4 veRänDeruNg
Sara schwieg, als wir von der Schule wegfuhren. Ich wusste, dass sie nachdachte, und hoffte, ihre Grübelei hatte nichts mit mir zu tun.
Aber natürlich hatte sie etwas mit mir zu tun.
»Es gibt eine Möglichkeit.«
Ich seufzte, denn ich hatte Angst, diesen Gedanken weiterzuverfolgen.
»Du musst dich nicht von allen anderen abschotten, um die Highschool zu überstehen«, fuhr sie fort. »Wir müssen die Fragen vorausahnen und die Antworten parat haben. Es gibt so viele Jungs, die gern mit dir ausgehen würden, aber keine Ahnung haben, wie sie auf dich zugehen sollen. Em, wir kriegen das hin.«
»Das ist doch Unsinn, Sara. Vom Offensichtlichen mal abgesehen – ich kann nicht ausgehen.«
»Was ist das Offensichtliche?«
»Sei ehrlich – wen kennst du, der Interesse an mir hat? Konkret.«
»Evan hat dir schon gesagt, dass er dich interessant findet«, antwortete sie. »Fangen wir mit ihm an.«
»Nein, bloß nicht«, ächzte ich.
»Oh! Hast du gehört, dass Haley Spencer ihn gefragt hat, ob er mit ihr zum Homecoming-Ball geht?«, rief sie.
»Natürlich nicht. Du bist meine einzige Tratschquelle, erinnerst du dich?« In meiner Brust geriet etwas in Schieflage. »Ist der Homecoming-Ball nicht erst in einem Monat? Und Haley ist in der Zwölf – was soll das?«
Sara betrachtete mich mit zusammengekniffenen Augen. »Das ist keine ernstgemeinte Frage, oder? Jedenfalls sind es nur noch drei Wochen, und ich habe gehört, dass er ihr einen Korb gegeben hat. Du weißt doch inzwischen, dass auch die Mädels aus der Zwölf ihn im Auge haben. Aber er steht auf dich, Emma.«
»Sara, lass uns das bitte ins rechte Licht rücken«, korrigierte ich sie. »Ich amüsiere ihn. Er findet mich interessant. Er hat mich nicht gefragt, ob ich mit ihm ausgehe. Wahrscheinlich hält er mich für einen Freak oder so.«
»Na, das bist du ja auch«, entgegnete Sara mit einem frechen Grinsen. »Wer sonst könnte mit dem personifizierten Bösen unter einem Dach leben und dabei einen A-Durchschnitt aufrechterhalten, in drei Schulteams mitspielen, in ungefähr jedem Club mitmachen und obendrein noch von vier Colleges gescoutet werden? Das schafft doch eigentlich nur ein Freak.«
Ehe ich antworten konnte, fuhr sie fort: »Okay, sagen wir einfach mal, wir kennen seine Motive nicht. Er weiß bereits, dass du eine Einzelgängerin bist. Klingt, als hättest du ihm das unmissverständlich klargemacht. Warum kannst du ihm nicht den Gefallen tun und einfach mit ihm reden? Entweder ist er ehrlich an dir interessiert und fragt dich irgendwann, ob du mit ihm ausgehst – und was du dann machst, sehen wir, wenn es so weit ist –, oder ihr freundet euch einfach nur an, was auch nicht schlecht ist. Du hast also nichts zu verlieren. Schlimmstenfalls lässt sein Interesse nach, und dann ist alles wieder so wie vorher.«
Sara konnte sehr überzeugend sein. Außerdem, dachte ich, wenn ich mit Evan redete, konnte ich ihn dazu bringen, mich in Ruhe zu lassen, vor allem, wenn ihm klarwurde, dass es nicht viel zu entdecken gab – was eigentlich das Beste war, was passieren konnte, nicht das Schlimmste.
»Na gut, ich rede mit ihm. Was soll ich ihm erzählen? Auf gar keinen Fall will ich lügen.« Ich ging davon aus, dass Sara sich bereits etwas ausgedacht hatte – vorhin, als sie so schweigsam gewesen war.
»Nein, keine Lügen, jedenfalls nicht im engeren Sinn. Du lässt einfach das meiste weg, es handelt sich also höchstens um Verschweigen«, erklärte sie selbstgefällig und bestätigte meinen Verdacht. »Du sagst ihm, dass du von deiner Tante und deinem Onkel adoptiert worden bist, nachdem dein Vater gestorben und deine Mutter krank geworden ist. Das ist ziemlich akkurat. Über Leyla und Jack kannst du ihm alles erzählen, was du willst, das hat ja auf nichts einen Einfluss. Du erklärst, dass deine Tante und dein Onkel mit Arbeit und Kindern total eingespannt sind, das reicht hoffentlich als Begründung, warum sie nicht zu deinen Spielen kommen. Vermutlich wird er aber wissen wollen, warum ich deine einzige Freundin bin und warum du mit niemandem reden magst.«
»Das hat er mich schon gefragt«, gestand ich. »Aber ich hab ihm nicht geantwortet.«
»Na ja, sag ihm doch einfach, dass du und ich uns gleich zu Anfang, als du hergekommen bist, angefreundet haben. Das ist die Wahrheit.« Einen Augenblick zögerte sie, um über den zweiten Teil der Frage nachzudenken. »Sag, dass du die Erste in deiner Familie bist, die aufs College geht – was eigentlich auch stimmt –, und dass du eine Menge Druck hast, ein Stipendium zu kriegen.«
»Nicht schlecht. Aber warum hab ich außer dir keine Freunde?«, hakte ich nach.
»Wie wäre es damit: Deine Tante und dein Onkel sind überfürsorglich und haben keine Ahnung, wie man mit einem Teenager umgeht, deshalb sind sie oft unnötig streng. Dann kannst du zugeben, dass du nicht oft ausgehen darfst, weil du viel zu tun hast mit schulischen Aktivitäten und Sport und weil du immer früh zu Hause sein musst. Das müsste doch funktionieren. Außerdem sind die Themen abgehakt, wenn ihr euch einmal unterhalten habt, danach kannst du über andere Sachen reden. Du weißt schon, Musik, Sport, College – da spricht in den meisten Fällen nichts gegen die reine Wahrheit. Mit der Popkultur hapert es vielleicht ein bisschen bei dir, aber ich kann dir ein paar Zeitschriften geben, damit du dich auf dem Schulweg auf den neuesten Stand bringen kannst, wenn du willst.«
Ich lachte. »Warum ist die Geschichte für dich eigentlich so wichtig?«
»Ich weiß nicht.« Sie hielt inne und überlegte. »Die letzten zwei Tage hattest du so einen Glanz in deinen Augen, den ich noch nie an dir gesehen habe. Sicher, es ist hauptsächlich Wut und Frust, aber trotzdem ein Gefühl. Sonst hältst du immer alles dermaßen unter dem Deckel, dass ich manchmal Angst habe, du könntest eines Tages explodieren.
So wie dieser Typ hat dich noch nie jemand aus der Fassung gebracht, seit ich dich kenne. Du bist anders, und das gefällt mir. Natürlich gefällt es mir nicht, dass du so aufgewühlt bist, aber es gefällt mir, wenn du überhaupt etwas fühlst. Ich weiß, dass du bei mir nicht ganz so zurückhaltend und verschlossen bist wie bei den anderen, aber an die wirklich schlimmen Sachen lässt du mich auch nicht ran. Du wirst nie wütend, du zeigst niemals Angst, du sagst mir auch nicht, wenn du verletzt bist. So möchtest du von mir nicht gesehen werden, aber ich weiß, dass diese Gefühle tief in dir vergraben liegen – vor allem, wenn ich daran denke, was Carol dir antut.
In den letzten zwei Tagen warst du wütend, frustriert und gedemütigt, und ich bin tatsächlich erleichtert, weil du nicht zusammengeklappt bist und dich auch nicht in eine Massenmörderin verwandelt hast. Wenn es also notwendig ist, dass dieser Kerl dich auf die Palme bringt, damit du ein bisschen was von deinen Gefühlen rauslässt, dann möchte ich, dass du weiter mit ihm sprichst. Klingt das verrückt?«
»Ja, das kann man wohl sagen«, antwortete ich. Sie verzog das Gesicht, nicht erfreut über meine Offenheit. »Aber ich verstehe trotzdem, was du meinst.«
Inzwischen hatten wir ihre Auffahrt erreicht. Sie stellte den Motor ab und wandte sich mir erwartungsvoll zu.
»Was, wenn ich ihn mag?«, erwiderte ich langsam. »Das wäre grässlich. Du bist die Einzige, die meine Geheimnisse kennt, und ich kann nicht riskieren, dass irgendjemand anderes sie erfährt. Nicht, solange ich noch bei meiner Tante und meinem Onkel leben muss. Das ist zu kompliziert.« Ich holte tief Luft, ehe ich fortfuhr: »Aber ich werde trotzdem versuchen, mit ihm zu reden.« Sara lächelte zustimmend.
»Außerdem wird er mich wahrscheinlich weiterhin enttäuschen, und am Ende werde ich ihn womöglich erwürgen. Wenn ich ihn ermorde, bist du meine Komplizin, weil du mich ermutigt hast, mit ihm zu reden.«
»Versprichst du, mir alles zu erzählen?«, fragte Sara mit leuchtenden Augen.
»Na klar!«, antwortete ich und verdrehte die Augen. »Wenn ich es dir nicht erzähle, ist es, als wäre es nie passiert. Außerdem, wer würde mir helfen, seine Leiche zu verscharren, wenn ich ihn erschlage, weil er mich von oben herab behandelt?«
Sie lachte und umarmte mich wieder. Als sie spürte, wie ich mich anspannte, zog sie sich sofort zurück. »Sorry.«
Ich folgte ihr in das riesige Haus, das wesentlich neuer war als die historischen Kolonialbauten und viktorianischen Gebäude im Zentrum. Früher war das Viertel Ackerland gewesen, inzwischen standen auf den großen Grundstücken schicke Vorzeigevillen.
Als wir die Treppe hinaufgingen, merkte ich, dass ich mich immer noch nicht ganz an das luxuriöse Ambiente gewöhnt hatte. Sara war ein Einzelkind und hatte demzufolge in dem dreistöckigen Haus eine Menge Platz – genaugenommen bewohnte sie das gesamte obere Stockwerk allein. Das Bad mit den Doppelwaschbecken aus Granit, der Jacuzzi-Wanne und der separaten Dusche war größer als mein Schlafzimmer. Vom Treppenabsatz gelangte man rechter Hand in einen Freizeitraum mit Kathedralendecke und weißen Wänden, die von umlaufenden grellrosa Rennstreifen und schwarzen Elektrogitarren akzentuiert wurden.
Eine plüschige weiße Couch und ein dazu passender Fernsehsessel standen vor dem gigantischen Flachbildschirm an der gegenüberliegenden Wand; das Heimkinosystem war außerdem mit mehreren Spielkonsolen verbunden.
Hinter der Couch gab es einen Lesebereich mit eingebauten, bis zur Decke reichenden Bücherregalen, an denen eine verschiebbare Leiter angebracht war. Vor den Regalen lagen überdimensionale Kissen auf dem Boden – der perfekte Ort, um sich gemütlich in die Lektüre zu vertiefen. In der Ecke gegenüber der Bibliothek gab es Airhockey- und Kickertische.
Sara berührte den Bildschirm in der Dockingstation, die in eine der Wände eingelassen war, und wählte eine Indie-Künstlerin. Die Frau begann über ihre Erwartungen an einen Mann zu singen. Rhythmische Gitarrenklänge erfüllten das gesamte Stockwerk, denn in die Decke waren mehrere Lautsprecher eingebaut. Ich folgte Sara in ihr Schlafzimmer auf der anderen Seite der Treppe.
»Bist du bereit, verwöhnt zu werden?«, fragte Sara und hüpfte auf eines ihrer beiden mit pink- und orangefarbenen Kissen geschmückten Doppelbetten.
»Na klar«, antwortete ich und ging zögernd an ihrem Arbeitszimmer vorbei, dessen Wände mit Fotos von Freunden, Plattencovern und Promibildern zugepflastert waren. Das Zimmer war zwar klein, bot aber immer noch genügend Platz für eine ausladende schwarze Vinylcouch. Ich setzte mich auf das zweite Bett.
»Ich hab den perfekten Pulli für dich, und er passt super zu meiner besten Jeans«, verkündete sie, hüpfte auf der anderen Seite von ihrem Bett wieder hinunter und betrat den begehbaren Wandschrank.
Der Raum – eindeutig ein »Raum« und kein »Wandschrank« – war so groß wie mein Schlafzimmer, mit Regalen und Stangen voller gefalteter oder aufgehängter Klamotten. Am Ende des Zimmers standen Schuhe in allen Formen und Farben.
»Sara, du bist eins fünfundsiebzig groß – ich passe garantiert nicht in deine Jeans«, argumentierte ich.
»Du bist doch gar nicht so viel kleiner als ich«, konterte sie.
»Du bist mindestens sieben oder acht Zentimeter größer. Außerdem hab ich eine Jeans mitgebracht.«
Sie hielt inne, betrachtete meine Hose und überlegte, ob sie akzeptabel war.
»Okay. Du kannst hier oben duschen, ich geh ins Bad von meinen Eltern«, ordnete sie dann an und reichte mir ein weißes, tief ausgeschnittenes Shirt und einen hellrosa Kaschmirpulli mit rechteckigem Ausschnitt.
»Zwei Oberteile?«, fragte ich.
»Na ja, es soll kalt werden heute Nacht, und du solltest den Pulli auf keinen Fall unter einer Jacke verstecken, also rate ich zu … Schichten«, erklärte sie schlicht.
Ich zog die Augenbrauen in die Höhe und nickte langsam. Es war offensichtlich, dass Sara die Situation genoss. Mein Mangel an Modeverstand würde sie nicht daran hindern, mit mir umzuspringen wie mit einer lebensgroßen Barbiepuppe. Ich konnte mir nicht vorstellen, was sie sonst noch auf Lager hatte – vielleicht wollte ich auch lieber nicht darüber nachdenken.
»Hör zu«, sagte sie und gab sich alle Mühe, mich in Sicherheit zu wiegen. »Ich weiß, dass du dir nicht viel aus Klamotten und so machst, aber das kommt nur daher, dass du es nicht kannst, und nicht etwa daher, dass du es nicht willst. Ich weiß, sie erlauben dir nicht, einkaufen zu gehen, also lass mich dich heute Abend mal ausstaffieren, in Ordnung?«
Natürlich wusste sie, dass ich die neuesten Trends schätzte, denn wir blätterten beim Lunch oft genug die Modemagazine durch. Aber ich durfte mir nur zweimal im Jahr etwas kaufen – zu Schuljahresbeginn und im Frühling. Also musste ich möglichst viel aus meinem halbjährlichen Budget herausholen und Sachen kaufen, die sich gut kombinieren ließen, damit sie sich nicht ganz so offensichtlich alle paar Wochen wiederholten. Aus diesem Grund war es für mich praktisch unmöglich, in den trendigen Geschäften der großen Shopping-Malls oder in den Boutiquen zu shoppen, wie die meisten meiner Mitschüler. Stattdessen musste ich auf die Discounter im Einkaufszentrum ausweichen. Aber ich ließ nicht zu, dass es mich allzu sehr störte, denn das war es meiner Meinung nach nicht wert.
Doch für einen Abend Zugang zu Sara McKinleys Garderobe zu haben wäre wahrscheinlich der Traum eines jeden Mädchens gewesen, das konnte ich unmöglich ablehnen. Ich wusste, dass sich in Saras Ankleideraum Klamotten befanden, an denen noch das Etikett hing. Also nahm ich die beiden Oberteile, griff mir meine Tasche und machte mich auf den Weg ins Badezimmer. Sara rannte mir nach, bevor ich die Tür zugemacht hatte.
»Oh, ich hab da noch diese Lotion, die ich letzte Woche gekauft habe, die magst du bestimmt. Eigentlich wollte ich sie dir zu Weihnachten schenken, aber du solltest sie unbedingt heute Abend benutzen«, rief sie und drückte mir eine Flasche mit rosa Blumen auf dem Etikett in die Hand.
»Danke«, sagte ich, nahm die Flasche und schloss die Tür hinter mir. Es war wundervoll, eine ausgedehnte warme Dusche nehmen zu können, ohne dabei Das Klopfen an der Tür befürchten zu müssen, das mir das Ende meiner zugeteilten fünf Minuten signalisierte. Jetzt hatte ich Zeit, über die vergangenen fünf Tage nachzudenken und darüber, wie anders sich der heutige Tag anfühlte. Ich freute mich tatsächlich auf das Spiel, obwohl es garantiert heikel werden würde. Aber ich sagte mir, wenn ich das Spiel überstand, ertrug ich bestimmt auch die Party. Mit neuer Entschlossenheit stellte ich das Wasser ab – wie lange dieser optimistische Zustand anhalten würde, stand natürlich auf einem anderen Blatt.
Gespannt klappte ich den Deckel der Lotion auf und atmete den dezenten Blumenduft ein. Als ich angezogen war, öffnete ich die Tür und fand Sara auf der Treppe, ein Handtuch um die Haare gewickelt. Sie trug einen hellblauen Angorapulli, der ihr enorm gut stand. Sara hatte kein Problem damit, wenn sich Oberteile an ihren modelhaften Körper schmiegten. Ich hingegen zog und zupfte an dem rosa Pullover herum, weil er sich trotz der Schicht darunter anfühlte wie eine zweite Haut.
»Oh, der Pulli sieht ja toll aus! Du solltest öfter Sachen tragen, die dir passen, statt deine Figur immer zu verstecken.« Ich tat ihre Bemerkung mit einem Achselzucken ab, aber sie grinste nur und fragte: »Bereit für den nächsten Schritt?«
Wir wurden von ihrer Mutter unterbrochen, die uns zurief, dass die Pizza da war.
»Komm, wir essen schnell was und machen uns dann fertig«, entschied Sara und eilte auch schon die Treppe wieder hinunter.
»Ich hab gehört, du hast gestern drei Tore geschossen«, sagte Saras Mutter Anna, während sie uns Limo einschenkte. »Und Sara hat mir auch von den Scouts erzählt. Du bist bestimmt ganz aufgeregt, Emma.«
»Ja, das bin ich«, gab ich unumwunden zu. Schon Gespräche mit Gleichaltrigen machten mir Probleme – wenn ich einigermaßen vernünftig mit Erwachsenen reden sollte, konnte man mich total vergessen. Die einzigen Erwachsenen, mit denen ich regelmäßig sprach, waren meine Lehrer, mein Trainer, meine Tante und mein Onkel. Mit den Lehrern unterhielt ich mich ausschließlich über meine Aufgaben, mit dem Trainer nur über Fußball – das war also einfach. George brachte kaum ein Wort heraus – vielleicht kam er auch einfach nicht dazu bei Carols ständigem Gejammer darüber, wie schwer sie es hatte. Die Gespräche mit Carol waren natürlich einseitig und bestanden für gewöhnlich aus ihren Beschimpfungen, wie nutzlos und erbärmlich ich war. Demzufolge hatte ich wenig Übung. Zum Glück kannte Anna meine mangelnde Konversationsfähigkeit und bedrängte mich nicht.
»Herzlichen Glückwunsch!«, fügte sie hinzu. Auf dem Weg zur Treppe sagte sie noch zu Sara: »Ich gehe nach oben und zieh mich um. Dein Dad und ich essen bei den Richardsons, und wir haben die Mathews eingeladen mitzukommen, weil sie ja neu in der Stadt sind.«
»Okay, Mom«, sagte Sara. Sie hatte nur mit halbem Ohr zugehört, aber mein Herz war fast stehengeblieben, als Anna den Namen gesagt hatte.
»Deine Eltern gehen mit Evans Eltern essen?«, flüsterte ich fassungslos.
Sara zuckte die Achseln. »Meine Eltern haben das Ziel, jeden in der Stadt kennenzulernen. Sie sind Weslyns inoffizielles Empfangskomitee, weißt du. Mein Vater ist der ultimative Politiker.«
Einen Moment hielt sie inne, dann fügte sie schelmisch hinzu: »Möchtest du, dass ich für dich ein bisschen Tratsch über Evan und seine Familie rauskriege?«
»Sara!«, rief ich entsetzt. »Natürlich nicht. Ich interessiere mich echt nicht auf diese Weise für ihn, ich will nur mit ihm reden, damit er mich endlich in Ruhe lässt.«
»Schon klar«, erwiderte sie mit einem vielsagenden Lächeln. Ich gab mir Mühe, sie zu ignorieren, und biss kräftig in mein Pizzastück.
»Was machen wir als Nächstes?«, fragte ich, denn ich wollte absolut nicht mehr über Evan reden.
»Ich hab gehofft, ich darf dir die Haare schneiden«, antwortete Sara vorsichtig. Meine Haare hingen mir weit über den Rücken und waren gerade geschnitten. Da ich nicht alle acht Wochen zum Friseur gehen konnte – oder was auch immer notwendig gewesen wäre, um einen richtigen Haarschnitt zu pflegen –, trug ich sie so einfach wie möglich und stutzte nur ein paarmal im Jahr selbst die Spitzen. Normalerweise machte ich mir einen Zopf oder hielt sie mit einer Spange aus dem Gesicht.
»Was hast du denn damit vor?«
»Nichts Abgefahrenes«, beruhigte sie mich. »Nur ein bisschen abschneiden.«
»Mir ist alles recht.«
»Echt?! Warte nur, das wird toll!«, rief sie begeistert, und schon hüpfte sie vom Stuhl und zerrte mich die Treppe hinauf.
Oben zog sie die mittlere Schublade ihres Schminktischs auf, in der sie alle auf dem Markt befindlichen Arten von Lippenstift und Nagellack aufbewahrte, und holte einen Kamm und eine Profischere heraus. Dann bat sie mich, Platz zu nehmen, breitete für die Haarschnipsel ein Handtuch auf dem Boden aus und legte mir ein weiteres Handtuch um die Schultern. »Heute Abend wird dich keiner wiedererkennen.«
Das war mir gar nicht so unrecht.
Dann teilte sie mit dem Kamm ein paar Strähnen ab und steckte sie hoch. Ich spürte, wie meine Haare immer leichter wurden, und beschloss, dass es am besten war, die Augen geschlossen zu halten und Sara nicht mit Fragen aus dem Konzept zu bringen – außerdem hatte ich ein bisschen Angst, ich könnte panisch werden, wenn ich ein Haarbüschel nach dem anderen auf dem Boden landen sah. Sara sang fröhlich zur Musik aus den Deckenlautsprechern, kämmte, steckte und schnippelte. Ehe ich recht wusste, wie mir geschah, hatte sie auch schon den Föhn in die Steckdose gesteckt und stylte die übriggebliebenen Haare mit der Rundbürste.
»Lass die Augen zu«, befahl sie dann und trug mit ihren kühlen Fingern Lidschatten auf.
»Sara, ich will aber nachher nicht lächerlich aussehen«, beschwor ich sie.
»Ich nehme nur ganz wenig. Versprochen.« Pinselborsten strichen über meine Wangen. »Also, was meinst du? Mach die Augen auf, Em!«, forderte sie mich kurz danach ungeduldig auf.
Vorsichtig lugte ich durch die Wimpern, um meine Verwandlung zu betrachten. Meine dunkelbraunen Haare fielen mir weich auf die Schultern, ein gestufter Pony ließ mein herzförmiges Gesicht sanfter wirken. Ich merkte, dass ich lächelte.
»Gefällt mir«, gab ich zu. Tatsächlich hatte Sara mich nur sehr dezent geschminkt, ein leichter Schimmer auf den Augenlidern und ein Hauch Rosa auf den Wangenknochen – was in Evans Nähe garantiert nicht nötig wäre.
»Hier«, sagte Sara und drückte mir eine Tube Lipgloss und Mascara in die Hand. »Ich glaube, es ist leichter, wenn du dich darum selbst kümmerst. Ich mach mich mal schnell im Bad fertig, bin gleich wieder da.«
Während Sara ihre Haare föhnte und stylte, setzte ich mich auf eins der beiden Betten und blätterte in der neuesten Ausgabe einer Frauenzeitschrift, die voller Artikel darüber war, wie man offensiver wurde oder auf schnellstem Wege zehn Pfund verlor. Als Sara ins Zimmer zurückkam, strahlte sie förmlich – die Haare in weichen roten Locken und so dezent geschminkt, dass ihre blauen Augen und ihr roter Schmollmund wunderbar zur Geltung kamen. Ihr Anblick ernüchterte mich ein wenig hinsichtlich meines eigenen Aussehens.
»Was ist los?«, fragte sie sofort, als sie merkte, wie ich die Schultern sinken ließ.
»Bist du sicher, dass ich mitkommen soll? Ich will nicht, dass es peinlich für dich ist, wenn ich hinter dir hertrotte, während alle nur mit dir reden wollen.«
Sie warf mir einen bösen Blick zu und schleuderte ein Kissen nach mir. »Ach, sei bloß still! Natürlich will ich, dass du mitkommst. Warum sollte es anders sein als sonst? Wenn die Leute mit mir reden wollen und ich mit ihnen, mach ich das. Das hat dich noch nie gestört.«
Ich sah zu Boden und spürte, wie die Nervosität mich übermannte – was wirklich nichts mit Saras Popularität zu tun hatte. »Du hast recht. Sorry, ich werde nur grade ein bisschen paranoid.«
»Wir werden Spaß haben, das verspreche ich dir.« Saras Zähne blitzten zwischen ihren schimmernden roten Lippen, und sie ging noch einmal zurück in ihren begehbaren Wandschrank und warf mir von dort etwas zu. »Der weiße Schal passt perfekt zu deinem Pulli und hält wunderbar warm, dann vermisst du eine Jacke bestimmt nicht.«
»Danke.« Ich nahm den weichen Schal, stellte mich vor den Spiegel und schlang ihn mir um den Hals. Auch damit hatte Sara recht gehabt – ich sah völlig verändert aus.
»Das wird ein großartiger Abend«, beruhigte sie mich noch einmal, als wir in ihr Auto stiegen, um zur Schule zu fahren. Sie war so aufgeregt, dass sie ihre Energie kaum im Zaum halten konnte, und ich bemühte mich sehr, meine Angst wieder abzubauen. Ich würde es schaffen. Ich konnte gesellig sein. Okay, vielleicht ging das zu weit, aber ich würde es schaffen, nicht absolut jämmerlich zu wirken. Das klang schon etwas besser. Andererseits – wem wollte ich eigentlich etwas vormachen?