegel erbrochen und den Brief überflogen hatte, teilte er mir dessen Inhalt mit. Hierauf errötete er vor Glück, dann erblaßte er, dann faßte und setzte er sich und sagte keinen Ton. Es war offensichtlich, wie unendlich ihn der Gedanke erleichterte, welche Hilfe ihm Ludwig allein schon durch seine Gegenwart bei seiner erdrückenden Arbeitslast bringen würde. Es war zehn Uhr morgens, als Richelieu mich entließ, wobei er mir übrigens keine Geheimhaltung der königlichen Rückkehr anempfahl, doch als ich zu Nicolas und unseren Pferden kam, schwang ich mich in den Sattel, ohne durch das leiseste Wort zu verraten, was ich erfahren hatte, sosehr es mir auch auf den Lippen brannte, ihm mitzuteilen, was ihn, wie man sich denken kann, auf den Gipfel der Freude versetzen mußte.
Ich hielt jedoch an mich, weil ich meinte, ich schuldete es Mademoiselle de Foliange, ihm nichts zu sagen, bevor sie nicht dabei wäre, damit sie diese Seligkeit mit ihm teilen könne. Was mich anging, so frohlockte ich bei dem Gedanken, ihnen ihr so nahes Glück zu verkünden, denn ich hatte sie beide sehr gern, wenn auch auf verschiedene Weise. Die Frage, die mich bewegte, als ich mit ihnen zu Tisch ging, war nur, ob ich ihnen die gute Nachricht sofort mitteilen sollte – wie man sich erinnern wird, hatte er ihre Hochzeit für den Tag angesetzt, an dem er im Lager eintreffen würde –, oder ob ich damit bis zum Ende der Mahlzeit warten sollte? Nach einigem Hin und Her entschied ich mich für die zweite Lösung, denn, sagte ich mir, wenn Mademoiselle de Foliange einen gefüllten Magen hätte, |241|könnte sie nicht so leicht in Ohnmacht fallen. Seit sie bei uns lebte und gut und ungescheut essen durfte, hatte sie sich, Gott sei Dank, wunderbar erholt. Sie war nicht mehr das abgezehrte, blasse Kind, das sie bei ihrer Ankunft gewesen war, kaum imstande, einen Knicks anzudeuten, und so matt, daß sie mit gleichsam erloschener Stimme sprach und sich bei Madame de Bazimont einhaken mußte, um zu ihrem Zimmer hinaufzusteigen. Nein, sie war längst wieder, was sie wohl vor dem Darben in La Rochelle gewesen war: ein wunderschönes Mädchen, schmal in der Taille, aber hübsch rund, wo es sich für ein Mädchen gehört, fröhlich, mit strahlenden Augen, naschhaftem Mund und niedlichen weißen Zähnen, voller Lust, das Leben zu kosten. Im übrigen konnte sie sich in diesem Schloß nur glücklich fühlen, wo sie von Nicolas so schwärmerisch geliebt wurde, so mütterlich von Madame de Bazimont und von mir, nun, väterlich will ich nicht sagen. Zum einen war ich nur zehn Jahre älter als sie, zum anderen entzückte mich dieses blutjunge Wesen, nur daß die Begehrlichkeit, die daraus erwuchs, sich infolge meiner Gewissensbisse in lautere Zärtlichkeit verwandelt hatte. Verflixt, sagte ich mir, ich werde doch nicht, wie es in der Bibel heißt, »meines Nächsten Weib begehren«, zumal dieser Nächste mein Bediensteter ist! Ich glaube aber, der Ausdruck »lautere Zärtlichkeit«, den ich soeben gebrauchte, ist doch ein bißchen scheinheilig, denn offen gestanden, enthielt dieses Gefühl zuviel verhohlene Sinnlichkeit, um es mit einem väterlichen zu verwechseln.
»Mademoiselle«, sagte ich, als wir mit dem Käse fertig waren, »beliebt mich anzuhören. Ich möchte Euch eine Nachricht mitteilen, die Euch, wenn Ihr zu dem Chevalier de Clérac noch genauso steht wie vorher, ebenso wie ihn nur freudig stimmen kann.«
Das Fräulein errötete bei diesen Worten, warf einen Blick auf Nicolas, dann einen auf mich und blieb stumm.
Ihr Schweigen brachte mich aus dem Konzept, denn ich fand, ich an ihrer Stelle hätte natürlich versichert, daß meine Gefühle für Nicolas sich nicht geändert hätten. Sie aber blieb still und stumm und schlug die Augen nieder. Sollte ich nun fortfahren oder nicht, fragte ich mich etwas beklommen, denn angenommen, meine Nachricht erfreute sie gar nicht wie erwartet, wie verzweifelt wäre dann mein armer Nicolas?
|242|In diesem Zweifel richtete ich einen fragenden Blick auf Madame de Bazimont, die wie stets hinter Mademoiselle de Foliange stand und sie mit ihren liebevollsten Blicken umfing. Sie verstand meine stumme Frage, nickte bejahend und ermunterte mich mit begieriger Miene fortzufahren.
»Seine Majestät«, sagte ich, »hat von Niort ein Eilschreiben an den Herrn Kardinal gesandt, um ihm anzukündigen, daß er in wenigen Tagen hier im Lager eintreffen werde.«
»Gott sei’s gelobt!« rief Nicolas, und in seiner Freude wollte er vom Tisch aufspringen, hielt aber nach einem Blick zu mir auf halbem Weg inne, um mir durch seinen Überschwang nicht zu mißfallen, und setzte sich wieder.
Was nun das Fräulein anging, so füllten sich ihre Augen mit Tränen, und mit belegter, schluchzender, kaum hörbarer Stimme bat sie, sich zurückziehen zu dürfen, was ich ihr durch eine Gebärde gewährte. Tatsächlich erhob sie sich, eilte zur Treppe und lief zu ihrem Zimmer hinauf, umgehend gefolgt von Madame de Bazimont, die mir im Fortgehen einen Blick zuwarf, der deutlich besagte: Keine Bange, das hat nichts zu bedeuten!
»Was ist denn das?« fragte mich Nicolas so erschrocken, daß es mich schmerzte.
»Nichts, was für dich nicht ein sehr gutes Omen wäre, mein lieber Junge!«
»Zum Teufel, wenn ich dieses Benehmen verstehe!« sagte Nicolas, immer noch sehr betroffen. »Sie weint! Sie läuft vor mir weg!«
»Nicolas«, sagte ich, »sie läuft nicht vor dir weg. Sie läuft weg, Punktum.«
»Aber warum denn, und völlig aufgelöst in Tränen?«
»Sie weint vor Glück, Nicolas. Sie läuft weg, damit du sie nicht weinen siehst, vielleicht ja auch, damit die Tränen ihre Schminke nicht verwischen.«
»Mein Gott«, sagte Nicolas, »wer denkt in einem solchen Augenblick an Schminke?«
»Eine Frau bestimmt. Erwarten wir nicht, daß die Frauen bei jeder Gelegenheit schön aussehen?«
Wenn ich es recht bedenke, war dieses Argument wohl nicht so schlagend, wie es mir erschien. Auf Nicolas machte es jedenfalls keinen Eindruck. Mit meiner Erlaubnis erhob er sich |243|und marschierte auf und ab durch den Raum, wie toll geworden.
»Herr Graf«, sagte er, indem er vor mir stehenblieb, »meint Ihr, daß ich bei Mademoiselle de Foliange anklopfen und bitten kann, sie zu sprechen?«
Ich spürte, wie ich rot wurde vor Zorn.
»Nicolas«, sagte ich, »bist du noch bei Troste? Ein Fräulein in ihrem Zimmer aufsuchen zu wollen, ohne daß sie es erbeten oder erlaubt hat? Auf die Idee käme nicht mal ein Küchenbursche! Du würdest alles verderben! Ein so ungezogenes Verhalten würde sie dir nie verzeihen.«
»Was soll ich dann tun, Herr Graf?«
»Nichts! Warten!«
»Warten!« sagte Nicolas, und die Stimme stockte ihm in der Kehle. »Worauf denn noch warten?«
»Jawohl, warten, solange bis Madame de Bazimont sie mit ihrem Glück ausgesöhnt hat.«
»Mit ihrem Glück aussöhnen!« rief Nicolas entrüstet. »Wirklich, der Kardinal hat recht, daß die Frauen ziemlich sonderbare Tiere sind.«
»Nicolas, auch wenn das kein sehr christliches Wort ist, kann man es einem Kirchenmann vergeben, weil er dem gentil sesso entsagt hat. Aber das ist bei dir nicht der Fall, du hast diejenige zu ehren, die du liebst.«
»Ich weiß. Trotzdem, es war eine Frau, die die verbotene Frucht pflückte.«
»Doch nur, weil Adam sich vor Verlangen danach verzehrte, aber nicht zur Tat zu schreiten wagte. Eva handelte aus Liebe.«
»Wieso das? So hat man mich die Dinge nie gelehrt!«
»Mich auch nicht. Aber wer das große Herz der Frauen kennt, der kann es sich denken.«
»Ihr macht Euch über mich lustig, Herr Graf!«
»Durchaus nicht! Du solltest mir vielmehr dankbar sein, daß ich dich beim Warten belustige.«
»Es ist unerträglich, Herr Graf. Wie lange soll das noch dauern?«
»Ich habe es dir gesagt. So lange, bis Madame de Bazimont alle Aufregung besänftigt hat und deine Schöne sich die Augen mit klarem Wasser gespült, sich frisch frisiert und geschminkt hat.«
|244|Die Hände auf dem Rücken verschränkt, die Stirn gesenkt, den Mund bitter verzogen, begann Nicolas wieder mit seinem Auf und Ab durch den Raum. Plötzlich hielt er inne, wie von einem neuen Schlag ins Herz getroffen.
»Und wenn der König unsere Hochzeit vergessen hat?« sagte er.
»Der König vergißt ein Versprechen nicht, das er gegeben hat.«
Aber meine Geduld machte mich allmählich selbst ungeduldig.
»Und wenn er doch einmal etwas vergißt«, setzte ich daher grausam hinzu, »hat kein Mensch das Recht, ihn daran zu erinnern.«
»Um Himmels willen!« sagte Nicolas. »Das kann nicht sein! Es wäre mein Tod!«
»Ach, Nicolas, nun weine bitte nicht! Ich sehe Hermes, den Götterboten, die Treppe vogelgleich herniederschweben und geradewegs auf uns zu fliegen.«
»Hermes? Welcher Hermes? Ich sehe nur Perrette.«
»Ein Beweis, daß Hermes sich gelegentlich in eine Kammerjungfer verwandeln kann. Perrette, was bringst du?«
»Herr Graf«, sagte Perrette mit einem anmutigen Knicks, »Madame de Bazimont läßt Euch sowie dem Herrn Chevalier de Clérac ausrichten, Ihr mögt aufs Zimmer von Mademoiselle de Foliange kommen.«
»Gütiger Gott!« sagte Nicolas und wurde so bleich, daß ich ihn in die Arme nahm, damit er nicht umsank.
***
Am vierundzwanzigsten April traf der König im Lager ein, und zu meiner ungeheuren Erleichterung hatte er sein Versprechen, Nicolas und Mademoiselle de Foliange gleich nach seiner Rückkehr zu vermählen, nicht vergessen. Er hätte es auch sofort erfüllt, wäre nicht die Schwierigkeit aufgetreten, ein passendes Kleid für diesen Anlaß zu finden, schließlich wimmelt es in einem Soldatenlager nicht eben von Brautgewändern. Madame de Bazimont bot das ihre an, wohlerhalten in Duftkräutern und teurem Gedenken, und Nicolas und ich verbissen uns das Lachen, weil wir dachten, daß die üppigen Formen der |245|guten Frau sich kaum zu der schlanken Gestalt der Braut schicken könnten. Die Anprobe ergab jedoch, daß Madame de Bazimont vor dreißig Jahren nicht weniger anmutig gebaut war als unsere Schöne. Es bedurfte nur einiger kleiner Änderungen, die für mein Gefühl höchstens zwei Tage in Anspruch nehmen durften, tatsächlich aber vier Tage dauerten, obwohl mehrere Kammerfrauen emsig sticheln halfen. Dem armen Nicolas wurde die Zeit sehr lang, und verdrossen begriff er, daß der Bräutigam bei Hochzeitsvorbereitungen keine größere Bedeutung hat als eine Drohne im Bienenkorb.
Ludwig aber machte alles wieder gut. Zu der Trauung lud er außer meinen Freunden, Toiras und Marschall von Schomberg, die Kompanie Musketiere ein, der Nicolas im Prinzip bereits angehörte und der er nach dem Ende der Belagerung beitreten würde. Auch Marschall von Bassompierre wurde vom König eingeladen, und zuerst sagte der Herr zu, entschuldigte sich aber im letzten Moment wegen vorgeblich schlechten Befindens. Das betrübte mich, zeigte es doch, daß die diabolischen Reifröcke selbst in der Entfernung ihre Macht über ihn nicht verloren.
Die Vermählung fand, wie beschlossen, in der romanischen Kirche von Surgères statt. Die Messe las der Domherr Fogacer. In seiner Predigt, die unter anderen Verdiensten das der Kürze hatte, lobte er, nach der Ehrung des Königs, die Herzogin von Rohan mit warmherzigen Worten dafür, daß sie beim Rochelaiser Stadtrat die Ausreise des Fräuleins durchgesetzt hatte.
Während der ganzen Zeremonie erging sich Madame de Bazimont in Tränen und verhaltenem Schluchzen, was mich in Anbetracht eines so freudigen Ereignisses verwundert hätte, wenn Perrette mir nicht anvertraut hätte, daß sie mit Vorliebe Hochzeiten beiwohnte, auch wenn sie die Personen wenig oder gar nicht kannte, nur weil sie dann jedesmal so schön weinen konnte.
Die Jungvermählten bezogen das Zimmer von Mademoiselle de Foliange, weil es größer und heller war als das von Nicolas, denn es ging nach Süden. Was meinen Junker anging, so versah er seinen Dienst bei mir fortan nicht minder gewissenhaft, aber ohne den früheren Schwung und Eifer, wie mir jedenfalls schien. Er redete und fragte auch viel weniger, die Hochzeit hatte ihn zum Mann gemacht.
|246|Aus zwei Gründen blieb mir der dreißigste April im Gedächtnis. Der erste war, daß wir durch unsere Spione intra muros erfuhren, daß Jean Guiton zum Bürgermeister von La Rochelle gewählt worden war, ein ehemaliger Admiral der Stadt, ein derber und zäher Mann, der nicht so leicht die Flagge strich und eher mit Mann und Maus unterging, als zu verhandeln.
Der zweite Grund stellte sich in Form eines versiegelten Briefes dar, den mir die Post an diesem Tag aushändigte. Er kam aus Nantes und trug den Absender meiner Brüder Pierre und Olivier de Siorac. Beim Öffnen erkannte ich jedoch, daß sie nur die Übermittler des Briefes waren. Pierre teilte mir in einem Begleitwort mit, das beiliegende Schreiben, das ihnen nicht durch die Post, sondern durch ein englisches Frachtschiff zugegangen sei, das im Nantaiser Hafen ankerte, habe auf dem Umschlag ihre Namen getragen. (England und Frankreich hatten sich ja nicht offen den Krieg erklärt, und so ging der Handel zwischen beiden Ländern wie vorher vonstatten.) Als sie den Brief aber öffneten, sei ihnen rasch klargeworden, daß er an mich gerichtet sei, denn er begann mit der Anrede: »Geliebte französische Lerche«. So hatte Mylady Markby einst meinen Vater genannt und zwanzig Jahre später auch mich, als ich im Auftrag des Kardinals in London war.
Mylady Markby war mir bei meiner Londoner Mission eine kostbare Hilfe gewesen, weil sie besser als jeder andere die happy few kannte, die England regierte. Und sie hatte mir äußerst nützliche Informationen über Buckingham verschafft wie auch über die Rochelaiser Gesandten, die in London um Englands Bündnis und Unterstützung buhlten.
Es war eine sehr hohe Dame, sehr frei in ihren Worten wie übrigens in ihren Sitten, und genauso wie die Großen in Frankreich verfolgte sie ihre eigene Politik, ohne sich um die von König Karl zu scheren, weil es sowieso nicht Karls, sondern Buckinghams Politik sei. »Steenie« – so der Kosename des Königs für seinen Favoriten –, machte nach ihren Worten im Staat, was er wollte, während Karl nicht den kleinen Finger zu rühren wagte, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen.
Da sie die Männer liebte, wunderte es mich nicht, daß sie wenig Sympathie für jene aufbrachte, die sich aus dem weiblichen Geschlecht nichts machten. Doch ihre entschiedene Aversion gegenüber Buckingham war patriotischer Natur. Mit grimmiger |247|Lust zitierte sie den Ausspruch eines gewissen Mister Coke vor dem Parlament: »Lord Buckingham ist die Ursache all unserer Nöte, er ist die Kalamität der Kalamitäten.«
Schöne Leserin, so wie Sie an meinen Lippen hängen, wie Sie mir gütigst zu schreiben beliebten, darf ich sagen, daß ich an Ihren Augen hänge, und sobald ich darin auch nur einen Anflug von Ermüdung zu erkennen meine, bemühe ich mich tunlichst, Ihre Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Deshalb gebe ich den Brief Mylady Markbys hier nicht in Gänze wieder, sondern rücke meinen Lehnstuhl neben den Ihren und erzähle Ihnen kurz und knapp, wie Lady Markby die Haltung der englischen Klassen, des Adels, der middle class und des Volkes, gegen Buckinghams Frankreich-Politik charakterisierte.
So verächtlich die Großen über Buckingham, den Parvenü aus niederem Landadel, auch die Nase rümpften, betrachteten sie seine Feldzüge gegen Frankreich doch nicht ohne Wohlgefallen, zumal diese sie, weil sie von Abgaben und Steuern befreit waren, keinen Penny kosteten. »Der Aufstand von La Rochelle«, sagte der Earl of Carlisle, »ist ein Fieber, aber ohne dieses Fieber wäre Frankreich seinen Nachbarn zu stark.«
Die Haltung der middle class, zusammengefaßt in den niederschmetternden Worten des Mister Coke im Parlament, war hingegen von Grund auf feindselig: Man empfand es als unduldbar, daß Buckingham zur Finanzierung seiner abenteuerlichen Expeditionen gegen Frankreich willkürlich, in schamloser Mißachtung der Gesetze und der Rechte des Parlaments, neue Steuern erhoben hatte.
Der kleine Mann des Volkes aber sah sich nicht nur ausgepreßt durch die Steuern, sondern obendrein zum Dienst in Militär oder Marine gezwungen, durch Zwangsrekrutierung seinem Gewerbe und seiner Familie entrissen. Und wer wußte nicht, daß im Salon von Buckinghams Admiralsschiff, als er auszog, die Insel Ré zu erobern, ein großes Bildnis der französischen Königin, Anna von Österreich, geprangt hatte: Buckingham führte also Krieg gegen den König von Frankreich, nur um sich dafür zu rächen, daß dieser ihn aus der Nähe der »verdammten Französin und Papistin« verbannt hatte. Was aber sagte man erst über das prächtige Diamantenarmband, das Karl I. seinem Günstling geschenkt hatte, um ihn über sein für England so schmähliches und an englischen Leben so kostspieliges |248|Scheitern auf der Insel Ré zu trösten? Es war ein Skandal! »Für ihn Diamanten«, hieß es, »für uns die Gräber!«
Hierauf erläuterte Lady Markby mit ihrer üblichen Unverblümtheit, wieso es so lang gedauert und ein so zähes Feilschen erfordert hatte, bis das englische Bündnis mit La Rochelle zustande kam.
»Was nun folgt, meine teure französische Lerche«, schrieb die Lady in ihrem Brief, »ist so schockierend, daß ich es gar nicht glauben konnte, als ich es erfuhr. Um sicherzugehen, daß die Rochelaiser Wort hielten, forderten unsere Unterhändler (aber ich bin überzeugt, die schändliche Idee stammte von Buckingham), forderten, sage ich, als Geiseln, die sogleich nach England verbracht werden sollten, eine gewisse Anzahl Kinder aus den besten Rochelaiser Familien.
Finden Sie nicht, meine französische Lerche, daß dies einer Menschenfressergeschichte aus alten Zeiten gleicht? Die Rochelaiser waren so entsetzt, daß sie die unwürdige Forderung rundheraus ablehnten.
Die zweite Forderung unserer werten Roßtäuscher gefiel ihnen ebensowenig: Die Stadt La Rochelle sollte den englischen Heeres- und Seekräften erlauben, sich im Notfall in ihren Hafen zu flüchten. Wer aber würde über diesen Notfall entscheiden? Und wer bestimmen, wann diese Truppen La Rochelle wieder verließen, fragten sich die Rochelaiser. Wäre es wirklich ein guter Handel, eine Herrschaft durch eine andere zu ersetzen?
Die Rochelaiser lehnten auch diese zweite Forderung nicht nur ab, sie bestanden darauf, daß in dem Vertrag mit England ausdrücklich festgehalten werde, daß sie ›unter ihrem wahren und legitimen Gebieter verbleiben wollten‹, daß sie der Treue und Ergebenheit nicht abschwören wollten, welche sie dem König von Frankreich schuldeten, ›einem ausgezeichneten Fürsten, dessen Vorgehen von seltener Aufrichtigkeit geprägt‹ sei.
Diese Formulierung, liebenswerte französische Lerche, mißfiel den englischen Unterhändlern entschieden. Sie schlossen daraus, daß die Rochelaiser Unterhändler die französische Lilie doch zu tief im Herzen trügen, als daß La Rochelle für England das werden könnte, wozu man in verflossenen Zeiten |249|Calais so wunderbar hatte machen können: eine englische Kolonie an Frankreichs Küste.
Und plötzlich begrenzten unsere guten Engländer die versprochene Hilfe auf Nahrungsmittel, welche eine englische Flotte durch die königliche Blockade hindurch zu den Rochelaisern bringen solle, nämlich Getreide, Zwieback, Rinder, gepökeltes Schweinefleisch, Käse und Bier. Wobei es mich, nebenher bemerkt, kurios anmutet, Leuten Bier zu schicken, die so gute Weine haben.
Diese Hilfslieferungen versprach Karl im Januar und verkündete zugleich, sie würden La Rochelle binnen sechs Wochen erreichen, das heißt, Mitte Februar. Aber, ach, liebste Lerche, wir haben jetzt Ende April, und Sie haben noch kein einziges englisches Segel am Horizont auftauchen sehen. Und wenn Sie mich nach dem Grund dieser Verspätung fragen, antworte ich schlicht: Wir Engländer haben einen großen Vorzug, wir sind hartnäckig. Wir haben aber auch einen großen Nachteil, wir sind langsam. Und weil unser großer Vorzug leider mit unserem großen Nachteil zusammenhängt, bessern wir uns nicht. Wir sind immer so felsenfest überzeugt, daß wir schon ausführen werden, was wir beschlossen haben, daß wir uns nie mit der Ausführung beeilen.
Geliebte französische Lerche, hiermit sende ich Ihnen eine Million Küsse, aber nicht nur, weil ich Sie liebe, sondern auch, weil ich hier sonst keine Verwendung dafür habe, so überdrüssig und angewidert lebe ich angesichts der Mißstände in meinem unglücklichen Land.
Lady Markby«