1 niChT VorHanDen
Atme. Meine Augen schwollen an, als ich versuchte zu schlucken. Ein dicker Kloß steckte in meinem Hals. Frustriert von meiner Schwäche, wischte ich mit dem Handrücken die Tränen weg, die sich einen Weg über meine Wangen gebahnt hatten. Ich konnte nicht länger darüber nachdenken – sonst würde es mich zerreißen.
Ich sah mich in dem Zimmer um, das zwar meines war, zu dem ich aber keine rechte Beziehung hatte – ein gebrauchter Schreibtisch an der Wand, ein nicht dazu passender Stuhl, daneben ein dreistöckiges Bücherregal, das schon zu viele Jahre in zu vielen verschiedenen Wohnungen verbracht hatte. Kahle Wände ohne Bilder. Kein Hinweis, wer ich früher einmal gewesen war, bevor ich hier wohnte. Nur ein Ort, an dem ich mich verstecken konnte – vor dem Schmerz, vor den wütenden Blicken und den bissigen Bemerkungen.
Warum war ich hier? Ich kannte die Antwort. Es gab keine andere Wahl; es war ein Muss. Ich konnte nirgendwo sonst unterkommen, und sie konnten sich nicht weigern, mich aufzunehmen. Sie waren meine einzige Familie, und ich war nicht dankbar dafür.
Ich lag auf dem Bett und versuchte, mich auf meine Hausaufgaben zu konzentrieren. Als ich nach dem Mathebuch greifen wollte, zuckte ich zusammen. Unglaublich, dass meine Schulter jetzt schon so weh tat. Na toll! Dann musste ich diese Woche wohl schon wieder mit langen Ärmeln rumlaufen.
Der stechende Schmerz in meiner Schulter rief scheußliche Bilder in meinem Kopf wach. Wut kochte in mir hoch, und ich biss die Zähne so fest zusammen, dass sie knirschten. Dann holte ich tief Luft und ließ mich von einem dumpfen Schwall Nichts einhüllen. Die Gefühle mussten verschwinden, also zwang ich mich, meine volle Aufmerksamkeit den Hausaufgaben zuzuwenden.
Ein leises Klopfen weckte mich. Ich stützte mich auf die Ellbogen und versuchte mich in dem dunklen Zimmer zu orientieren. Eine Stunde hatte ich mindestens geschlafen, obwohl ich mich überhaupt nicht daran erinnern konnte, eingedöst zu sein.
»Ja?«, antwortete ich, alles Weitere blieb mir im Hals stecken.
»Emma?«, rief ein dünnes, vorsichtiges Stimmchen, und langsam öffnete sich meine Tür.
»Du kannst ruhig reinkommen, Jack.« Obwohl ich mich so mies fühlte, bemühte ich mich, freundlich zu klingen.
Die Hand noch fest am Türgriff, steckte er den Kopf herein – er überragte den Griff kaum.
Mit seinen großen braunen Augen sah Jack sich im Zimmer um, bis unsere Blicke sich trafen – ich wusste, er hatte Angst vor dem, was er hier vorfinden könnte. Erleichtert lächelte er mich an. Für einen Sechsjährigen wusste er schon viel zu viel.
»Das Abendessen ist fertig«, sagte er und senkte die Augen. Mir war klar, dass er mir die Nachricht nicht gern überbrachte.
»Bin gleich da«, antwortete ich und lächelte ihm aufmunternd zu, so dass er einigermaßen beruhigt zu den Stimmen im anderen Raum zurückkehrte. Aus dem Esszimmer hörte ich Geschirrgeklapper und Leylas aufgeregte Stimme. Hätte ein Unbeteiligter die Szene beobachtet, wäre er mit Sicherheit davon ausgegangen, dass hier eine amerikanische Bilderbuchfamilie dabei war, zum gemeinsamen Abendessen Platz zu nehmen.
Doch das Bild veränderte sich schlagartig, als ich aus meinem Zimmer kam. Ich war der Schandfleck auf ihrem Familienporträt, ein grässlicher Misston, meine bloße Existenz machte alles zunichte. Sofort lag Streit in der Luft. Noch einmal atmete ich tief ein und versuchte mich davon zu überzeugen, dass ich es überstehen würde. Es war doch nur ein Abend wie jeder andere, oder etwa nicht? Aber genau das war ja das Problem.
Langsam ging ich den Flur hinunter und trat in das hell erleuchtete Esszimmer. Als ich die Schwelle überschritt, wurde mir flau im Magen, und ich hielt den Blick auf meine nervös ineinander verflochtenen Finger gerichtet. Zu meiner Erleichterung bemerkte mich niemand.
»Emma!«, rief Leyla einen Moment später und rannte auf mich zu. Als ich mich zu ihr hinabbeugte, umarmte sie mich so fest, dass mir der Schmerz in den Arm schoss und ich ein leises Stöhnen nicht unterdrücken konnte.
»Hab ich dir schon das Bild gezeigt, das ich heute gemalt habe?«, fragte sie mich und zeigte stolz auf ihr rosa und gelbes Gekritzel. Ich spürte einen stechenden Blick im Rücken und wusste, wenn es ein Messer gewesen wäre, hätte es mich augenblicklich außer Gefecht gesetzt.
»Mom, hast du meinen Tyrannosaurus Rex gesehen?«, hörte ich Jack fragen, der offensichtlich versuchte, seine Mutter von mir abzulenken.
»Großartig, Schätzchen«, lobte sie ihn und wandte seinen Zeichenkünsten ihre volle Aufmerksamkeit zu.
»Das ist ein wunderschönes Bild«, sagte ich leise zu Leyla und schaute in ihre strahlenden braunen Augen. »Magst du dich vielleicht schon mal an den Esstisch setzen?«
»Okay«, stimmte sie zu, nicht ahnend, dass ihre liebevolle Geste für zusätzliche Spannungen gesorgt hatte. Wie sollte sie auch? Sie war vier Jahre alt, ich war für sie die große Cousine, die sie vergötterte, und sie für mich die Sonne in diesem dunklen Haus. Niemals hätte ich ihr Vorwürfe dafür machen können, dass ihre Zuneigung mir zusätzlichen Ärger einbrockte.
Das Gespräch wurde lebhafter, die Aufmerksamkeit wandte sich von mir ab. Nachdem alle anderen sich bedient hatten, nahm ich mir etwas von dem Brathähnchen mit Erbsen und Kartoffeln. Da ich spürte, dass jede meiner Bewegungen prüfend beobachtet wurde, konzentrierte ich mich beim Essen ausschließlich auf meinen Teller. Obwohl ich bei weitem nicht satt wurde, wagte ich es nicht, mir noch etwas zu nehmen.
Ich überhörte die Worte, die als nicht enden wollende Litanei über den schrecklich anstrengenden Arbeitstag aus ihrem Mund kamen. Ihre Stimme ging mir durch Mark und Bein, und mir wurde flau im Magen. George machte eine beschwichtigende Bemerkung und versuchte wie immer, seine Frau zu beruhigen. Mich nahmen beide lediglich zur Kenntnis, als ich bat, mich entschuldigen zu dürfen. George warf mir einen kurzen, ambivalenten Blick zu und antwortete lakonisch, ich könne ruhig aufstehen.
Also nahm ich meinen Teller und, da Jack und Leyla bereits zum Fernsehen ins Wohnzimmer verschwunden waren, auch ihr Geschirr, und trug alles in die Küche. Dort machte ich mich an meine allabendlichen Pflichten, kratzte die Essensreste von den Tellern, räumte das Geschirr in die Spülmaschine und schrubbte die Töpfe und Pfannen, die George fürs Kochen benutzt hatte.
Ehe ich zum Tisch zurückging, um die restlichen Sachen zu holen, wartete ich, bis die Stimmen sich ins Wohnzimmer verzogen hatten. Nachdem ich das Geschirr abgewaschen, den Müll hinausgebracht und den Boden gefegt hatte, ging ich zurück in mein Zimmer. Ich kam am Wohnzimmer vorbei, aus dem ich Fernsehgeräusche und im Hintergrund das Lachen der Kinder hörte. Wie üblich bemerkte mich niemand.
Ich legte mich auf mein Bett, steckte die Kopfhörer in meinen iPod und drehte die Lautstärke voll auf, damit mein Kopf erst gar nicht auf die Idee kommen konnte nachzudenken. Morgen hatte ich nach der Schule ein Spiel, also würde ich erst spät nach Hause kommen und unser wundervolles Familienessen verpassen. Ich holte tief Luft und schloss die Augen. Morgen war ein neuer Tag – und ich einen Tag näher dran, all dies hinter mir lassen zu können.
Ich rollte mich auf die Seite und vergaß für einen Moment meine Schulter. Sofort wurde ich schmerzhaft daran erinnert, was ich eines Tages hinter mir lassen würde. Entschlossen knipste ich das Licht aus und ließ mich von der Musik in den Schlaf dröhnen.
Auf dem Weg durch die Küche – in der Hand die Sporttasche, über der Schulter den Rucksack – nahm ich mir einen Müsliriegel. Als Leyla mich entdeckte, weiteten sich ihre Augen vor Freude, und ich ging rasch zu ihr hinüber und küsste sie auf den Kopf, wobei ich mich bemühte, die durchdringenden Blicke von der anderen Seite des Zimmers zu ignorieren. Jack saß neben Leyla an der Kücheninsel und aß sein Müsli. Ohne aufzublicken, schob er mir ein Blatt Papier zu.
Viel Glück! stand in lila Buchstaben darauf, dazu hatte er in Schwarz einen richtig tollen Fußball gemalt. Gespannt auf meine Reaktion, warf er mir einen kurzen Blick zu, und ich erwiderte ihn mit einem hastigen Halblächeln, damit Carol unseren Austausch nicht bemerkte. »Tschüs, Leute«, rief ich dann und wandte mich zur Tür.
Ehe ich sie erreicht hatte, packte eine kalte Hand mich am Handgelenk. »Gib das sofort zurück.«
Ich drehte mich um. Da Carol den Kindern den Rücken zuwandte, brauchte sie ihren giftigen Blick nicht abzumildern. »Auf deiner Liste stand kein Müsliriegel, ich hab ihn nicht für dich gekauft. Also her damit.«
Ich legte den Riegel in ihre ausgestreckte Hand, zum Glück lockerte sich ihr Klammergriff augenblicklich. »Tut mir leid«, murmelte ich und rannte aus dem Haus, ehe mir noch etwas leidtun konnte.
»Und … was ist passiert, als du heimgekommen bist?«, fragte Sara und drehte die Punkmusik leiser, als ich in ihr rotes Cabrio einstieg.
»Hä?«, erwiderte ich und rieb mir das Handgelenk.
»Gestern Abend, als du heimgekommen bist«, wiederholte Sara ungeduldig.
»Da ist nicht viel passiert – nur das übliche Geschrei«, wiegelte ich das Drama ab, das mich empfangen hatte, als ich gestern vom Training zurückgekehrt war. Beiläufig rieb ich meinen lädierten Arm und beschloss, besser nicht noch mehr zu verraten. So gern ich Sara auch hatte und obwohl ich wusste, dass sie alles für mich tun würde, gab es Dinge, die ich ihr lieber ersparen wollte.
»Also nur das übliche Geschrei, ja?« Mir war sofort klar, dass sie mir das nicht ganz abnahm. Ich war nicht die allerbeste Lügnerin, aber meistens schaffte ich es trotzdem, einigermaßen überzeugend zu wirken.
»Ja«, nuschelte ich und verschränkte die Hände, weil sie von Carols Berührung immer noch zitterten. Dann wandte ich mich ab und starrte aus dem Fenster, sah zu, wie die Bäume, unterbrochen von den überdimensionalen Eigenheimen mit ihren landschaftlichen Gärten, an uns vorbeiflogen, und ließ mir die frische Spätseptemberluft in mein erhitztes Gesicht wehen.
»Da hast du ja wohl ausnahmsweise mal Glück gehabt.« Ich spürte ihren Blick. Sie wartete darauf, dass ich ihr vielleicht doch noch die ganze Wahrheit beichtete.
Als ihr klarwurde, dass ich dazu nicht bereit war, drehte sie die Musik wieder auf. Sie begann mit der Punkband zu johlen und den Kopf hin und her zu werfen.
So fuhren wir auf den Schulparkplatz, wo wir wie gewohnt von den neugierigen Blicken der Schüler und dem gelegentlichen Kopfschütteln der Lehrer empfangen wurden. Sara merkte davon nichts oder tat zumindest so, als wäre es ihr vollkommen egal. Und ich achtete nicht darauf, weil mir die anderen wirklich egal waren.
Ich hängte mir den Rucksack über die linke Schulter und überquerte mit Sara den Parkplatz. Ihr Gesicht strahlte, ihr Lächeln war ansteckend, viele Leute winkten ihr zu. Mich nahm kaum jemand wahr, aber das störte mich nicht. Von Saras charismatischer Präsenz wurde man leicht in den Schatten gestellt – allein schon dank der feuerroten Mähne, die ihr in stufigen Wellen weit über den Rücken fiel.
Sara war der Traum eines jeden Highschool-Jungen, und bestimmt auch der von manchen Lehrern. Sie war umwerfend attraktiv, ihr Körper hatte die perfekten Rundungen eines Badeanzug-Models. Aber ich mochte an ihr besonders ihre Bodenständigkeit. Obwohl sie wahrscheinlich das begehrteste Mädchen der Schule war, stieg es ihr nicht zu Kopf.
Fast jeder rief ihr ein »Guten Morgen, Sara« zu, wenn sie sprühend vor Energie durch die Schulkorridore schritt, und sie gab die Begrüßungen im gleichen fröhlichen Ton zurück.
Ein paarmal wurde auch ich gegrüßt, schaute kurz hin und nickte. Ich wusste ja, dass man mich nur wegen Sara zur Kenntnis nahm. Im Grunde wollte ich auch gar nicht bemerkt werden, es war mir ganz recht, unauffällig im Windschatten meiner Freundin durch die Korridore zu huschen.
»Ich glaube, Jason kriegt langsam mit, dass ich existiere«, vertraute Sara mir an, als wir vor unseren nebeneinanderliegenden Spinden standen und die Sachen für unsere ersten Kurse zusammensuchten. Wie durch ein Wunder waren wir für dieselbe Morgenstunde eingeteilt worden – in der größtenteils Organisatorisches besprochen wurde –, was uns praktisch unzertrennlich machte. Zumindest bis zum ersten Kurs, denn dann hatte ich »Englische Literatur und kreatives Schreiben«, während sie »Algebra II« besuchte.
»Dass du existierst, wissen alle, Sara«, entgegnete ich mit einem ironischen Grinsen. Ein paar wissen es sogar nur zu genau, dachte ich im Stillen.
»Na ja, bei ihm ist es anders. Er schaut mich kaum an, selbst wenn ich direkt neben ihm sitze. Das ist so frustrierend.« Sie ließ sich mit dem Rücken gegen die Spindtür fallen. »Dir ist schon klar, dass die Jungs dir nachschauen, oder?«, griff sie meine Bemerkung auf. »Du kannst dich bloß nicht lange genug von deinen Büchern losreißen, um sie zu bemerken.«
Ich wurde rot und sah sie finster an. »Was redest du denn da? Die glotzen doch bloß deinetwegen.«
Sara lachte, und ihre makellosen weißen Zähne blitzten. »Du hast echt keine Ahnung«, kicherte sie spöttisch.
»Ach was! Ist doch auch egal«, entgegnete ich abwehrend, aber immer noch mit rotem Gesicht. »Was willst du denn jetzt machen wegen Jason?«
Sara seufzte, drückte ihre Bücher an die Brust und schlug ihre blauen Augen nachdenklich zur Decke auf.
»Ich weiß es noch nicht«, antwortete sie schließlich versonnen. Vermutlich dachte sie an Jason mit seinen blonden Haaren, den eindringlichen blauen Augen und dem hinreißenden Lächeln. Jason war Kapitän und Quarterback des Footballteams. Konnte man sich ein schlimmeres Klischee vorstellen?
»Was meinst du denn damit? Du hast doch sonst immer einen Plan parat.«
»Bei Jason ist einfach alles anders. Er schaut mich nicht mal an. Ich muss sorgfältiger vorgehen.«
»Ich dachte, du hast gesagt, er hat dich endlich zur Kenntnis genommen?«, hakte ich etwas verwirrt nach.
Sara wandte sich mir zu. Zwar funkelten ihre Augen immer noch, als wäre sie soeben aus einem wunderschönen Traum aufgewacht, aber das Lächeln war verschwunden.
»Ich versteh es echt nicht. Gestern hab ich mich in Betriebswirtschaft extra neben ihn gesetzt, und er hat auch Hallo gesagt, aber das war’s dann schon. Er weiß, dass ich existiere. Mehr nicht.« Ihrer Stimme konnte man anhören, wie irritiert sie war.
»Ach, dir wird schon was einfallen. Es sei denn, er ist schwul«, gab ich zu bedenken.
»Emma!«, rief Sara entrüstet und boxte mich in den rechten Arm. Ich biss die Zähne zusammen und zwang mich zu lächeln. Hoffentlich hatte sie nicht gemerkt, wie meine Schultern bei ihrer harmlosen Berührung zurückgezuckt waren. »Sag so was nicht. Das wäre ja verheerend. Jedenfalls für mich.«
»Aber nicht für Kevin Bartlett«, lachte ich, und sie schnitt eine Grimasse.
Zu sehen, was für einen Kopf Sara sich über diesen Kerl machte, war ebenso amüsant wie entwaffnend. Sie konnte gut mit Menschen umgehen – fast immer hatte sie Erfolg, vor allem bei den Jungs. Ganz gleich, wen sie zu etwas überreden wollte, sie drehte es mit ihrer liebenswerten Art so, dass ihr Gegenüber den Wunsch verspürte, ihr diese Freude zu machen.
Aber Jason Stark brachte Sara ganz offensichtlich aus der Fassung. Diese Seite von ihr bekam ich fast nie mit, und es interessierte mich, wie sie mit der ungewohnten Situation umging.
Die einzigen Menschen, die für sie bisher eine noch größere Herausforderung dargestellt hatten, waren meine Tante und mein Onkel. Sooft ich ihr auch versicherte, dass es nichts mit ihr zu tun hatte – sie strengte sich nur umso mehr an, die beiden freundlich zu stimmen und mir meine persönliche Hölle dadurch vielleicht etwas erträglicher zu gestalten. Wer war ich, mich ihr in den Weg zu stellen? Auch wenn ich genau wusste, dass ihre Bemühungen vollkommen aussichtslos waren.
Nach der Morgenstunde trennten sich unsere Wege. Im Literaturkurs setzte ich mich wie üblich ganz nach hinten. Ms Abbott begrüßte uns und begann die Stunde mit der Rückgabe unserer letzten schriftlichen Arbeiten.
Als sie mir meinen Aufsatz überreichte, sah sie mich mit einem warmen Lächeln an. »Sehr einfühlsam, Emma«, meinte sie lobend.
Ich lächelte verlegen zurück. »Danke.«
Oben auf dem ersten Blatt meiner Arbeit prangte in roter Tinte die Note »A«, und auch sonst standen am Rand überall positive Kommentare. Weder ich noch meine Mitschüler hatten etwas anderes erwartet, und während sich die meisten über den Tisch beugten, um die Noten ihrer Freunde zu begutachten, kümmerte sich niemand um mich. Ich stopfte mein Werk ganz nach hinten in meine Mappe.
Meine Noten waren mir nicht peinlich; es war mir egal, was meine Mitschüler von meinen guten Zensuren hielten. Ich wusste, dass ich sie verdient hatte. Und ich wusste auch, dass sie mich eines Tages retten würden. Aber außer Sara hatte natürlich niemand einen blassen Schimmer, dass ich nur die Tage zählte, bis ich endlich ausziehen und aufs College gehen konnte. Wenn ich dafür als Klassenbeste das Getuschel hinter meinem Rücken aushalten musste, dann nahm ich es gern in Kauf. Von meinen Mitschülern würde mich niemand schützen, wenn ich einmal nicht erfolgreich war, also musste ich auch nicht bei ihrem Schultratsch und sonstigen Teenagerquatsch mitmischen.
Das Einzige, was in meinem Leben annähernd als konventionelle Highschool-Erfahrung durchging, war meine Freundschaft mit Sara, und sie war definitiv unterhaltsam. Die meisten Schüler bewunderten Sara, von vielen wurde sie beneidet, und wenn sie es darauf anlegte, konnte sie einen Jungen allein schon mit ihrem strahlenden Lächeln verführen. Aber für mich war das Wichtigste, dass ich mich hundertprozentig auf sie verlassen konnte. Ich hätte ihr jederzeit mein Leben anvertraut – und das will einiges heißen, vor allem angesichts dessen, was mich jeden Abend zu Hause erwartete.
»Wie geht’s?«, fragte Sara, als wir uns vor dem Lunch wieder an unserem Spind trafen.
»Bei mir gab’s nichts Neues oder gar Aufregendes. Irgendwelche Fortschritte mit Jason in Betriebswirtschaft?« Das war der Kurs, den Sara direkt vor der Mittagspause besuchte, so dass sie für gewöhnlich genug zu erzählen hatte, ehe wir zum Journalistik-Kurs mussten.
»Schön wär’s!«, rief sie. »Nichts – das ist so frustrierend! Ich gehe zwar nicht übermäßig forsch an die Sache heran, aber ich gebe ihm alle offensichtlichen Signale, dass ich Interesse habe.«
»Anscheinend fehlt dir das, was nötig wäre, um sein Interesse zu wecken«, neckte ich sie.
»Ach, sei bloß still, Em!« Sara sah mich streng an. »Ich glaube, ich muss noch direkter werden. Im schlimmsten Fall kann er ja auch bloß sagen …«
»… dass er schwul ist«, fiel ich ihr ins Wort und lachte.
»Du kannst lachen, so viel du willst, aber ich werde Jason Stark dazu kriegen, mit mir auszugehen.«
»Ich weiß«, bestätigte ich unumwunden.
Für meinen Lunch wurde mir wöchentlich ein Teil des Gelds abgezogen, das ich im Sommer verdient hatte – dieses Geld wurde mir strikt zugeteilt, ich konnte nicht selbst darüber bestimmen. Eine weitere völlig unlogische Regel, mit der ich die nächsten sechshundertdreiundsiebzig Tage leben musste.
Sara und ich beschlossen, den schönen Spätsommertag auszunutzen und uns draußen an einen der Picknicktische zu setzen. Der Herbst war – wie so oft in New England – völlig unberechenbar. Den einen Tag war es frostig kalt, den anderen konnte man die ärmellosen Tops wieder aus dem Schrank holen. Aber wenn der Winter erst einmal zuschlug, blieb er meist länger als gewünscht.
Während die meisten anderen Schüler ihre Klamotten ablegten, um die Wärme zu genießen, konnte ich nur vorsichtig die Ärmel meines Shirts hochschieben. Meine Garderobe richtete sich stets nach dem Zustand der mehr oder weniger gut verheilten Prellungen an meinen Armen und hatte wenig mit den Temperaturen zu tun.
»Was hast du denn heute mit deinen Haaren gemacht? Sieht gut aus. Glatter. Sehr schick.«
Wir waren auf dem Weg nach draußen, und ich sah Sara skeptisch von der Seite an. Ich trug heute nur deshalb einen Pferdeschwanz, weil ich am Morgen die mir zustehenden fünf Minuten in der Dusche überschritten und die Spülung nicht mehr hatte auswaschen können, ehe mir das Wasser abgedreht worden war. »Was redest du denn da?«, fragte ich ungläubig.
»Ach, vergiss es. Du kannst doch nie ein Kompliment annehmen.« Dann wechselte sie etwas abrupt das Thema und fragte: »Kommst du eigentlich morgen Abend zum Footballspiel?«
Ich sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an und biss in meinen Apfel.
Als ihr klarwurde, dass ich das Offensichtliche nicht aussprechen würde, hob Sara ihre Limodose zum Mund, hielt aber mitten in der Bewegung inne.
»Warum quält er mich bloß so?«, flüsterte sie und ließ die Dose wieder sinken, den Blick auf etwas hinter mir gerichtet.
Ich drehte mich um. Jason Stark und noch ein anderer gutgebauter Junge aus der zwölften Klasse warfen sich einen Football zu. Sie hatten ihre Hemden ausgezogen und sie hinten in die Jeans gestopft. Dass sie damit Blicke auf sich zogen, war klar. Eine Minute sah ich den beiden zu, während Sara hinter mir leise stöhnte. Seltsamerweise schien Jason keins der Mädchen, die ihn anschmachteten, zu bemerken – sehr interessant.
»Sara, womöglich ist ihm wirklich nicht klar, dass du ihn toll findest«, bemerkte ich nüchtern. »Hast du daran schon mal gedacht?«
»Wie könnte ihm das denn nicht klar sein?«, fragte sie fassungslos.
»Weil er ein Junge ist«, antwortete ich mit einem resignierten Seufzer. »Hast du ihn, abgesehen von den zwei Jahren, in denen er mit Holly Martin zusammen war, jemals mit einer ausgehen sehen? Nur weil wir ihn für einen Gott halten, muss er sich noch lange nicht selbst auf diesen Sockel stellen.«
Nachdenklich blickten wir hinüber zu der großen, muskulösen Gestalt mit dem verspielten Lächeln. Nicht mal ich konnte mich den Reizen seines sonnengebräunten Körpers entziehen – dass ich mich auf die Schule konzentrierte, hieß ja nicht, dass ich blind war. Manche Dinge nahm ich schon wahr – na ja, jedenfalls gelegentlich.
»Vielleicht hast du recht«, räumte Sara mit einem undurchsichtigen Grinsen ein.
»Ihr beide würdet jedenfalls ein sensationelles Paar abgeben«, meinte ich und seufzte.
»Em, du musst morgen mit mir zu dem Spiel gehen!«, bettelte Sara und klang beinahe verzweifelt.
Ich zuckte die Achseln. Da ich nicht selbst über mein Sozialleben bestimmte, hatte ich keines. Ich harrte aus bis zum College. Es war ja nicht so, dass ich mich aus allem raushielt. Auf meine eigene Art nahm ich durchaus am Highschool-Leben teil – ich war Mitglied von drei Sportmannschaften, Herausgeberin der Schulzeitung, ich machte mit beim Jahrbuch, engagierte mich bei Kunstprojekten und im Französisch-Club. Es reichte, um mich nach der Schule zu beschäftigen, manchmal sogar noch bis in den Abend hinein, wenn ich Wettkämpfe oder Abgabetermine für die Zeitung hatte. Ich musste mir ideale Voraussetzungen für mein Stipendium schaffen. Das war das Einzige, was ich unter Kontrolle hatte, und ehrlich gesagt, war es eher eine Überlebensstrategie als ein Fluchtplan.