26 zeRbrocHen
»Du Miststück«, fauchte Haley Spencer. Sie war völlig unerwartet neben meinem Spind aufgetaucht. »Was hast du ihm gesagt?«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.« Natürlich war mir klar, dass es irgendetwas mit Evan zu tun haben musste, aber ich hatte wirklich nicht die leiseste Ahnung, worauf sie hinauswollte.
»Du hast irgendwas zu ihm gesagt, sonst wäre er nicht plötzlich abgehauen.«
Ich verstand kein Wort und konnte sie nur fassungslos anstarren.
»Er ist weg!«, rief Haley wütend. »Er ist wieder nach San Francisco gezogen, und das ist deine Schuld!« Bevor ich etwas erwidern konnte, war sie auch schon davongestürmt.
Reglos stand ich da, starr vor Schreck. Meine Bücher rutschten mir aus den Händen und landeten auf dem Boden. Hatte Haley die Wahrheit gesagt?
»Hier, bitte«, sagte jemand und reichte mir die Bücher zurück.
»Danke«, murmelte ich geistesabwesend und nahm die Bücher entgegen, ohne aufzusehen.
Was Haley gesagt hatte, konnte nicht stimmen – auf gar keinen Fall. Evan war noch hier, er war nur heute nicht zur Schule gekommen. Ich hatte sein Fehlen schon im Englischkurs bemerkt. Er war nicht weggezogen, nein, ganz bestimmt nicht.
»Em, ich hab es gerade gehört«, sagte in diesem Augenblick Saras Stimme hinter mir. »Es tut mir so leid – ich hatte keine Ahnung.«
»Es ist also wahr?« Ich drehte mich um und begegnete dem mitfühlenden Blick meiner Freundin.
»Ja, ich weiß es von einem der Jungs aus dem Basketballteam.« Sara musterte mich durchdringend. Offensichtlich wartete sie auf irgendeine Reaktion, aber ich war wie gelähmt. Ich wollte es nicht glauben. Wie konnte er weg sein?
Dann zerbrach auf einmal etwas in mir. Sara sah es sofort, packte mich am Arm und führte mich auf dem schnellsten Weg zur Mädchentoilette. Die Schulkorridore waren relativ leer, da es schon zum Unterricht geklingelt hatte, kaum jemand bekam die dramatische Szene mit.
Der Kummer zerriss mir das Herz. Ohne meinen geschundenen Rücken zu beachten, ließ ich mich an der kühlen, harten Fliesenwand hinunterrutschen und sank kraftlos zu Boden. Ich weinte nicht, meine Augen blieben trocken, obwohl mein Inneres sich anfühlte, als hätte man es durch den Fleischwolf gedreht. Mit leerem Blick starrte ich an die gegenüberliegende Wand. Eine Weile saßen wir stumm nebeneinander. Ich hörte nur Saras Atem – still sah sie mit an, wie die Wahrheit langsam in mich einsickerte.
»Er ist also wirklich weg?«, stieß ich hervor – ein leises, heiseres Flüstern. Fast wäre mir die Frage im Hals steckengeblieben.
Sara blieb an meiner Seite und hielt wortlos meine Hand. Immer mehr wurde mir die Realität bewusst. Plötzlich drang ein Schluchzen aus meiner Kehle, mein Kopf sank auf Saras Schoß, und ich ließ meinen Tränen freien Lauf. Ein Beben erschütterte meinen Körper, ich rang nach Atem. Sara strich mir tröstend über den Rücken, und ich weinte, das Gesicht in den verschränkten Armen vergraben.
»Er kann doch nicht einfach weg sein«, wimmerte ich und wünschte, es würde wahr werden, wenn ich es nur laut aussprach. Wieder begann ich hemmungslos zu schluchzen.
Irgendwann wurde ich vor lauter Erschöpfung etwas ruhiger, und die Tränen trockneten. Mein Kopf lag noch immer auf Saras Schoß gebettet. Meine Augen brannten wie Feuer, mein Hals tat weh, mir schwirrte der Kopf. Warum war Evan so plötzlich verschwunden? Wie konnte er mich einfach sitzenlassen? Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr verwandelte sich mein Schmerz in Wut.
»Wieso ist er abgehauen, ohne mir was davon zu sagen?« Mit einem Ruck setzte ich mich auf und spürte, wie meine Schultern sich verkrampften. »Er hat sich nicht mal verabschiedet! Wer tut denn so was?«
Mein abrupter Stimmungswechsel verschlug Sara die Sprache. Ich stand auf und begann mit geballten Fäusten auf und ab zu wandern, so wütend war ich auf einmal über Evans egoistische Flucht.
»Hat ihn meine Gegenwart so fertiggemacht, dass er nicht mal mehr in die Schule kommen konnte? Musste er ans andere Ende des Landes ziehen, nur um nicht mit meinem Anblick konfrontiert zu werden? Er war es doch, der nicht mehr mit mir reden wollte! Ich sollte seine Entscheidung einfach akzeptieren und über ihn hinwegkommen. Soll ich wirklich ewig darauf warten, dass er mir etwas verzeiht, was ich gar nicht getan habe? Es tut mir leid für ihn, wenn er mich nicht mit einem anderen zusammen sehen wollte – aber ist das denn ein Grund, sich einfach so aus dem Staub zu machen?«
Ich schnaubte frustriert. Meine Gedanken rasten, ich lief ruhelos hin und her, unfähig, meine geballten Fäuste zu lockern. In mir brodelte eine Wut, für die ich keine Worte fand. Wie konnte Evan mir nur so etwas antun? Ich atmete tief ein, und obwohl mein Herz sich anfühlte, als wäre es erdrosselt worden, verebbte mein Zorn nach einer Weile und machte einer widerwilligen Akzeptanz Platz.
»Na schön, dann soll er doch wegbleiben. Offensichtlich konnte er meinen Anblick nicht mehr ertragen, was kümmert es mich also, dass er nicht mehr hier ist? Jetzt muss ich wenigstens nicht mehr befürchten, dass er mich anschreit oder mir wegen irgendetwas ein schlechtes Gewissen einredet. Ist mir doch egal, wenn ich ihn nie wiedersehe.«
Es klang fast überzeugend, aber mein Herz geriet außer sich bei dem Gedanken.
»Glaubst du das wirklich?«, fragte Sara zaghaft. Ich blinzelte sie verwundert an – ich hatte ganz vergessen, dass sie noch da war. »Er hat dich nicht gehasst, Emma.«
»Das kannst du nicht wissen, Sara«, erwiderte ich barsch. »Ich hab ihn verletzt, weil ich ihm nicht genug vertraut habe, um mich ihm zu öffnen. Dann habe ich ihm etwas vorgeworfen, das er nicht getan hat. Und zu allem Überfluss hab ich dann auch noch Salz in die Wunde gestreut und direkt vor seinen Augen einen anderen Jungen geküsst. Natürlich hasst er mich, und vielleicht ist das auch ganz richtig so. Er hat es in meiner Nähe einfach nicht mehr ausgehalten. Er hasst mich, das kannst du mir glauben.«
Wortlos hörte Sara zu, wie ich mich selbst zu überzeugen versuchte. Aber es tat weh, denn nun galt meine Wut nicht mehr Evan, sondern mir selbst. Ich sah in den Spiegel über dem Waschbecken – Schmerz und Zorn flackerten in meinen Augen, während ich realisierte, dass wirklich alles meine eigene Schuld war. Jetzt hielt ich mein gebrochenes Herz in Händen, und ich hatte es selbst zertrümmert.
Voller Abscheu starrte ich auf mein Spiegelbild, biss die Zähne zusammen und ließ Wut und Verachtung in mir aufwallen. Ich allein trug die Verantwortung dafür, dass Evan weg war. Er hatte jedes Recht, mich zu hassen – genauso wie ich mich selbst in diesem Moment hasste. Mir gefror das Blut in den Adern, und ich wendete endlich den Blick von meinem anklagenden Spiegelbild ab.
Mit einer enormen Willensanstrengung drängte ich den Schmerz zurück, ließ die Schuldgefühle und den Selbsthass jedoch weiter in mir gären – als Mahnung und als gerechte Strafe. Dann atmete ich noch einmal tief durch und wandte mich Sara zu. Sie musterte mich noch immer schweigend und voller Sorge. Inzwischen war ich so erschöpft, dass ich nichts mehr fühlen konnte.
»Ich hab ihn weggestoßen, deshalb ist er gegangen«, erklärte ich ihr leise und kapitulierte endgültig vor der grausigen Wahrheit. »Es ist allein meine Schuld – und jetzt ist er für immer fort.« Ich zuckte die Achseln, Sara sah mich traurig an.
»Keine Sorge, mir geht es gut«, versicherte ich ihr.
»Nein, überhaupt nicht«, widersprach sie kopfschüttelnd. Einen Moment herrschte Stille, dann fügte sie hinzu: »Ich glaube, die Schulstunde ist inzwischen fast vorbei. Schaffst du es zum nächsten Kurs?«
»Klar«, antwortete ich teilnahmslos. »Warum nicht?«
Zusammen gingen wir zurück zu unseren Spinden. Meiner stand offen, die Bücher achtlos ins untere Fach geworfen. Ich nahm mir, was ich brauchte, und im selben Moment klingelte es schon zum Unterricht.
»Treffen wir uns vor dem Lunch wieder hier?«, fragte Sara, offensichtlich immer noch besorgt. Ich nickte.
Als Sara weg war, blieb ich einen Moment vor meinem Spind stehen. Ich wusste, was mich erwartete, und sosehr ich mir auch einzureden versuchte, dass ich dagegen gewappnet war, ich wusste es besser. Lähmende Angst erdrückte mich, während ich mich zum Anatomiekurs schleppte.
Ich ließ mich auf meinen gewohnten Platz an dem schwarzen Tisch sinken, aber ich konnte mich nicht auf den Unterricht konzentrieren. Immer wieder wanderte mein Blick zu dem leeren Stuhl neben mir, und ich wurde jedes Mal von neuem mit der niederschmetternden Erkenntnis konfrontiert, dass Evan nicht mehr da war.
Am Ende der Stunde nervte mich mein Kummer nur noch. Ich hatte gar kein Recht, traurig zu sein, schließlich trug ich selbst die Verantwortung für Evans Verschwinden. Aber ob ich mich nun mit Schuld überhäufte oder versuchte, alles zu verdrängen – Tatsache blieb, dass ich innerlich zerbrochen war.
»Hast du noch Schmerzen?«, erkundigte sich Drew, als er sich in der Mittagspause zu Sara und mir setzte.
Ich hatte vergessen, dass er sich uns anschließen wollte, bis er sich den Stuhl neben mir zurechtrückte. Sofort meldeten sich neue Schuldgefühle, weil mich Evans Verschwinden so abgelenkt hatte. Anscheinend gelang es mir nicht sonderlich gut, meinen Kummer zu verstecken.
»Nein, alles okay«, beteuerte ich mit einem aufgesetzten Lächeln. »Es ist nur seltsam, von allen angeglotzt zu werden – weiter nichts.«
Das war nicht wirklich eine Lüge, auch wenn es nicht der wahre Grund für meinen bedrückten Gesichtsausdruck war. Seit ich am Morgen in die Schule gekommen war, starrten alle mich an. Mit ein paar neugierigen Blicken und ein bisschen Getuschel hatte ich durchaus gerechnet – schließlich hatte ich von Sara ja gehört, was nach meinem Zusammenbruch beim Basketballspiel los gewesen war. Aber dass sie sich aufführten, als wäre ich von den Toten auferstanden – das war mehr als verstörend.
Auch Drew war unverkennbar erleichtert gewesen, als wir uns am Morgen auf dem Parkplatz gesehen hatten. Ich hatte nach Evans Auto Ausschau gehalten und ihn erst gar nicht bemerkt. Aber er kam mit einem breiten Grinsen auf mich zu und begrüßte mich so herzlich, dass ich nicht anders konnte, als darauf zu reagieren. Er drückte mich an sich, und nach kurzem Zögern erwiderte ich seine Umarmung. Sara beobachtete uns amüsiert, denn sie wusste genau, welchen inneren Tumult die Situation bei mir auslöste.
Daran war nicht allein Drews Umarmung schuld – denn sie fühlte sich alles andere als schlecht an –, es war eher der Gedanke, dass Evan uns sehen könnte. Nervös blickte ich mich um, sah aber nur vage bekannte Gesichter, die mich im Vorübergehen neugierig beäugten. Ich hatte mich immer noch nicht an die Vorstellung gewöhnt, dass ich Drew tatsächlich wichtig war. Vor allem aber versuchte ich mir darüber klarzuwerden, was ich für ihn empfand.
Als er sich jetzt beim Lunch zu uns setzte und so nett fragte, ob ich noch Schmerzen hatte, beschloss ich, nicht mehr an Evan zu denken.
Stattdessen beugte ich mich kurz entschlossen zu Drew hinüber und küsste ihn auf den Mund. »Es geht mir schon viel besser, danke«, murmelte ich, als ich mich von ihm löste.
Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln, und er wurde ein bisschen rot. Hinter mir bekam Sara einen Hustenanfall. Ich drehte mich kurz zu ihr um und vergewisserte mich, dass sie nicht erstickte.
»Sorry«, flüsterte sie mit hochrotem Gesicht. »Ich musste bloß eine blöde Bemerkung runterschlucken.« Ich zog die Augenbrauen hoch. Hoffentlich hatte Drew ihren sarkastischen Kommentar nicht gehört.
»Bist du bei dem Spiel am Mittwoch dabei?«, fragte er.
»Kommt ganz darauf an, wie das Training heute und morgen läuft«, antwortete ich. Er schob seinen Stuhl ein Stück näher heran und legte den Arm um meine Lehne. Ich konnte die Wärme seines Körpers spüren, aber seine Nähe löste nicht das Prickeln aus, das ich mir erhofft hatte.
»Am Freitag spiele ich auf jeden Fall«, fügte ich hinzu, lehnte mich lässig an seine Schulter und drängte mein Herz, die Nähe gefälligst zur Kenntnis zu nehmen. Aber es war zu beschäftigt damit, Trübsal zu blasen, als dass es sich in einen Taumel versetzen ließ.
»Warum kommst du nicht nach dem Spiel vorbei, und wir schauen uns einen Film an?«, fragte Drew. Dann wurde ihm wohl bewusst, dass wir nicht alleine waren, denn er wandte sich an Sara und bezog sie ein. »Oder wir hängen einfach zusammen ab.«
»Kelli Mulligans Strandhausparty ist Freitagabend«, gab Sara zu bedenken.
»Oh, ihr habt schon was vor?«, fragte Drew sichtlich enttäuscht.
Ich zuckte entschuldigend die Achseln. Mir war nicht klar gewesen, dass Sara mich schon verplant hatte. Ich musste mich überhaupt erst daran gewöhnen, dass ich über meinen Freitagabend frei verfügen konnte. Als Sara erfahren hatte, dass ich an den Wochenenden bei ihr wohnen würde, hatten sich all ihre Sorgen in Luft aufgelöst. An ihre Stelle war die freudige Erkenntnis getreten, dass wir endlich all das unternehmen konnten, was mir so lange vorenthalten geblieben war. Meine Wochenendplanung hing also ganz von ihr ab – was ich ein bisschen überwältigend fand.
»Ich habe mit Kelli zusammen Informatik. Sie hat mich heute Morgen eingeladen. Wir werden wahrscheinlich auch bei ihr übernachten«, erklärte Sara.
Das überraschte mich nun tatsächlich. Ich hatte nicht nur Pläne für den Freitagabend, meine Gastgeberin hatte auch noch eine Pyjama-Party für uns gebucht. Die Vorstellung, auf eine Party zu gehen, rief ein vertrautes Gefühl in mir wach: Panik.
»Ach ja, Kelli hat mir letzte Woche nach unserem Basketballspiel davon erzählt. Hatte ich ganz vergessen. Würde sie mich auch bei sich übernachten lassen?«, erkundigte sich Drew.
»Keine Ahnung«, antwortete Sara. Mit dieser Frage hatte sie offensichtlich nicht gerechnet, und ich konnte ihr ansehen, dass ihr die Idee ganz und gar nicht gefiel. Ich grinste.
»Magst du mitkommen?«, lud ich Drew ein, und Sara versetzte mir unter dem Tisch einen kräftigen Tritt.
»Ich kann Kelli nachher fragen, ich hab den nächsten Kurs mit ihr zusammen«, fuhr ich fort.
»Super«, rief Sara mit unüberhörbar falscher Begeisterung. Doch Drew bemerkte anscheinend nichts davon.
Als es klingelte, begleitete Drew uns zurück zum Korridor.
»Sehen wir uns vor dem Spiel?«, fragte er.
»Ja«, antwortete ich und lächelte.
Obwohl wir mitten auf dem Gang standen, umgeben von plaudernd an uns vorbeischlendernden Mitschülern, umfasste Drew meine Taille und zog mich an sich. Ich schob ihn nicht weg. Seine Lippen fühlten sich warm an, als er sie auf meinen Mund drückte. Mein Herz weigerte sich zwar immer noch, schneller zu schlagen, aber in meinem Bauch breitete sich eine nicht unangenehme Wärme aus. Mir wurde ein wenig schwindlig, und ich kam zu dem Schluss, dass ich gut ohne Herzrasen auskam. Drew zu küssen war alles andere als ereignislos.
»Bye«, flüsterte er, ehe er sich abwandte. Gedankenverloren sah ich ihm nach.
»Und?« Saras Stimme holte mich mit einem Ruck in die Gegenwart zurück. Sie starrte mich mit großen Augen an.
»Schau nicht so.«
»Was zum Teufel war das?«, fragte sie ungläubig.
»Ich weiß nicht, was du meinst. Geht nicht sowieso jeder davon aus, dass Drew und ich ein Paar sind?«
»Ich hab gerade eine Stunde mit dir in der Mädchentoilette gesessen …«
»Lass es gut sein, Sara.« Am oberen Ende der Treppe wandte ich mich ihr zu. »Das hat nichts mit ihm zu tun. Ich mag Drew einfach.«
Sara hob die Augenbrauen, als wollte sie meine Behauptung in Frage stellen.
»Im Ernst, ich mag ihn«, beharrte ich und ging unbeirrt weiter zu meinem Spind.
»Na gut, vielleicht magst du ihn wirklich«, räumte Sara ein. »Aber es fühlt sich trotzdem nicht richtig an. Egal, wie toll du Drew findest, er ist nicht …«
»Sag es nicht, Sara«, warnte ich. »Reden wir nicht mehr über ihn. Er hat sich entschieden wegzuziehen, und damit muss ich mich abfinden.«
»Einfach so?«, hakte sie nach. Ich zuckte die Achseln. »Mach keine Dummheiten, okay? Mit Küssen allein wirst du die Sache nicht klären.« Ich warf ihr einen genervten Blick zu, dann machte ich mich auf den Weg zu meinem nächsten Kurs und ließ Sara vor ihrem Spind stehen.
Mit dem Kunstkurs hatte ich weitaus mehr Probleme als mit Anatomie. Ms Mier stellte uns die Aufgabe, ein Gefühl zu malen und es so zu interpretieren, dass es sich vom Betrachter erfassen ließ. Tausend verschiedene Empfindungen durchströmten mich, aber ich hatte Angst, mich mit ihnen im Detail auseinanderzusetzen. Nervös holte ich mir eine Leinwand und überlegte, mit welchen Farben ich anfangen sollte.
»Kannst du dich nicht entscheiden?«, erkundigte sich Ms Mier. »Oder hast du Angst, dich dem Gefühl hinzugeben?« Ich warf ihr einen erstaunten Blick zu. Woher wusste sie, was in mir vorging?
»Es tut mir leid, dass du es durchleben musst«, fuhr sie fort, »aber ich glaube, du kannst etwas Wundervolles erschaffen, wenn du dich traust, es zu erkunden. Das heilt den Schmerz nicht unbedingt, aber es hilft dir vielleicht, ihn zu verarbeiten.«
Sie schwieg einen Moment, dann legte sie mir sanft eine Hand auf die Schulter und flüsterte: »Es ist in Ordnung, ihn zu vermissen.« Dann ging sie weiter.
Ich schluckte schwer und presste die Lippen aufeinander. Dann nahm ich mir verschiedene Rot- und Orangetöne, und kehrte zu meiner Staffelei zurück, um mit dem Verarbeiten zu beginnen.
Während der zwei Wochen, die ich an meinem Kunstprojekt arbeitete, ließ ich den Schmerz auf mich einwirken und bannte ihn auf die Leinwand. Bei jedem Pinselstrich achtete ich strikt darauf, mir selbst treu zu bleiben, ein kräftezehrender Prozess, aber es tat gut, die aufgestauten Gefühle herauszulassen. Mehrmals musste ich mich durch einen Tränenschleier kämpfen, während ich die Farben auftrug und meinen Kummer Schicht um Schicht dem Bild übergab. Sobald ich meine Malutensilien säuberte, drängte ich alles in die hintersten Winkel meines Inneren zurück. Bis ich wieder auf den Schulflur hinaustrat, war nichts mehr davon übrig – abgesehen von dem dumpfen Schmerz in meinem Herzen, der sich an dem Tag dort festgesetzt hatte, an dem Evan weggezogen war.
Ich machte weiter. Ich spielte wieder Basketball – nur beim ersten Spiel saß ich noch bis zur Halbzeit auf der Bank. Ich konzentrierte mich auf die Schule, was mir jetzt, da ich jederzeit ohne Druck und Spannung in mein Zimmer fliehen konnte, viel leichter fiel. Ich genoss die Aufmerksamkeit eines tollen Jungen, der mich mühelos von allem anderen ablenkte, sobald er in meiner Nähe war. Und ich hatte Zeit für Sara. Ich lebte mein Leben weiter, wie ich es mir versprochen hatte.