12 scHleChteR eiNflusS
Die nächsten zwei Wochen glitten mit derselben sorglosen Leichtigkeit dahin. Evan wurde Teil meines Alltags und akzeptierte alles, was damit einherging – er fand sogar Möglichkeiten, seinerseits etwas beizusteuern.
Eines Abends, als das Zeitungslayout schon mehrere Stunden vor der Deadline stand, führte er meine Sperrstunde um zehn und meine zahlreichen außerschulischen Aktivitäten ins Feld und überredete Sara und mich so mühelos, mit zu ihm zu kommen. Jason traf sich dort mit uns, und wir spielten Pool. Genaugenommen versuchten Sara und ich es bloß, aber Evan und Jason waren ziemlich gut. Ich lachte viel, Sara machte Scherze über ihre schlecht kalkulierten Stöße und zog mich auf, weil ich die weiße Kugel mit meinem Queue in eine unbeabsichtigte Richtung befördert hatte. Als ich deutlich vor zehn wieder nach Hause kam, hatte ich noch immer ein Lächeln auf den Lippen. Carol und George nahm ich kaum wahr, so sehr war ich damit beschäftigt, den Tag im Kopf noch einmal Revue passieren zu lassen.
Dass ich nicht erwischt wurde, machte mir Mut, und jedes Mal, wenn Evan mit einem Vorschlag für eine gemeinsame Unternehmung zu mir kam, fiel es mir leichter, darauf einzugehen. Ich hätte daran denken sollen, dass ich nicht gerade der größte Glückspilz der Welt war, aber der Kick, ungestraft davonzukommen, machte mich regelrecht süchtig.
An einem dieser Abende sah Sara zu, wie Evan mir auf dem Parkplatz der Highschool das Fahren beibrachte, und hielt sich den Bauch vor Lachen. Es war schon relativ spät, die Schule verlassen, und der von Bäumen gesäumte Parkplatz war von der Hauptstraße schlecht einsehbar. Vermutlich hätte ich an ihrer Stelle auch gelacht, das Auto ruckte und bockte, und ich schimpfte frustriert. Evan war geduldig, aber entschlossen, und nach einer Weile, die sich anfühlte wie eine quälende Ewigkeit, war ich endlich in der Lage, reibungslos vom ersten in den zweiten Gang zu schalten. Evan versuchte mich zu überreden, auf die Straße zu fahren und mich dort ans Schalten zu gewöhnen, aber ich weigerte mich.
An diesem Sonntag traf ich mich auch wieder in der Bibliothek mit ihm. Um früher aufbrechen und mehr Zeit mit Evan verbringen zu können, erzählte ich meiner Tante und meinem Onkel, ich müsste an einem sehr umfangreichen Geschichtsprojekt arbeiten. Am Freitag hatte Evan mich bei Schulschluss ermahnt, warme Sachen anzuziehen, und als wir ein Stück westlich von Weslyn in den State Park einbogen, war ich froh, dass ich seinem Rat gefolgt war.
Evan führte mich auf einem blätterbedeckten Weg durch den Wald, und die kühle frische Luft wehte uns um die Nase. Sobald mein Kreislauf in Schwung gekommen war, wurden die warmen Kleidungsschichten unnötig. Es war ziemlich anstrengend, über das teils unwegsame Gelände tiefer in den Wald vorzudringen. Ich zog die Handschuhe aus und band mir die Windjacke um den Bauch, nur meine Fleecejacke ließ ich an.
Wir redeten nicht viel, aber das Schweigen war angenehm. Ich war froh, endlich einmal raus aus Weslyn zu sein, und war hingerissen von der ruhigen Landschaft mit den zwitschernden Vögeln und der leichten Brise, die die Blätter leise zum Rascheln brachte. Während ich Evans dunkelblauem Rucksack folgte, nahm ich die farbenfrohe Wildnis in mir auf und wehrte mich nicht gegen das Lächeln auf meinem Gesicht.
Am Fuß einer großen Felsformation, die aussah, als wäre ein Gesteinsbrocken in den Hang eingeschlagen, blieb Evan stehen. Der Felsen hatte eine glatte, nur von leichten Dellen gezeichnete Oberfläche. Die Wand war mindestens dreißig Meter hoch. »Bist du bereit?«, fragte er und blickte nach oben. Auch ich machte halt, folgte seinem Blick und musterte den Felsen argwöhnisch.
»Bereit wofür?«, fragte ich vorsichtig.
»Wir werden uns von dieser Felswand abseilen«, antwortete er und grinste mich an. »Ist eigentlich gar nicht so hoch, keine Sorge.«
»Was werden wir tun?!«
»Es wird dir gefallen, das verspreche ich dir.« Meine Reaktion brachte sein Grinsen nicht zum Verschwinden, im Gegenteil, es wurde nur noch breiter. »Ich war gestern hier und habe mir alles gründlich angesehen. Links herum geht ein Weg, der nach oben führt.«
Als er merkte, dass ich mich nicht mehr von der Stelle rühren konnte, fügte er hinzu: »Du vertraust mir doch, oder?«
Kopfschüttelnd sah ich ihn an. »Nein, jetzt nicht mehr.«
Er lachte. »Ach, komm.« Und schon war er auf dem Pfad, der um den riesigen Felsbrocken herumführte. Zu meinem Entsetzen folgten ihm meine Beine.
Als ich von oben auf den Boden hinunterschaute, schien mir die Entfernung plötzlich doppelt so groß. Mein Magen rebellierte, aber statt in Panik auszubrechen, ergriff mich unerwarteterweise ein Adrenalinschub.
Auf in den Tod, dachte ich und stellte mich neben Evan auf die flache Felsoberkante. Er legte bereits seine Gerätschaften aus.
»Bist du jetzt bereit?«, fragte er grinsend.
Ich sog die Luft in meine Lungen und stieß sie mit gespitzten Lippen langsam wieder aus. »Doch, klar.«
Ehe ich es mir anders überlegen konnte, ließ Evan mich mit den Beinen in die Schlaufen des Geschirrs steigen und zog den Gurt fest. Dann begann er, mir das Seilsystem zu erklären, wo ich meine Hände platzieren und wie ich beim Abstieg mit dem Seil nachgeben sollte. Ich hörte aufmerksam zu, denn ich wusste, wenn ich nicht aufpasste, würde ich mir nie wieder etwas anhören können – auch wenn Evan versprach, dass er mich die ganze Zeit im Auge behalten würde und ich nichts zu befürchten hatte. Es war ja leicht für ihn, so etwas zu behaupten.
Als er das Seil an einem kräftigen Baum gesichert und den Anseilknoten festgeklemmt hatte, ging Evan zurück zum Fuß des Felsens, wo er das abgelassene Seil festhielt, um sicherzustellen, dass ich nicht abstürzte – oder vielleicht auch, um den besten Blick auf meinen tödlichen Absturz zu haben. Behutsam bewegte ich mich rückwärts auf den Rand der Klippe zu. Der erste Schritt war der schwierigste, vor allem, weil man sich zurücklehnen musste, sich der Schwerkraft widersetzte. Aber das Adrenalin schob mich über den Rand, und dann hing ich an der Felswand und starrte durch die Baumwipfel direkt nach oben in den Himmel. Ich bewegte mich nicht und kämpfte gegen den Impuls, mich aufzurichten.
Unten korrigierte Evan brüllend meinen Winkel und die Position meiner Füße. Vorsichtig gab ich mit der rechten Hand ein Stück Seil nach, und meine Füße krochen langsam nach unten. Nachdem ich mich ein bisschen an das Nachgeben und Haltsuchen gewöhnt hatte, entwickelten sich meine ruckenden Schritte zu kleinen Hüpfern, bis meine Füße schließlich wieder sicher auf dem Boden landeten. Das Ganze dauerte längst nicht so lange, wie ich gedacht hatte, aber ich war trotzdem hocherfreut, wieder allein stehen zu können – aufrecht.
»Na, was sagst du jetzt?«, fragte Evan grinsend.
»Es hat mir gefallen«, gab ich zu und grinste zurück.
»Das wusste ich.« Ich verdrehte die Augen, während er das Seil von meinem Geschirr hakte.
Wir seilten uns noch ein paarmal ab, und mit jedem Versuch wurde ich sicherer. Bei seinem letzten Abstieg beschloss Evan, es mit dem Gesicht nach unten zu versuchen, was schwer mitanzusehen war. Das Tempo, mit dem er den Felsen hinunterrannte, verschlug mir den Atem.
»Angeber«, murmelte ich, als er mühelos auf der dicken Laubschicht landete.
»Keine Sorge, wenn du dich daran gewöhnt hast, suchst du dir auch den nächsten Nervenkitzel.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich jemals das machen möchte, was du da gerade gemacht hast.«
»Ich glaube, ich habe die perfekte Stelle zum Autofahrenüben gefunden«, erklärte Evan auf dem Rückweg. »Ich kenne eine Straße, die so gut wie unbefahren ist. Die können wir Dienstag nach der Arbeit an der Zeitung mal ausprobieren.«
»Meinst du wirklich, ich sollte ausgerechnet in der Dunkelheit das erste Mal auf der Straße fahren?«
»Da hast du allerdings recht«, stimmte er zu. »Vielleicht wäre es im Hellen, nach dem Fußballtraining, besser. Anschließend fahren wir dann zurück in die Schule, und du kannst an der Zeitung arbeiten.«
»Schauen wir mal«, erwiderte ich unverbindlich.
»Meinst du, du kannst Freitagabend beim Homecoming-Spiel dabei sein?«
»Nein«, antwortete ich, ohne zweimal darüber nachzudenken.
»Also auch kein Ball am Samstagabend, was?«
Ich antwortete mit einem Lachen.
»Gehst du zum Homecoming-Ball?«, fragte ich, obwohl ich nicht sicher war, warum ich das wissen wollte.
»Wahrscheinlich nicht.«
»Warum nicht?«, hakte ich nach, erfüllt von einem seltsamen Gefühl der Erleichterung. »Du willst mir doch nicht erzählen, dass du niemanden findest, der mit dir hingeht.«
»Emma, du und ich gehen miteinander, erinnerst du dich?«, neckte er mich, und wieder breitete sich dieses Grinsen auf seinem Gesicht aus.
»Ach, sei bloß still«, fauchte ich. »Du behauptest doch nicht etwa, dass die anderen das immer noch denken? Hast du denen nicht gesagt, dass es nicht stimmt?«
»Ich hab überhaupt nichts gesagt, weder in die eine noch in die andere Richtung.«
»Das ist doch bescheuert.« Ich blieb stehen und sah ihn an. »Warum willst du, dass alle etwas glauben, was gar nicht stimmt?«
»Warum sollte mich das kümmern?«
»Damit du ein Mädchen, das dich interessiert, fragen kannst, ob sie mit dir zum Ball geht«, antwortete ich. So viel Desinteresse hatte ich nicht erwartet.
»Hab ich doch gerade.«
»Nein, du hast mich gerade nicht gefragt, ob ich mit dir zum Ball gehe.« Trotzig verschränkte ich die Arme vor der Brust. Er schmunzelte und zuckte die Achseln. Ich drehte mich weg und ging weiter den Pfad entlang.
»Was ist denn mit Haley passiert?«, fragte ich nach einer Weile, den Fokus verschiebend. »Sie ist doch eine der Kandidatinnen für die Homecoming Queen.«
»Ernsthaft?«, erwiderte er spöttisch. »Hast du schon mal versucht, ein Gespräch mit ihr zu führen?«
»Ich glaube, sie kennt nicht mal meinen Namen.«
»Ich glaube, inzwischen kennt sie den sehr wohl«, gab er zurück. »Jetzt, da wir miteinander gehen, weißt du.«
»Evan! Hör gefälligst auf damit«, schnaubte ich. Er lachte.
»Ehrlich gesagt«, räumte er ein, »ich bin noch nicht so lange hier, und der Ball reizt mich nicht sonderlich. Weil ich auf niemand sonst besonders stehe.« Mein Herz stotterte, aber mein Verstand winkte ab, ehe ich zu viel darüber nachdenken konnte.
»Gibt es denn nicht vielleicht die Möglichkeit, dass du am Samstag nach deinem Spiel bei Sara übernachten kannst? Dann könnten wir zusammen rumhängen und uns vielleicht einen Film anschauen oder so.«
»Das ist sehr unwahrscheinlich. Meine Tante arbeitet für die Schule, drüben im Verwaltungsgebäude. Deshalb weiß sie, dass an dem Abend der Homecoming-Ball stattfindet. Sie wird mir niemals glauben, dass Sara den Ball ausfallen lässt, um mit mir rumzuhängen.«
»Warum mag sie dich eigentlich nicht?«
Ein unangenehmer Krampf fuhr mir durch die Brust, als mir klarwurde, dass ich zu viel gesagt hatte. Offensichtlich schwieg ich zu lange, denn Evan fügte hinzu: »Sorry. Ich versteh das einfach nicht, aber du musst es mir natürlich nicht erklären.« Den Rest des Wegs legten wir schweigend zurück. Ich versuchte, mich wieder zu sammeln.
Sollte ich ihm etwa sagen: Nein, Evan, es ist nicht so, dass sie mich »nicht mag«, sie hasst mich zutiefst. Das gibt sie mir bei jeder Gelegenheit zu verstehen, denn ich habe mich in ihr Leben gedrängt, und sie möchte mich loswerden. Aber da ihr Mann der Bruder meines Vaters ist, geht das nicht, und sie sieht es als ihre persönliche Mission an, mir jede Sekunde meines Lebens zur Hölle zu machen.
Ich wusste, dass mir diese Worte niemals über die Lippen kommen würden. Deshalb lehnte ich mich ans Auto, während Evan die Rucksäcke im Kofferraum verstaute, und platzte heraus: »Es war für sie nicht einfach, von jetzt auf gleich die Mutter einer Zwölfjährigen zu werden. Ich bin sicher, sie ist nur überfürsorglich und will um jeden Preis verhindern, dass ich in Schwierigkeiten gerate.«
Einen kurzen Moment dachte Evan nach, dann fragte er herausfordernd: »Kennt sie dich denn überhaupt? Ich meine, du bist wirklich nicht der Typ Mensch, der sich mit den falschen Leuten umgibt, du bist eine perfekte Schülerin, eine talentierte Sportlerin und die verantwortungsbewussteste Person, die ich jemals kennengelernt habe.« Er klang beinahe wütend.
Ich drehte mich um und sah ihn an, verwirrt, dass er so heftig reagierte.
»Ich verstehe nicht, warum sie nicht sehen, wer du wirklich bist, und dir nicht erlauben, wenigstens ein bisschen zu leben. Du weißt schon – Footballspiele, Bälle, vielleicht sogar ein Date.« Während er seine Gedanken formulierte, wurde seine Stimme immer lauter und aufgeregter.
»Nein, du verstehst das nicht«, wiedersprach ich leise, aber fest. Seine Reaktion beunruhigte mich. Ihm sollte es doch egal sein, ob meine Tante und mein Onkel wussten, wer ich war. Er sollte einfach nur meine Erklärungen akzeptieren, und damit basta. »Ich glaube, ich muss jetzt zurück zur Bibliothek.« Damit drehte ich mich um und stieg ins Auto. Er starrte mich ratlos an.
Schweigend ließ er sich auf den Fahrersitz gleiten, zögerte aber, ehe er den Motor anließ.
»Es tut mir leid, Emma.« Ich sah aus dem Fenster, denn ich war nicht bereit, ihm ins Gesicht zu schauen. »Du hast recht, ich verstehe es wirklich nicht. Wenn es mich nichts angeht, dann verspreche ich dir, dass ich es nicht noch mal anspreche. Ich wollte dich nicht verärgern.« Seine Stimme klang ruhig und fast flehend, und selbst durch meine Abwehrhaltung hindurch hörte ich, dass er es ehrlich meinte.
»Es geht dich wirklich nichts an«, bestätigte ich leise, immer noch, ohne ihn anzusehen. Jetzt ließ er das Auto an, und ohne ein weiteres Wort fuhren wir los. »Und ich bin nicht wütend auf dich.« Ich blickte mit einem kleinen Lächeln zu ihm hinüber, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen, und er lächelte zurück. Sofort bekam ich rote Backen.
»Könnten du und Sara am Mittwoch eventuell auf das Spiel der Junior-Mannschaft verzichten, und wir holen uns stattdessen Pizza oder so?«
Anscheinend hatte er nicht vor, sich von dem Versuch abbringen zu lassen, meinen Freiraum zu erweitern. »Ich glaube schon.«
Danach machten wir weiter, als hätte das Gespräch vorhin nie stattgefunden. Er redete nicht über meine fehlende Freiheit, und ich stieß ihn nicht weg. Am Dienstag gab er mir die Fahrstunde, am Mittwoch holten wir mit Sara und Jason Pizza. Meine Welt drehte sich trotz Evans hartnäckiger Versuche, einen schlechten Einfluss auf mich auszuüben, in einer ziemlich berechenbaren Richtung weiter. Wunderbarerweise konnte ich Carol immer noch größtenteils aus dem Weg gehen. Und jeden Tag fiel es mir leichter zu lächeln.
Als Krönung des Ganzen war unsere Fußballmannschaft als Liga-Champion gesetzt. Wir hatten noch ein reguläres Saisonspiel vor der Landesmeisterschaft. Peña, unser Trainer, hatte meine Spiele aufgenommen, um die Höhepunkte an die College-Anwerber zu schicken. Mir war nicht klar gewesen, dass er mich gefilmt hatte, aber jetzt, da ich wusste, es waren noch weitere Unis an mir interessiert, glaubte ich daran, dass eine Flucht tatsächlich möglich war. Er hatte mich sogar darüber informiert, dass bei der ersten Meisterschaftsrunde noch mehr Scouts anwesend sein würden. Zum ersten Mal fühlte sich mein Leben lebenswert an.