22 ErWisCht

»Runter«, befahl Sara energisch und drückte mich auf den Sitz.

»Was ist denn los?«, fragte Evan und betrachtete besorgt unsere geduckten Silhouetten.

»Dreh dich nach vorn, Evan«, zischte Sara. Er erkannte die Angst in meinem Gesicht und tat es.

Ohne sich umzudrehen, wiederholte er: »Was ist los?«

Ehe Sara eingreifen konnte, war Jared schon in die Auffahrt zu ihrem Haus eingebogen. Blitzschnell löste sie unsere Sicherheitsgurte, und wir glitten hinter den Sitzen auf den Boden.

»Scheiße«, flüsterte sie und zog ihr Handy heraus. »Jared, stell den Motor ab und hör mir genau zu. Hi, Mom. Hör mal, Jared kommt gleich zur Haustür, mach ihm bitte auf. Es soll aussehen, als wollte er dich fragen, ob wir zu Hause sind. Schüttle bitte einfach den Kopf und tu so, als würdest du ihm erklären, dass wir schon im Bett sind. Jared, bitte geh jetzt.«

Jared war perplex, aber er gehorchte.

Am Telefon sagte Anna noch etwas zu Sara. Meine Knie fest umklammernd, starrte ich sie an. Ich zitterte am ganzen Körper, mein Magen rebellierte.

»Mom, ich erklär dir alles, sobald ich heimkomme, versprochen. Lass bitte die Hintertür offen. Bye.«

Dann legte sie auf und beobachtete durch die Lücke zwischen den Sitzen den Wortwechsel an der Haustür. Ich lag auf dem Boden hinter dem Beifahrersitz und konnte nicht sehen, was passierte. Aber schon eine Minute später war Jared wieder im Auto und wartete auf weitere Instruktionen.

»Fahr zurück zur Hauptstraße«, ordnete Sara an. »Da biegst du rechts ab und dann gleich noch mal rechts. Und behalte den Jeep im Auge. Beobachte, ob er uns folgt.«

Nach einer quälenden Ewigkeit sagte er: »Nein, er steht immer noch gegenüber von deinem Haus.«

Sara stieß einen Seufzer für uns beide aus. Ich konnte nicht feststellen, ob sie auch darüber hinaus atmete.

»Erzählt ihr mir jetzt, was los ist?«, wollte Evan wissen, und seine Stimme klang immer frustrierter.

Ich brachte kein Wort heraus. Ich konnte nur Sara anstarren und den Kopf schütteln.

»Wer sitzt denn in dem Jeep?«, fragte Evan.

»Meine Tante«, flüsterte ich und fand endlich meine Stimme wieder. Es raubte mir fast die letzte Kraft, das zuzugeben. Was hatte sie hier zu suchen?

»Sind wir schon auf der anderen Straße?«, fragte Sara.

»Ja«, antwortete Jared.

Sara setzte sich wieder auf die Rückbank, aber ich konnte mich nicht von der Stelle rühren.

»Alles wird gut«, tröstete sie mich und zog mich zu sich auf den Ledersitz. Ich barg den Kopf in meinen zitternden Händen. »Sie kann uns nicht gesehen haben. Wir haben sie schon auf der Hügelkuppe entdeckt, aus ihrer Perspektive war es unmöglich, irgendwas zu erkennen.«

Evan drehte sich zu mir um. »Hättest du nicht ausgehen dürfen?«

»Ich darf nie ausgehen«, entgegnete ich, und meine Stimme zitterte. Ich konnte ihn nicht ansehen. Stattdessen lehnte ich mich an die Fensterscheibe und begann, nervös an meiner Unterlippe herumzuzupfen.

»Halte bitte bei dem blauen Haus, an dem noch gebaut wird.« Sara beugte sich über den Sitz, um es Jared zu zeigen. »Hast du vielleicht eine Taschenlampe, die ich mir leihen kann?«

»Klar, im Kofferraum liegt eine.«

Sie stiegen aus und ließen Evan und mich allein.

»Was hat sie denn vor?«

»Keine Ahnung«, flüsterte ich und schüttelte den Kopf.

»Aber es kommt alles wieder in Ordnung, ja?«, fragte er, und die Sorge in seiner Stimme war unüberhörbar.

Ehe ich antworten konnte, riss Sara meine Tür auf und zerrte mich an der Hand aus dem Auto. Evan machte ebenfalls Anstalten auszusteigen. Ich konnte mich kaum auf den Füßen halten und musste mich auf Sara stützen.

»Was passiert denn jetzt?«, fragte Evan.

»Wir müssen gehen. Ich melde mich später bei dir«, erklärte Sara über ihre Schulter hinweg und zog mich auf den Feldweg, der irgendwann mal eine Auffahrt werden sollte und der zu der Baustelle führte.

»Emma!«, rief Evan. Aber ich drehte mich nicht um, sondern ließ mich von Sara weiter in die Dunkelheit führen.

Wie im Traum wanderte ich mit Sara durch den Wald, der hinter dem unfertigen Haus begann und bis an Saras großen Garten grenzte. Die Angst raubte mir jedes Zeitgefühl, Bilder blitzten auf und verschwanden wieder. Ich erinnerte mich daran, wie wir durch die Hintertür ins Haus schlüpften, an Annas besorgtes Gesicht, daran, dass Sara mich ins Bett brachte. Ich konnte die Augen nicht schließen und starrte durch die Oberlichter blicklos in den Himmel hinauf.

Meine Gedanken drehten sich im Kreis, und ich versuchte verzweifelt zu ergründen, wie Carol uns auf die Schliche gekommen war. War sie uns den ganzen Abend gefolgt? Irgendwann zog sich die Angst so weit zurück, dass ich sie im Zaum halten konnte, und ich bemerkte, dass Sara neben mir saß und mich nervös musterte.

»Ist sie weg?«, flüsterte ich.

»Meine Mom sagt, kurz bevor wir reingekommen sind, ist sie weggefahren.«

»Glaubst du, dass sie Bescheid weiß?«

»Kann ich mir nicht vorstellen. Anscheinend hat sie gegen sieben hier angerufen und wollte dich sprechen. Mom hat ihr gesagt, wir würden uns was zu essen holen, und gefragt, ob du sie zurückrufen sollst, wenn du wieder da bist. Aber das wollte Carol nicht. Mom weiß nicht genau, wann das Auto gegenüber aufgetaucht ist, aber sie hat es erst ungefähr eine Viertelstunde, bevor ich sie angerufen habe, bemerkt.«

»Was denkt deine Mom denn jetzt?«

»Sie weiß Bescheid, Em. Sie weiß nicht alles, aber sie weiß, dass deine Tante und dein Onkel unmöglich sind. Und sie würde uns niemals verraten, das schwöre ich dir.«

Ich glaubte ihr.

»Weiß er es?«

»Er hat ein paarmal angerufen, aber er weiß nur, dass du total erschrocken bist, und er war stinksauer auf mich, weil ich ihm nicht erklären wollte, warum. Er wollte unbedingt noch mal vorbeikommen, aber ich hab ihm gesagt, das geht nicht, und da wollte er wissen, ob er dich morgen früh sehen kann. Ich hab ihn überzeugt, dass dafür nicht genügend Zeit bleibt, weil du spätestens um acht zu Hause sein musst. Sie wird dir nichts antun, oder?« Zum ersten Mal seit wir Carols Auto gesehen hatten, klang Sara ängstlich.

»Nein, ich bin sicher, sie wird mir irgendeine Lügengeschichte vorwerfen, die sie sich zusammengesponnen hat. Wahrscheinlich beschimpft sie mich eine Weile und schickt mich dann auf mein Zimmer.« Ich sah Sara an und wusste, dass ich ihr nicht sagen durfte, wie viel Angst ich tatsächlich davor hatte, nach Hause zu gehen. Ich verdrängte die Angst, um Sara zuliebe ein beruhigendes Gesicht aufsetzen zu können.

Ich stopfte mir ein Kissen in den Rücken und lehnte mich ans Kopfende des Betts.

»Ich bin richtig ausgetickt, was?« Zwar versuchte ich zu lachen, aber es klang falsch.

»Em, du warst so bleich, dass ich Angst hatte, du würdest in Ohnmacht fallen.«

»Ich dachte, sie hat uns gesehen, weiter nichts. Ich hab erwartet, dass sie mich zur Rede stellt, und ich wusste nicht, wie ich ihr unter die Augen treten soll.« Ich hoffte, dass es mir gelang, meine Reaktion im Auto herunterzuspielen.

»Meine Mom hat angeboten, mit Carol zu sprechen«, sagte Sara zögernd.

»Du weißt selbst, dass das nicht funktionieren würde«, erwiderte ich und bemühte mich, die Panik in meiner Stimme unter Kontrolle zu bekommen.

»Ja, ich weiß«, bestätigte Sara mit einem hoffnungslosen Seufzer.

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich so extrem reagiert habe«, platzte ich heraus, nachdem ich mir meine entsetzte Reaktion noch einmal vor Augen geführt hatte. »Evan fragt sich wahrscheinlich, was mit mir nicht stimmt.«

»Er macht sich bloß Sorgen«, versuchte Sara mich zu trösten. »Er mag dich kein bisschen weniger, das kannst du mir glauben.«

Ich holte tief Luft und versuchte, mein Zittern zu unterdrücken, ehe Sara etwas davon bemerkte. Das Schlimmste, was passieren könnte, wäre ein Anruf von Saras Mom. Aber das konnte ich Sara nicht sagen. Und ich durfte mir auch nicht anmerken lassen, dass ich wie gelähmt war und keine Ahnung hatte, wie ich morgen früh dieses Haus betreten sollte. Ich wusste, dass Carol keine Beweise für meinen Ungehorsam brauchte. Es genügte, dass sie mich verdächtigte.

 

Keuchend und schweißgebadet fuhr ich auf, sah mich im Zimmer um und versuchte zu begreifen, wo ich war. Schließlich erkannte ich Sara und lockerte den Griff, mit dem meine Hände die Decke umklammerten.

»Du hast dich angehört, als würdest du ersticken.«

»War bloß ein Albtraum«, erklärte ich und versuchte, mich etwas entspannter hinzusetzen. »Wie spät ist es?«

»Halb sieben«, antwortete Sara, immer noch etwas besorgt. »Möchtest du darüber reden?«

»Ich kann mich eigentlich an gar nichts mehr erinnern«, log ich. »Und du solltest lieber noch ein bisschen schlafen. Ich geh schon mal in die Dusche, okay?«

Ich hatte noch den Geruch der Erde in der Nase, und meine Lungen brannten, weil das Gewicht ihres Körpers mir die Luft zum Atmen genommen hatte. Ich schauderte und schob den Traum so gut ich konnte beiseite.

Aber Sara wollte nicht weiterschlafen. Sie saß aufrecht im Bett, eine silberne Schachtel auf dem Schoß.

»Das sollte ein Weihnachtsgeschenk sein, aber ich kann nicht noch einen ganzen Monat warten.« Ihr Gesicht war eigentlich viel zu ernst für eine Geschenkübergabe.

»Es ist nicht so aufregend, wie du vielleicht denkst, aber ich möchte, dass du es bekommst, bevor du heute heimgehst.«

Ihre Wortwahl überraschte mich. Etwas bange betrachtete ich das silberne Päckchen, das Sara mir mit einem steifen Lächeln überreichte.

»Danke.« Ich versuchte ebenfalls zu lächeln, aber ihr seltsames Verhalten beunruhigte mich zutiefst.

Langsam öffnete ich die Schachtel. Als ich das Seidenpapier entfernte, fiel mir ein silbernes Handy in die Hand. Warum war Sara dieses Geschenk so unangenehm?

»Danke, Sara. Das ist super. Hat es eine Prepaid-Karte?«, fragte ich und bemühte mich, mir meine Freude über das Geschenk auch anhören zu lassen.

»Es läuft auf den Vertrag meiner Familie. Keine Angst, es hat nichts gekostet, dich hinzuzufügen.«

»Wow, das ist ja toll. Ich weiß nicht, wie oft ich es benutzen kann, aber ich finde es großartig.« Ich war ehrlich dankbar, doch Saras gedämpfter Ton machte es mir unmöglich, meine Dankbarkeit angemessen zum Ausdruck zu bringen. Und dann begriff ich, warum sie sich so verhielt.

»Du musst versprechen, mich anzurufen, wenn du heimkommst, damit ich weiß, dass alles in Ordnung ist«, bat sie mich zögernd. »Wenn ich bis heute Abend nichts von dir gehört habe, rufe ich die Polizei.«

»Sara«, beschwor ich sie, »tu das bitte nicht. Ich verspreche dir, alles wird gutgehen.«

»Dann ruf mich an«, verlangte sie. »Ich hab die Nummern schon einprogrammiert.« Sie zeigte mir die Kurzwahl für ihr Handy und für den Festnetzanschluss im Haus. Noch zwei weitere Kontakte waren eingespeichert.

»Warum ist der Notruf drauf, Sara?«, fragte ich sie ungläubig. »Glaubst du nicht, das würde ich auch allein hinkriegen?«

»Eine Taste ist schneller als vier«, erklärte sie. Ich rief die vierte Nummer auf und sah Sara fassungslos an. Sie zuckte die Achseln.

»Ich hab den Vibrationsmodus aktiviert, damit niemand das Handy in deinem Zimmer hört. In der Schachtel ist auch ein Aufladegerät.«

»Sara, ich werde das Handy zu Hause nicht anstellen«, erklärte ich mit Nachdruck.

»Das musst du aber. Ich schwöre dir, dass ich dich nicht anrufen werde, und sonst hat niemand die Nummer. Du musst mir versprechen, dass du es anschaltest.« Ihre Bitte klang so verzweifelt, dass ich nicht widersprechen konnte.

»Okay, ich verspreche es dir.« Ich beschloss, das Telefon in der Innentasche meiner Jacke aufzubewahren, damit es nicht durch irgendeinen Zufall entdeckt werden konnte. »Komm, wir müssen los.«

Keine Ahnung, wie ich meinen Körper dazu überredete, mit meiner Tasche die Treppe hinunterzugehen. Aber als ich die Haustür aufmachte und den Jeep auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen sah, versagten meine Beine mir den Dienst.

»Oh, Emma«, flüsterte Sara erschrocken hinter mir.

»Hi, Sara«, begrüßte Carol sie ekelhaft freundlich. »Ich komme gerade von meiner Mutter und dachte, ich hole Emma unterwegs schnell ab. Danke, dass sie bei euch bleiben durfte.« Sara drückte meinen Arm, und ich spürte ihre Panik. Ich starrte die Frau vor mir an und konnte kaum atmen.

»Komm, Emily, steh da nicht rum wie ein Ölgötze.« Ich stolperte die Eingangstreppe hinunter und wagte es nicht, zu Sara zurückzuschauen, fühlte aber das Gewicht des Handys in meiner Jackentasche. Dann schloss ich die Beifahrertür, ließ mich von dem Auto verschlucken und starrte geradeaus. Mein Körper verkrampfte sich und wich so weit wie möglich vor ihr zurück, aber er war gefangen in dem beengten Raum.

Das Schweigen tat mir in den Ohren weh, während ich auf Carols Schimpftirade wartete, auf ihre Vorwürfe und Beleidigungen. Aber nichts kam. Sie brauchte ja auch gar keine Worte. Dann schoss plötzlich ihre Hand auf mich zu, mein Kopf knallte gegen das Seitenfenster, und ehe ich es verhindern konnte, entfuhr mir ein Stöhnen.

»Du hast nicht zu atmen, wenn ich es dir nicht ausdrücklich erlaube. Anscheinend ist dir entfallen, in wessen Haus du lebst. Aber jetzt hast du die Grenze überschritten, und mir reicht es endgültig. Wehe, du versuchst noch einmal, mich zu hintergehen.«

Wir waren vor dem Haus angekommen, ehe ich ihre Worte richtig begriffen hatte.

Als wir die Küche betraten, erklärte Amanda, unsere dreizehnjährige Nachbarin, dass die Kinder oben spielten, und machte sich auf den Heimweg.

Ich ging den Gang hinunter. Vor meiner Zimmertür blieb ich verblüfft stehen. Sie war geschlossen, obwohl das in meiner Abwesenheit sonst nie der Fall war – so wollte es eine von Carols absurden Regeln. Mit einem resignierten Seufzen öffnete ich die Tür, stolperte über die Schwelle – und sah mich entsetzt um.

Mein Wandschrank stand sperrangelweit offen, und die kleine Nische darin war nur noch ein leeres Loch. Überreste von den Sachen, die ich dort versteckt hatte, lagen überall verstreut auf dem Boden herum.

»Du hältst dich für so klug«, höhnte Carol. Mein Rücken wurde starr, jeder Nerv prickelte unter meiner Haut. Langsam drehte ich mich um, und als ich sie mit verschränkten Armen im Türrahmen stehen sah, wich ich unwillkürlich ein paar Schritte zurück. Meine Tasche rutschte mir von der Schulter und fiel zu Boden.

»Ich durchschaue dich, du bringst uns nicht auseinander.« Auf diesen Vorwurf konnte ich mir absolut keinen Reim machen. »Er wird sich immer für mich entscheiden. Daran wollte ich dich nur erinnern.«

»Carol?«, hörte ich in diesem Moment Georges besorgte Stimme von der Hintertür her.

»Ich bin hier!«, rief Carol, plötzlich mit traurig erschütterter Stimme, trat von der Tür weg und fiel George um den Hals. Fassungslos musste ich mitansehen, wie vor mir ein Drama seinen Lauf nahm, dessen Ende ich nicht absehen konnte.

»George, ich weiß wirklich nicht, was in sie gefahren ist«, jammerte Carol wild gestikulierend und vergrub den Kopf an seiner Schulter. George versuchte, über sie hinweg in mein Zimmer zu spähen. »Sie ist reingekommen und hat angefangen zu brüllen, dass sie keine Lust mehr habe, hier zu wohnen, weil wir sie so schlecht behandelten. Dann hat sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, und da hab ich dich angerufen. Sie hat mir und den Kindern richtig Angst eingejagt.«

Wie bitte?! Was erzählte sie denn da?

»Schließlich hab ich es geschafft, sie zu überreden, die Tür aufzumachen und … du siehst es ja selbst.« Carol entließ ihn aus ihrer Umklammerung, so dass er das Zimmer betreten konnte. Seine Sorge verwandelte sich in Wut, als er die Verheerung vor sich sah, an der ich angeblich schuld war.

Immer wieder schaute er zwischen meinen zerstörten Habseligkeiten und meinem fassungslosen Gesicht hin und her. Als sein Blick auf den zerbrochenen Rahmen und die zerknitterten Fetzen des Fotos von ihm und seinem Bruder fiel, zuckte er zusammen. Ich bemerkte es, aber ich konnte mich nicht rühren. Immer größer wurde seine Wut.

»Warum hast du das getan?«, fuhr er mich an. »Wie konntest du nur?« Mir blieb der Mund offen stehen. Traute er mir dieses Werk der Zerstörung tatsächlich zu? Aber er musterte nur weiter stumm und mit hochrotem Kopf meine zerrissenen Malereien, die Schnipsel lächelnder Gesichter, rundlicher Babyhände und kleiner Füße, achtlos auf dem Boden verteilt.

Ehe ich reagieren konnte, stand er plötzlich vor mir, packte meine Arme und begann mich zu schütteln. Mit zusammengebissenen Zähnen rang er nach Worten, verstärkte seinen Griff immer mehr, bis mir vor Schmerz die Tränen über die Wangen strömten.

»Ich war das nicht …«, stieß ich schluchzend hervor.

Aber ein plötzlicher Stich in meiner Wange unterbrach mich, und unter der Wucht des Schlags ging ich zu Boden. Instinktiv fasste ich nach der Stelle, wo seine Hand mich getroffen hatte, und senkte völlig verstört den Blick.

»Wenn du nicht die Tochter meines Bruders wärst, würde ich …«, begann er. Ich sah zu ihm empor. Sein Gesicht war puterrot, er zitterte vor Zorn. Doch hinter der Wut erkannte ich in seinen Augen eine große Traurigkeit. »Du hast Hausarrest, die ganze nächste Woche. Kein Sport, keine Zeitung, gar nichts. Ich kann einfach nicht glauben, dass du so etwas getan hast!«

Dann gewann der Kummer die Oberhand, und er murmelte im Weggehen: »Er war mein Bruder.« Verwirrt sah Carol ihm nach, vielleicht auch enttäuscht, dass seine Reaktion nicht so heftig ausgefallen war, wie von ihr beabsichtigt. Sobald er verschwunden war, sah sie mit einem verächtlichen Grinsen auf mich herunter.

»Es ist noch lange nicht vorbei«, zischte sie drohend. »Mach das gefälligst sauber und erledige deine Pflichten, bis ich wieder zu Hause bin.«

Damit schloss sie die Tür hinter sich und ließ mich allein mit der Verheerung, die sie angerichtet hatte. Alles, was ich besaß – alles, was wirklich mir gehörte –, lag zerstückelt um mich herum. Ich hob die Bilder meiner Eltern und meine Babyfotos auf und versuchte, sie wieder zusammenzusetzen, aber dann ließ ich die Fetzen fallen und brach in Tränen aus. Dieser Schmerz war schlimmer als jede Ohrfeige, als jeder Schlag und jede Beschimpfung. Sie hatte alle Beweise dafür vernichtet, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der ich glücklich gewesen war. Mir blieben nur die Erinnerungen.

Als ich ein Klopfen an der Tür hörte, setzte ich mich auf, aber das Geräusch klang irgendwie nicht richtig – es war zu leise. Als ich mich umblickte, merkte ich, dass es vom Fenster her kam.

Nein, bitte nicht!

Ich schloss die Augen, aber das Klopfen hörte nicht auf. Hastig wischte ich mir das Gesicht ab und öffnete das Fenster, damit nicht noch jemand auf das Geräusch aufmerksam wurde.

»Du darfst nicht hier sein«, flüsterte ich verzweifelt.

»Was ist passiert? Ich wollte nachsehen, ob mit dir alles in Ordnung ist.«

»Evan, mach, dass du fortkommst«, befahl ich flehend.

»Warum ist dein Gesicht so rot? Hat er dich geschlagen?«

»Du musst hier weg«, drängte ich. »Bitte, bitte, geh.« Tränen rollten über meine Wangen, und ich blickte hektisch zwischen seinem Gesicht und der Tür hin und her, in der Erwartung, sie würde jeden Augenblick geöffnet.

Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um in mein Zimmer sehen zu können.

»Was ist hier los, Emma?«, stieß er hervor, als er das Chaos sah.

»Du machst es nur schlimmer. Bitte geh.« Ich versuchte, mich so hinzustellen, dass ich Evan die Sicht versperrte.

»Ich hol dich am Montag ab, dann kannst du mir erzählen, was das alles soll«, beharrte er.

»In Ordnung, aber jetzt geh bitte«, bettelte ich.

Endlich nahm er das Flehen in meinen Augen und die Dringlichkeit in meiner Stimme zur Kenntnis und entfernte sich von meinem Fenster. Einen Moment zögerte er noch, aber ich schloss rasch das Fenster und zog das Rollo herunter, ehe er etwas sagen konnte.

Dann wandte ich mich wieder meiner zerbrochenen Welt zu und kniete mich in die Trümmer. Als ich hörte, wie Carol bekanntgab, sie sei bald zurück, wusste ich, dass ich keine Zeit zum Trauern hatte. Kurz entschlossen nahm ich einen Rucksack und verstaute die Überbleibsel meiner Fotos und der Briefe meiner Mutter darin – ich konnte sie nicht wegwerfen. Die zerbrochenen Rahmen und zerschnittenen Malereien stopfte ich in einen Müllsack.

Dann erledigte ich stumpfsinnig meine Liste von Putzarbeiten. Geschützt von meiner Trostlosigkeit, kehrte ich danach in mein Zimmer zurück, ließ mich neben meinem Bett auf den Boden sinken und starrte die leere Wand mir gegenüber an. Wie eine Decke lag die Taubheit über dem Schmerz in meiner Brust.

Vielleicht hätte ich es zuvor nicht zugeben können, aber in diesem Moment erkannte ich, dass ich Carol hasste. Ich biss die Zähne zusammen und verdrängte die Schreie, die in meinem Kopf widerhallten. Meine Nägel gruben sich in meine Handflächen, so sehr wollte ich dem Gefühl freien Lauf lassen. Aber stattdessen rang ich nach Luft und brach in krampfhaftes Schluchzen aus.

Ihre Bosheit drohte in das einzig Unantastbare einzudringen, das mir noch geblieben war. Ich stöhnte auf vor Schmerzen, als mir klarwurde, wie dicht sie davor gewesen war, mich gänzlich zu vernichten. War ich wirklich so stark, würde ich es schaffen, mich nicht von ihr zerbrechen zu lassen? Sechshundertneun Tage fühlten sich plötzlich an wie lebenslänglich. Würde ich mich selbst noch erkennen können, wenn ich endlich frei war?

Ich verkroch mich im Wandschrank und wählte Saras Nummer.

»Em, bist du okay?«, fragte sie sofort.

»Ja, mir geht es gut«, flüsterte ich.

»Du klingst so traurig. Was hat sie getan?«

»Ich kann jetzt nicht darüber reden. Aber ich wollte mich wie versprochen bei dir melden.«

»Evan ist heute Morgen vorbeigekommen.«

Ich sagte nichts.

»Er war echt aufgebracht und wollte wissen, was los ist und ob dir womöglich jemand etwas antut. Genaugenommen hat er mich angeschrien, ich solle es ihm gefälligst sagen. Ich hab es nicht getan, das schwör ich dir, aber er besteht darauf, dich am Montag abzuholen. Ich wollte dich warnen. Wenn es dir lieber ist, kann ich aber auch kommen, und du fährst mit mir.«

»Nein, schon okay«, murmelte ich. Mir war klar, dass ich mich ihm irgendwann stellen musste.

»Emma, was auch immer heute Morgen passiert ist, es tut mir so leid«, sagte sie leise.

»Wir sehen uns am Montag«, flüsterte ich und beendete das Gespräch.

Ich verließ mein Zimmer nur, um zur Toilette zu schleichen. Aus dem Esszimmer hörte ich Stimmengemurmel und das Lachen der Kinder. Kurz darauf drang aus dem Fernseher Gesang durch die Wand, gefolgt von einem kurzen Klopfen an meiner Tür.

Carol erschien im Türrahmen. »Dein Onkel und ich möchten mit dir sprechen.« Dann verschwand sie ohne ein weiteres Wort.

Ich saß am Schreibtisch über meinen Chemiehausaufgaben und starrte ihr nach. Schließlich schob ich meinen Stuhl zurück und erlaubte meinen Beinen, meine äußere Hülle in die Küche zu tragen.

George und Carol standen an der Kücheninsel und warteten auf mich. In Georges Augen erkannte ich noch die Reste der Trauer, in Carols Blick loderte ein siegessicheres Funkeln.

»Dein Onkel und ich wollten dir sagen, wie traurig es uns macht, wenn du verrückt spielst und deine Sachen zerstörst. Es tut uns leid, dass du hier nicht glücklich bist, denn wir haben uns immer bemüht, dir alles zu geben, was du dir wünschst. Du machst Sport und bist Mitglied mehrerer Clubs in deiner Schule. Wir finden, dass wir sehr entgegenkommend waren.

Ich habe überlegt, dir nach diesem Vorfall für den Rest des Jahres alle Privilegien zu streichen.« Ich riss die Augen auf, meine Kehle war wie zugeschnürt.

»Aber dein Onkel hat beschlossen, großzügig zu sein und dir zu erlauben, weiterhin an den schulischen Aktivitäten teilzunehmen, in der Hoffnung, dass du dich besserst. Aber nächste Woche wirst du nichts davon machen und eine Möglichkeit finden, das deinem Trainer und den anderen Lehrern zu erklären. Es wäre besser, wenn uns nicht zu Ohren kommt, dass du uns in irgendeiner Weise die Schuld dafür in die Schuhe schiebst. Diese Einschränkung hast du einzig und allein dir selbst zuzuschreiben, das musst du dir wohl oder übel eingestehen.

Da du zu unzuverlässig bist, um allein im Haus zu bleiben, wirst du nach der Schule in die Bibliothek gehen. Du kannst dir aussuchen, wer dich nach Hause bringt von den Leuten, die dich zurzeit herumkutschieren. Für den Weg zur und von der Bibliothek kannst du auch das Fahrrad nehmen. Das habe ich mit der Bibliotheksleiterin Marcia Pendle heute Nachmittag abgesprochen. Bei ihr wirst du dich jeden Tag an- und abmelden. Du bekommst einen Schreibtisch, an dem sie dich die ganze Zeit im Auge behalten kann, also komm nicht auf die Idee, dich wegzuschleichen. Wenn wir hören, dass du nicht erschienen bist oder nicht kooperationsbereit warst, gehst du einen Monat lang nicht mehr zum Basketball. Verstanden?«

»Ja«, murmelte ich.

»Mit deiner Zerstörungswut hast du deinen Onkel tief verletzt, und wir sind der Meinung, es ist am besten, du lässt ihn im Lauf der nächsten Wochen in Ruhe darüber nachdenken, wie er dir möglicherweise verzeihen könnte. Deshalb solltest du uns möglichst aus den Augen gehen, wenn du im Haus bist. Ich werde dir Bescheid sagen, wenn wir mit dem Essen fertig sind, denn deine Pflichten werden dir selbstverständlich nicht erlassen. Wir werden einen Teller für dich bereitstellen, damit du etwas essen kannst, bevor du den Abwasch erledigst. Ansonsten bleibst du in deinem Zimmer. Verstanden?«

»Ja.«

»Nun, was hast du deinem Onkel zu sagen?« Sie spitzte die Lippen, um sich ihren Triumph nicht anmerken zu lassen. Ehe ich meinen Hass verbergen konnte, wurden meine Augen schmal vor Abscheu. »Nun?«

»Es tut mir leid, wenn ich dir weh getan habe«, flüsterte ich, an George gewandt.

Ich log nicht, aber ich konnte mich auch nicht für etwas entschuldigen, das ich nicht getan hatte. George nickte nur stumm.

Für den Rest des Wochenendes wurde ich auf mein Zimmer verbannt. So ereignislos die Zeit auch verstrich, es war doch besser, als in Carols Nähe zu sein. Ich hatte Zeit, darüber nachzudenken, was ich meinem Basketball-Trainer und den anderen Lehrern sagen sollte. Leider fiel mir nichts Besseres ein als die vage Erklärung, dass ich häusliche Verpflichtungen hatte, über die sie mich hoffentlich nicht näher ausfragen würden.

An Evan und daran, was ich ihm am Montag sagen würde, konnte ich nicht denken. Jedes Mal, wenn mir einfiel, was er Freitagnacht und Samstagmorgen gesehen hatte, fühlte ich mich erbärmlich. Er hatte einen Blick in meine Welt erhascht, und mir gefiel nicht, wie sie sich in seinen Augen widergespiegelt hatte.