21 eiNfaCh nuR freUnde

»Wir können Freunde sein«, sagte Evan, als er mich zwanzig Minuten später gedankenverloren auf der Couch vorfand. Er setzte sich neben mich, nahm meine Hand, und sofort durchströmte seine Wärme meinen Arm. Ich suchte seinen Blick, ich wollte ihm glauben.

»Ich meine, wir sind ja schon Freunde, also muss sich gar nichts ändern.« Enttäuschung und Verwirrung waren verschwunden, und an ihre Stelle war ein tröstliches Lächeln getreten. Er schien es ehrlich zu meinen. »Okay?«

Ich hatte keine Ahnung, was in diesen zwanzig Minuten geschehen war, aber er war nicht derselbe wie vorhin, als er das Zimmer verlassen hatte.

»Ja, okay«, antwortete ich langsam und versuchte, sein Lächeln zu erwidern.

 

Ich hatte große Angst, ihn am Montag in der Schule zu sehen, denn ich ging davon aus, dass wir uns beide schrecklich unbehaglich fühlen würden. Aber wir waren weder verkrampft, noch gingen wir uns aus dem Weg; alles war wieder wie vor dem Wochenende – und doch auch wieder nicht.

Beispielsweise nahm ich ihn viel bewusster wahr als zuvor. Jedes Mal, wenn er auf dem Weg durch die Korridore meinen Arm streifte oder sich zu mir beugte, um mir in Anatomie etwas zuzuflüstern, schossen Tausende Funken durch meinen ganzen Körper. Ich stellte fest, dass ich mehr lächelte und mich länger von seinem Blick fesseln ließ. Es war, als bemerkte ich ihn zum ersten Mal richtig, so, als wäre alles wieder auf Anfang. Nur dass ich dieses Mal wusste, er bemerkte mich auch.

Evan saß näher bei mir, ging dichter neben mir her, sah mich länger an. Er begann, seine Bücher zwischen den Stunden in meinem Spind zu verstauen, und legte mir sanft die Hand auf den Rücken, wenn er über meinen Kopf griff, um sie wieder herauszuholen. Bei diesen kleinen Berührungen wurde mir warm ums Herz, und mein Nacken begann zu kribbeln. In der Schule hielt er zwar nie meine Hand, aber er schaffte es immer, dass unsere Handrücken sich leicht streiften, wenn wir nahe genug beieinander waren.

Wir vollführten einen Tanz, bei dem wir uns berührten, ohne uns absichtlich zu berühren, bei dem wir Dinge wussten, ohne sie zu sagen, und Dinge empfanden, ohne sie auszudrücken. Wir waren Freunde, die auf einem Grat – einem sehr schmalen Grat – wanderten, und meine Aufmerksamkeit war so sehr auf Evan gerichtet, dass ich gar nicht wahrnahm, wie leicht der Halt unter meinen Füßen wegbrechen konnte.

»Was ist los mit dir?«, fragte Sara mich am Mittwoch auf der Fahrt zur Schule. Ich hatte ihr nicht alles erzählt, nachdem ich am Sonntagnachmittag von Evan zurückkehrt war. Von unserem Motorradausflug und von Jakes Anruf hatte ich berichtet, aber die Sache mit dem Bild hatte ich verschwiegen. Ich brachte es nicht fertig, es laut auszusprechen, und da wir übereingekommen waren, nur Freunde zu sein, gab es für mich auch keinen Anlass, es dennoch zu tun.

»Was meinst du?«

»Du und Evan – ihr benehmt euch … na ja, ihr benehmt euch in den letzten paar Tagen irgendwie anders. Verschweigst du mir was? Ist irgendwas passiert?« Ich wich ihrem Blick aus, und sie verkündete: »Es ist was passiert! Em, hat er dich geküsst? Ich kann nicht glauben, dass du es mir nicht erzählt hast!«

»Nein, Sara, er hat mich nicht geküsst«, widersprach ich heftig.

»Was denn dann? Ihr zwei seid fast zu … zu eng. Ich merke doch, dass irgendetwas anders ist als vorher. Also, was ist passiert?«

»Wir sind einfach nur Freunde«, beharrte ich.

»Hat er irgendwas gesagt?«, fragte sie aufgeregt. Leider konnte ich nicht verhindern, dass ich rot wurde. »O mein Gott, das ist es! Er hat dir gestanden, was er für dich empfindet. Jetzt erzähl doch endlich!«

»Sara, es spielt keine Rolle«, gab ich zurück, wurde aber noch röter, denn ich erinnerte mich genau an Evans Worte. »Wir sind und bleiben Freunde, und deshalb will ich nicht darüber sprechen.«

Zwar setzte Sara ihr Verhör nicht fort, aber auf ihrem Gesicht erschien ein vielsagendes Grinsen.

»Kommt Carol heute früh von der Arbeit heim?«, fragte sie, als wir auf den Parkplatz fuhren.

»Sie hat den Tag freigenommen, um mit ihrer Mutter einkaufen zu gehen und alles für morgen vorzubereiten. Wahrscheinlich kommen ihre Schwester und deren Kinder heute Abend, da will sie bestimmt auch dabei sein.« Der Gedanke, dass Carol in der Küche stand und kochte, war lächerlich. Ich wusste, dass sie nichts Wesentliches zum Thanksgiving-Essen beitragen, die unverdienten Komplimente allerdings gern entgegennehmen würde.

»Dann kannst du nach der Schule nicht nach Hause, richtig?«

»Ich denke, ich gehe zu Evan«, antwortete ich so lässig ich konnte.

»Ja, und ich komme mit«, sagte sie so bestimmt, dass ich wusste, es war zwecklos, ihr zu widersprechen.

»Klar.« Ich versuchte, mir meine Enttäuschung nicht allzu sehr anmerken zu lassen.

Zu meiner Überraschung schien Evan damit einverstanden, dass wir eine Aufpasserin hatten. Als wir nach einem nutzlosen halben Unterrichtstag bei ihm zu Hause eintrudelten, verstand ich auch, warum. Neben dem BMW seiner Mutter parkte ein silberner Volvo mit New Yorker Kennzeichen.

»Dein Bruder?«, fragte ich.

»Ja, er ist gestern am späten Abend gekommen.«

Auch heute öffnete sich die Seitentür, und Vivian erschien, eine weiße Schürze um die Taille, an der sie sich die Hände abwischte – offensichtlich kochte sie tatsächlich. Wie immer war sie perfekt frisiert und sah in ihrem knielangen schwarzen Rock, den hohen schwarzen Stiefeln und der hervorragend sitzenden weißen Bluse wieder einmal phantastisch aus.

Hinter ihr stand ein großer junger Mann, offensichtlich ihr ältester Sohn, der in jeder Hinsicht das Gegenteil von Evan war. Jared hatte wirre blonde Haare, die über den Ohren abstanden, und ansonsten die weichen Gesichtszüge, schmalen Lippen und strahlenden blauen Augen seiner Mutter. Er war etwas größer als Evan und breiter und muskulöser gebaut.

»Wer ist das denn?«, hörte ich Sara flüstern, als wir näher kamen.

»Evans Mutter und Evans Bruder«, erklärte ich rasch.

»Emily, wie geht es dir, Schätzchen?«, fragte Vivian und umarmte mich wie vor ein paar Tagen, diesmal allerdings sogar mit einem Wangenküsschen. Mir fiel es immer noch schwer, die knappe Geste zu erwidern.

»Schön, Sie zu sehen, Mrs Mathews.«

»Sag doch bitte Vivian zu mir. Wir kennen uns mittlerweile, da können wir die Förmlichkeiten ruhig weglassen«, drängte sie mich mit einem einnehmenden Lächeln.

»Jared, das ist Emma«, stellte Evan mich stolz vor.

»Hi, ich hab schon viel von dir gehört«, begrüßte Jared mich und streckte mir die Hand entgegen. Ich warf Evan einen fragenden Blick zu, aber er zog nur kurz die Augenbrauen in die Höhe.

»Das ist meine Freundin Sara«, stellte ich Sara vor, nachdem sie mich zum zweiten Mal in den Ellbogen geknufft hatte.

»Sara, wie nett, dass wir uns auch mal begegnen. Ich kenne deine Eltern – wirklich wundervolle Menschen.« Vivian schüttelte Sara die Hand. Ehe Jared etwas zu Sara sagen konnte, wandte Vivian sich wieder an mich und fragte: »Bleibst du heute zum Essen?«

»Mom«, rief Evan genervt. »Morgen ist Thanksgiving, Emma muss bestimmt heim zu ihrer Familie.«

»Na, dann ein andermal«, sagte seine Mutter, ohne auf seinen schroffen Ton einzugehen.

»Aber natürlich, gern«, versprach ich.

»Wir gehen nach oben und spielen ein bisschen Pool«, verkündete Evan, bevor Vivian noch weitere spontane Einladungen aussprechen konnte, griff nach meiner Hand und führte mich zur Garage.

»Hat mich wirklich sehr gefreut, Sie wiederzusehen«, plapperte ich, als wir an Vivian vorbeigingen.

Sara und Jared folgten uns.

Während Evan die Musik anstellte, Getränke holte und Jared die Poolkugeln auf dem Tisch arrangierte, zog Sara mich beiseite.

»Was war das denn?«, wollte sie wissen. »Seine Mutter schwärmt ja richtig für dich. Ganz zu schweigen davon, dass Evan deine Hand hält, als wäre es das Normalste der Welt. Vergiss das Date – gibt es hier bald eine Hochzeit, zu der ihr mich vergessen habt einzuladen?«

»Sara!«, rief ich etwas zu laut. Ich war zutiefst schockiert, und wir sahen uns beide verstohlen um und vergewisserten uns, dass die Jungs nichts von unserem Austausch mitbekommen hatten.

»Sei nicht so blöd«, flüsterte ich. »Ich hab seine Mutter bei diesem Abendessen getroffen, erinnerst du dich? Und er hat meine Hand bloß gepackt, weil er mich schnell wegziehen wollte, ehe sie ihn noch mehr blamiert.«

»Wie du meinst«, erwiderte Sara nicht sehr überzeugt.

»Seid ihr bereit?«, rief Evan vom Pooltisch.

Er und ich spielten gegen Jared und Sara. Während des Spiels unterhielten wir uns über Cornell und über Fußball, über die bevorstehende Basketballsaison und unsere Pläne für Thanksgiving. Jedes Mal, wenn Evan sich mit der Hand auf meiner Hüfte über mich beugte, um bei einem schwierigen Spielzug meinen Winkel zu korrigieren, spürte ich Saras bohrende Blicke. Aber vielleicht kam die Hitze, die mich durchströmte, auch aus meinem eigenen Herzen, das mir aus der Brust zu springen drohte.

»Was ist eigentlich mit Mom los?«, fragte Jared, als Evan gerade die Neuner-Kugel in einer Ecktasche versenkte.

»Du meinst vorhin, als wir gekommen sind?«

»Ja, das war ziemlich seltsam«, bestätigte Jared.

»Ach, da fällt mir was ein – ich hab es dir auch noch nicht erzählt, Emma.« Ich sah ihn fragend an, aber er wandte sich wieder an seinen Bruder. »Du weißt doch, dass Emma letztes Wochenende mit uns bei den Jacobs’ zum Abendessen war, ja?«

»Und es tut mir sehr leid, dass du das über dich ergehen lassen musstest, Emma«, meinte Jared augenzwinkernd zu mir. Ich war zu gespannt darauf, was Evan zu erzählen hatte, um darauf einzugehen.

»Tja, anscheinend tratscht Dr. Eckel wohl doch ganz gern«, fuhr Evan fort. Ich machte große Augen. »Emma hat neben ihm gesessen, und ich vermute, dass er mitbekommen hat, wie Catherine …«

»… ihren erbärmlichen Charme hat spielen lassen«, fiel ich ihm ins Wort. Evan amüsierte sich sichtlich über meine Wortwahl.

»Sara, du weißt darüber Bescheid, oder?«, vergewisserte sich Evan. Sie nickte und musste sich das Lachen verkneifen. »Jedenfalls hat er auch Emmas nicht sonderlich subtile Reaktion auf Catherines schlechtes Benehmen mitbekommen.«

»Ach wirklich?« Mir wurde heiß.

»Ich denke, der halbe Tisch hat es gehört, aber nur Eckel hat gewusst, worum es geht. Alle anderen waren ja in ihre wichtigen Gespräche vertieft. Deshalb ist er, als wir geflohen sind, ganz zufällig gerade auf dem Weg zur Toilette gewesen und hat unseren Abgang beobachtet.«

»Nein!«, stieß ich hervor.

»Keine Sorge – er fand die Situation ziemlich amüsant. Und da er und meine Mutter diese Veranstaltungen anscheinend nur mit Hilfe von ein bisschen Tratsch überleben, hat er ihr davon erzählt. Nun kann meine Mutter die Jacobs’ – einschließlich Catherine – im Grunde nicht ausstehen und war beeindruckt, wie subtil du sie in ihre Schranken verwiesen hast.«

»Sie ist von mir beeindruckt, weil ich über Catherine Jacobs gelacht habe? Das war aber nicht besonders subtil«, stellte ich verwundert fest.

»Na ja, du kennst Catherine nicht. Sie ist wahrscheinlich immer noch damit beschäftigt, darüber nachzudenken, warum du gelacht haben könntest«, meinte Evan. »Meine Mutter findet jedenfalls, dass du in Anbetracht der Situation sehr viel Selbstbeherrschung an den Tag gelegt hast.« Anscheinend hatte seine Mutter in meine Pöbelei etwas hineininterpretiert, das nicht einmal ich selbst verstand.

»Hmm«, machte Jared nachdenklich, dann führte er seinen nächsten Stoß aus.

»Geht ihr beide dieses Wochenende Ski laufen?«, platzte ich heraus, um das Thema zu wechseln.

»Ja, genau – was machen wir am Wochenende?«, fragte Jared und wandte sich Evan zu. »Ich würde gern die Snowboards rausholen. Wir könnten am Samstag hochfahren und dort übernachten.«

»Haben wir keine Pläne für Sonntag?«, erkundigte Evan sich bei mir.

»Wir könnten doch am Freitag zusammen ausgehen«, warf Sara rasch ein. Ich hatte beinahe vergessen, dass sie hinter mir stand, so still war sie gewesen. »Em, du kannst doch erzählen, wir beide müssten noch unsere gemeinsame Journalistikarbeit fertig bekommen. Behaupte einfach, wir müssten sie am Montag abgeben, und da ich den Rest des Wochenendes nicht da wäre, bliebe uns nur der Freitag. Dann könnten wir alle zusammen ins Kino gehen oder so. Du kannst gerne mitkommen, Jared, wenn du magst.«

»Du hast ziemlich gute Lügengeschichten für Eltern auf Lager, was?«, bemerkte Jared beeindruckt.

»Ich hab ja auch vier Jahre Übung«, gab Sara zu, und ich musste lachen.

»Dann gehen wir am Freitag zusammen aus«, meinte Evan zögernd und sah mich an. Ich nickte zustimmend.

»Klingt gut«, bestätigte auch Jared.

»Wartet, was ist mit Jason?«, fragte Evan, dem anscheinend plötzlich aufgefallen war, dass wir Jason vergessen hatten.

»Na ja, den werden wir nicht mehr so oft sehen«, meinte Sara.

»Was ist denn passiert?«, wollte Evan wissen.

»Na ja, er war einfach so … ruhig«, antwortete Sara. Ich wusste, was sie damit wirklich meinte, und musste wieder lachen.

»Er war echt nett«, ruderte sie zurück. »Aber ich brauche einfach ein bisschen mehr … Spontaneität.« Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu.

»Tut mir leid, dass es nicht funktioniert hat mit ihm«, sagte Evan.

»Danke«, sagte Sara nur. Offenbar war sein Mitgefühl ihr unangenehm.

Wir spielten noch ein paar Runden Pool und anschließend ein bisschen Darts, dann musste ich gehen, denn ich wollte vor George zu Hause sein.

»Bin gleich zurück«, sagte Evan zu Jared und griff nach seiner Jacke.

»Warte, ich nehme Emma mit«, rief Sara, und Evan hielt inne, einen Arm bereits im Ärmel der Jacke. Er sah mich fragend an. Ich zuckte die Achseln.

»Okay«, meinte er zögernd. »Dann sehen wir uns Freitag.«

»Wegen der genauen Uhrzeit ruf ich dich noch an«, versprach Sara. »Hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen, Jared.« Ich trödelte ein wenig, weil ich nicht wusste, ob Evan uns zum Auto bringen wollte, aber Sara bemerkte mein Zögern und packte meine Hand.

»Tschüs!« Ich schaffte es wenigstens noch zu winken, ehe wir verschwanden.

»Du redest so einen Scheiß«, rief Sara, als wir auf die Straße bogen. Mir fiel die Kinnlade runter. »Wenn es zwischen euch noch mehr geknistert hätte …«

»Wie bitte?«, fiel ich ihr lachend ins Wort. »Das bildest du dir ein.«

»Ach ja?«

Ich schaffte es nicht, das Lächeln zu unterdrücken.

»Na also.« Sie wertete meinen mangelnden Widerspruch als Bestätigung. »Emma, sei bitte vorsichtig, hörst du?«

»Ich versteh dich nicht«, wandte ich ein. »Du sagst dauernd, wie süß wir zusammen sind, und bringst mich mit deinen Fragen, ob er mich geküsst hat, regelrecht auf die Palme – und jetzt … na ja, jetzt reagierst du genau so, wie ich es von dir erwartet habe.«

»Es war blöd von mir, dich mit der Küsserei aufzuziehen«, gab sie zu. »Das tut mir leid. Aber jetzt, da ich eure neue Freundschaft sehe, mach ich mir wirklich Sorgen um dich. Wenn du es vor mir nicht verbergen kannst, wird Carol es irgendwann auch merken, und dann macht sie dich fertig.«

»Keine Sorge, Sara, das wird nicht passieren.«

Ich brauchte nicht lange auf der Treppe zu warten, bis George heimkam. Ohne Carol im Haus fiel es mir leicht, ihn zu fragen, ob ich am Freitag bei Sara übernachten konnte. Er stimmte zu, erinnerte mich allerdings daran, dass ich am Samstag früh nach Hause kommen musste, um meine häuslichen Pflichten zu erledigen. Da er am Wochenende ein paar Stunden zur Arbeit musste, ermahnte er mich noch einmal, Carol nicht aufzuregen, solange ich mit ihr allein war. Ich versprach es, obwohl ich wusste, dass Carol sich schon über meine bloße Anwesenheit aufregte – und dagegen konnte ich nichts tun.

Ich überlebte Thanksgiving bei Janet, indem ich mich so weit wie möglich im Hintergrund hielt. Als es Zeit wurde aufzuräumen, gab Carol mir mit einem wütenden Blick zu verstehen, dass ich mich nützlich machen sollte. Aber davon wollte Janet nichts wissen. Da Carol sich Mühe gab, nicht zu explodieren, ging ich ihr aus dem Weg und malte mit den Kindern im Wohnzimmer, während sie sich im Fernsehen den ersten Weihnachtsfilm der Saison anschauten.

Dann fuhr ich mit George nach Hause. Carol und die Kinder blieben noch bei Carols Schwester und ihren beiden Töchtern, die aus Georgia zu Besuch gekommen waren.

 

Am nächsten Morgen holte Sara mich zu unserem gemeinsamen Tag ab. Bevor wir ins Kino gingen, wollte sie noch ins Einkaufszentrum, aber ich beschwor sie, mich nicht dieser Folter auszusetzen. Ich wollte ihr nicht ausgerechnet am beliebtesten Shoppingtag des Jahres zuschauen müssen, wie sie eine Million Kleidungsstücke anprobierte. Sie gab nach, musste aber trotzdem noch ein paar Dinge erledigen, bevor wir mittagessen gehen konnten.

Unterwegs machten wir bei einem Juwelier halt, damit Sara sich Ohrringe kaufen konnte, und dann noch bei einer Schneiderin, um die neuen Kleider abzuholen, die Sara hatte ändern lassen. Zum Schluss spendierte sie uns eine Pediküre – das war Saras Vorstellung von einem perfekten Mädchentag, abzüglich des Klamottenkaufs natürlich. Ich begleitete sie und bekam auf diese Weise einen kleinen Einblick in das Leben von Sara McKinley.

Mit Flipflops an unseren frisch pedikürten Füßen eilten wir vom Auto durch die Kälte zum Haus. Anna bewunderte meine hellrosa und Saras knallrote Zehennägel, dann setzten wir uns auf die Couch und plauderten ein bisschen. Anna war gerade dabei, eine Adressenliste für die Weihnachtskarten zu erstellen, die nächste Woche verschickt werden sollten. Fasziniert beobachtete ich, wie selbstverständlich Sara und ihre Mutter miteinander umgingen, wie sie über ihre Familie diskutierten und lachten. Es war, als betrachtete ich durch ein Fenster eine nahezu ideale Familie. Aber es tat auch ein bisschen weh, wenn ich daran dachte, wie kalt es auf meiner Seite dieses Fensters war.

»Wann trefft ihr euch mit den Jungs?«, fragte Anna.

»Wir gehen zu einer frühen Vorstellung um sechs ins Kino und dann wahrscheinlich noch was essen. Danach kommen wir wieder her«, informierte Sara ihre Mutter – und mich ebenfalls, denn ich hörte unsere Abendpläne auch zum ersten Mal.

»Klingt großartig«, antwortete Anna.

»Komm, lass uns überlegen, wie wir dich ein bisschen zurechtmachen können«, meinte Sara dann und zerrte mich von der Couch.

Wir gingen nach oben, und ich setzte mich auf ihr Bett, während sie ihre Garderobe durchwühlte.

»Sara«, unterbrach ich sie nach einer Weile etwas nervös. Mein Ton ließ sie innehalten, und sie kam aus dem Wandschrank. »Ich glaube nicht, dass ich Kino und Abendessen bezahlen kann. Ich hab zwar ein bisschen Geld gespart, aber es reicht nicht für beides.«

Ich hasste es, zugeben zu müssen, dass ich mir etwas nicht leisten konnte, das sie für uns geplant hatte. Und sie wusste, dass ich es hasste, wenn sie mir anbot, alles zu bezahlen. Es war schwer genug, mir ständig ihre Klamotten leihen zu müssen, ich wollte mich nicht auch noch dauernd von ihr einladen lassen.

»Mach dir keine Sorgen«, erwiderte sie lässig. »Ich hab noch ein paar Gutscheine, die ich verwenden muss, inklusive Gratisgetränk und Popcorn, also ist für alles gesorgt. Ich hab vier davon, die Jungs kriegen auch welche. Vermutlich werden sie dann das Essen bezahlen wollen, weil es ihnen sonst unangenehm wäre.«

»Bist du sicher?«

»Absolut. Ich hab die Freikarten, die sollten wir nicht verfallen lassen.« Damit verschwand sie wieder im Wandschrank und setzte ihre Suche fort.

»Hast du vielleicht noch einen rosa Pulli?«, rief ich, als ich durch die offen stehende Tür hörte, wie sie frustriert stöhnte.

»Nein, keine rosa Pullis mehr für dich«, antwortete sie. Dann streckte sie den Kopf heraus und sagte: »Eigentlich sollte ich dich in einen Trainingsanzug stecken.« Ich verzog das Gesicht.

»Aber du weißt ja, dass ich das nicht kann, ich hab viel zu viel Spaß dabei, dich hübsch zu machen«, meinte sie lachend. »Oh, jetzt weiß ich’s. Ich hab diese schwarze Bluse hier, die sieht zu dunklen Jeans und Keilabsätzen einfach umwerfend aus.«

»Nein, keine Absätze!«, protestierte ich.

»Sonst funktioniert das aber nicht«, jammerte sie. »Halt, warte – wie wäre es mit Stiefeln? Die haben einen dickeren Absatz, auf denen kannst du besser laufen.« Ich kapitulierte achselzuckend. »Und dann kriegst du noch einen hübschen lockigen Pferdeschwanz. Du wirst hinreißend aussehen – perfekt für einen Kinobesuch mit deinen Freunden.« Mir entging der Sarkasmus nicht, und ich streckte ihr die Zunge heraus.

 

Als ich mit Sara die Treppe hinunterging, hüpfte mein Pferdeschwanz munter auf und ab. Sara hatte ihre langen Locken ebenfalls zu einem Pferdeschwanz hochgebunden und trug eine saphirblaue Bluse, die ihre Augen zum Leuchten brachte. Sie sah aus, als hätte sie ein Date – und das trotz unserer angeblich völlig ungezwungenen Verabredung.

Als ich Evan am Fuß der Treppe sah, trafen sich unsere Blicke, und wir lächelten uns zu.

»Ihr zwei seht wirklich hübsch aus«, bemerkte Carl aus dem Wohnzimmer.

»Danke, Dad«, rief Sara, küsste ihn auf die Wange und holte unsere Jacken. »Wir sehen uns dann später.«

In der Auffahrt wartete Jareds silberner Volvo auf uns. Jared öffnete Sara zuvorkommend die Beifahrertür, obwohl sie schon zusammen mit mir Kurs auf die Rückbank genommen hatte. Seine Geste überraschte uns beide.

»Oh, danke«, sagte sie und stieg vorne ein.

Evan öffnete die hintere Tür für mich, stieg dann auf der anderen Seite ein und setzte sich neben mich. Wir hatten die Auffahrt noch nicht verlassen, da lag meine Hand schon in seiner. Die Berührung zauberte ein Lächeln auf mein Gesicht. Auf der Fahrt rückten wir immer näher zueinander, bis sich unsere Beine berührten. Ich hätte nicht sagen können, ob einer von uns sich absichtlich bewegte, es war eher, als würden wir wie zwei Magnete voneinander angezogen. Mein Herz pochte und war glücklich.

Wie um ihre Schweigsamkeit bei Evan zu Hause wettzumachen, bestritt Sara jetzt den größten Teil der Konversation – und fand in Jared einen willigen Zuhörer. Zwar drehte sie sich auch immer wieder zu Evan und mir um, aber das tat sie ganz bestimmt nicht nur, um uns einzubeziehen. Ich wusste, dass sie uns in erster Linie daran hindern wollte, auf dem dunklen Rücksitz irgendwelche Dummheiten anzustellen. Jared ließ sich sehr liebenswürdig auf Saras Charme ein; er lachte an den richtigen Stellen und machte intelligente Kommentare – ich war froh, dass er uns begleitete und nicht Jason.

»Kein rosa Pulli mehr?«, flüsterte Evan, während Sara vorne von einem ihrer Lieblingsrestaurants in New York plauderte, das zufälligerweise auch zu Jareds bevorzugten Adressen gehörte.

»Sie hat es mir verboten«, flüsterte ich zurück und nickte in Saras Richtung. Er sah zu ihr nach vorn, dann wieder zu mir und runzelte die Stirn. »Mach dir deswegen keine Sorgen«, beruhigte ich ihn.

»Okay.« Er zuckte die Achseln.

»Aber du siehst trotzdem toll aus«, flüsterte er nach einer Weile und rückte so nah heran, dass sein Atem mich am Ohr kitzelte. So verharrte er eine Sekunde, und ich wusste, wenn ich mich nur ein kleines Stück zur Seite drehte, wäre er direkt vor mir. Ich atmete tief ein, hielt kurz inne und wandte mich dann langsam zu ihm um.

»Klingt das gut?«, fragte Sara. Offensichtlich erwartete sie eine Antwort von uns. Schnell wandte ich mich ihr zu, und Evan lehnte sich zurück. Sara musterte mich strafend.

»Sorry, was hast du gesagt?«, fragte ich zurück. Evan drückte meine Hand.

»Das Essen nachher«, erklärte sie. »Ist italienisch okay?«

»Klar«, antwortete Evan.

Als wir vor dem Kino hielten, zerrte Sara mich praktisch aus dem Auto, hakte sich bei mir unter und zwang mich, mit ihr zusammen zum Eingang zu gehen. Die Jungs folgten uns.

»Em, du bringst dich dermaßen in die Bredouille«, flüsterte sie. Ich konnte angesichts dieser Wahrheit nur grinsen.

Als die Jungen merkten, dass Sara sich um die Tickets kümmerte, bestanden sie darauf, nachher das Essen bezahlen zu dürfen – genau wie Sara es vorhergesagt hatte. Mit Getränken und Popcorn machten wir uns auf den Weg in den gut gefüllten Saal, um uns einen neuen Actionfilm anzuschauen.

Ich spürte, dass Sara vorhatte, sich zwischen Evan und mich zu setzen, aber ehe sie sich in die Reihe drängen konnte, schlüpfte ich schnell neben ihn – nun saß Sara zu meiner anderen Seite und Jared neben Evan. Als das Licht ausging, fand Evan sofort wieder meine Hand. Trotz der hochexplosiven Szenen hinterließ der Film bei mir keine bleibenden Erinnerungen – wie auch? Evan strich mit den Fingerspitzen zärtlich über meine Handfläche und malte kleine Kreise darauf, die in meinem ganzen Körper ein unwiderstehliches Prickeln auslösten.

Immer wieder versuchte Sara mich abzulenken, indem sie mich auf ein besonders unrealistisches Filmdetail aufmerksam machte oder darauf hinwies, dass der Star eigentlich schon innerhalb der ersten fünf Minuten des Films hätte tot sein müssen. Erst als ich den Kopf demonstrativ auf Evans Schulter legte, gab sie mit einem frustrierten Kopfschütteln auf. Ich konnte mich auf nichts anderes konzentrieren als auf Evans Atem an meinem Ohr und auf seine Wange an meinem Kopf. Meinetwegen hätte der Star des Films ruhig in den ersten fünf Minuten sterben können, ich hätte es gar nicht bemerkt.

Als wir uns wieder erhoben, waren meine Beine ganz schwach, und in meinem Kopf drehte sich alles. Evans Hand ruhte auf meiner Taille. Er hielt mich dicht neben sich, während wir uns einen Weg durch das Gedränge bahnten. Zur Sicherheit legte ich meine Hand auf seine. Doch sobald wir in der Haupthalle waren, packte Sara meinen Arm und zerrte mich von ihm weg.

»Wir sind gleich wieder da«, verkündete sie und lief mit mir zur Toilette.

Kaum waren wir durch die Tür, legte sie auch schon los: »Was machst du denn bloß?« Sie wartete keine Antwort ab, sondern fuhr fort: »Wenn du mir noch einmal erzählst, dass ihr nur Freunde seid, dann bring ich dich um. Willst du das alles? Du brauchst es mir nur zu sagen, dann gebe ich Ruhe. Aber du warst diejenige, die mich überzeugt hat, dass es unmöglich ist, und jetzt schau dich an – du kannst ja kaum geradeaus sehen.

Denk doch mal eine einzige Minute vernünftig darüber nach und dann sag mir, ob du tatsächlich mehr von Evan willst als Freundschaft. Vergiss, was du fühlst – denk darüber nach. Und denk dabei auch an Carol.«

Ich schauderte, als sie den Namen erwähnte.

Eine Minute stand ich reglos da und nahm die Leidenschaft in ihrem Gesicht zur Kenntnis. Ich war vollkommen überwältigt. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Mein Körper war so fasziniert von der Trance, in die Evans Berührung ihn versetzt hatte, dass mein Verstand nicht mehr funktionierte. Ich konnte Saras Fragen nicht beantworten.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, gestand ich leise. »Aber mach dir meinetwegen keine Sorgen, Sara, es wird alles gut, das verspreche ich.«

»Du weißt, dass du das nicht versprechen kannst.«

Ich zuckte die Achseln.

»Möchtest du, dass ich mich einmische, damit du bei einigermaßen klarem Verstand entscheiden kannst, was du tun sollst?«

»Vielleicht«, stimmte ich zaghaft zu. Ich begriff ihre Logik, aber das Schwirren in meinem Kopf ließ keinen vernünftigen Gedanken zu. »Aber nicht so aufdringlich, okay? Bei der Heimfahrt kommst mit mir auf den Rücksitz, aber im Restaurant lässt du mich neben ihm sitzen, in Ordnung?«

»Ja, das mach ich.«

Die Jungs warteten geduldig auf uns. Ich nahm Evans Hand, und wir schlenderten zum Parkplatz.

»Sara und ich gehen nach hinten, okay?«, flüsterte ich, als wir uns dem Auto näherten.

»Klar«, antwortete er und sah mich an. »Alles okay?«

»Ja.« Ich lächelte ihm beruhigend zu. »Ist nur so ein Mädchending.« Er zog die Augenbrauen in die Höhe und bedeutete mir mit einem Nicken, dass er verstanden hatte. Wenn ich das doch nur auch hätte behaupten können.

Nach einem gesprächsintensiven Essen fuhren wir zurück zu Sara – im vereinbarten Sitzarrangement. Wie berauscht starrte ich auf Evans Hinterkopf, die gut geschnittenen Haare, die Muskeln, die sich linear vom Nacken zum Rücken zogen. Auf einmal kämpfte ich nicht mehr gegen seine Anziehungskraft, und es fühlte sich wunderbar belebend an. Ich wollte nicht mehr leugnen, dass mein Herz schneller schlug, sobald ich in seiner Nähe war. Ich wollte es fühlen – das hatte ich verdient, oder etwa nicht?

»Sara, wäre es okay, wenn Evan und ich uns in deinem Zimmer einen Film anschauen und dich mit Jared alleine lassen?«, flüsterte ich ihr ins Ohr. Sara blieb der Mund offen stehen. Zum ersten Mal, seit ich sie kannte, war sie sprachlos.

»Bist du sicher?«, fragte sie nach einer Weile.

»Ja, ganz sicher.« Ich lächelte, und meine Wangen glühten.

Sie erwiderte mein Lächeln und flüsterte: »Okay.« Dann fügte sie eilig hinzu: »Aber ich möchte alle Einzelheiten hören.« Ich lachte. Sofort drehte Evan sich um und wollte wissen, was so komisch war.

Ich sah ihn an und biss mir grinsend auf die Unterlippe. »Nichts«, antwortete ich. Dann hörte ich, wie Sara plötzlich scharf die Luft einsog. Mein Blick folgte ihrem, und ich erstarrte, als ich in einiger Entfernung am Straßenrand den Jeep stehen sah. Deswegen hatte Sara nach Luft geschnappt.

»Oh, nein, Sara … das ist sie.« Und in diesem einen Atemzug löste sich der schmale Grat unter meinen Füßen endgültig auf.