38
Angus Meriwether kicherte verlegen, als sie ihm das in Decken gewickelte Baby reichte, um ihre Schneeschuhe anschnallen zu können. »So ein schönes Mädchen hab ich schon lange nicht mehr gesehen«, sagte er. Mit dem Zeigefinger stupste er vorsichtig seine Nase an. »Hey … die kann sogar schon lachen! Wer bei der Kälte noch lachen kann, muss ein echtes Winterkind sein.«
»Oder einen Mann wie Alex zum Vater haben«, erwiderte sie. Nachdem die Anspannung langsam von ihr abfiel, konnte auch sie wieder fröhlich sein, wenn auch nur für ein paar Sekunden. »Wie soll ich die Kleine hier draußen bloß versorgen, Angus? Und wie komme ich nach Hause, ohne Thomas Whittler und seinen Männern in die Arme zu laufen?« Sie blickte Emily an, die tatsächlich zu lachen schien, gleich darauf aber heftig zu weinen begann.
Der Oldtimer führte sie zum Pfad zurück. »Ich bringe Sie ins Indianerdorf. Dort gibt es alles, was Sie für Ihr Baby brauchen.« Er grinste. »Und ich hab einen Vorwand, um mal wieder bei Ashana vorbeizuschauen. Es wird, glaube ich, höchste Zeit, dass ich ihr einen Antrag mache, sonst schnappt sie mir noch einer der jungen Männer weg. Sie ist zwanzig Jahre jünger als ich, wissen Sie? Aber ich sag immer, es kommt auf die inneren Werte und darauf an, wie viele Elche ein Mann nach Hause bringt, wenn er auf der Jagd war.«
Sie ließen sich Zeit mit dem Abstieg, und Angus half ihr vor allem in den steilen Kurven, damit sie nicht mit dem Baby stürzte. Der Mond und die Sterne verbreiteten genug Licht. Nur das Nordlicht hielt sich merklich zurück, flackerte in zarten grünen Mustern über den Himmel und schien mit dem Mondlicht zu verschmelzen. Es war kälter geworden. Sie hielt ihr Baby dicht am Körper, achtete darauf, dass sein Gesicht nicht dem eisigen Wind ausgesetzt war, und sprach ihm beruhigend zu: »Bald haben wir es geschafft, Emily! Und dann fahren wir nach Hause. Was meinst du, wie sich dein Daddy freut, wenn wir gesund und munter zurückkehren! Halt durch, mein Kleines!«
Unten angekommen, bereitete sie dem Baby ein warmes Lager auf der Ladefläche und band es mit Lederriemen auf dem Schlitten fest. Im gemächlichen Tempo, damit das Baby nicht durchgeschüttelt wurde, folgte sie dem Oldtimer, der wieder die Führung übernommen hatte. »Nicht so schnell«, rief sie ihrem Leithund zu, »wir haben ein Baby an Bord! Im Indianerdorf könnt ihr es euch ansehen. Und dass ihr mir nicht zu laut bellt, habt ihr gehört?«
Sie fuhren über eine weite Ebene und hatten Glück, dass der Wind inzwischen stark nachgelassen hatte und sie sich auf den Kufen ausruhen konnten. »Ist nicht weit!«, rief der Oldtimer. »Eine Stunde … höchstens … und meine neuen Verwandten sind nette Leute, die haben nichts gegen Weiße, solange sie ihnen nicht das Land wegnehmen. So weit im Norden findet man sowieso nur ein paar Fallensteller, die verrückt genug sind, sich acht Monate des Jahres eisigen Wind um die Nase wehen zu lassen.« Er kicherte. »Sie wird man sogar feiern, Ma’am! Sie sind die Frau, die Dezba, die Hexe, vertrieben hat.«
»Nicht vertrieben … Sie geht freiwillig«, verbesserte ihn Clarissa. Sie schilderte ihm, was Dezba ihr erzählt hatte. »Man hat ihr übel mitgespielt, Angus.«
Sie brauchten fast zwei Stunden für die Fahrt zum Indianerdorf. Clarissa hielt öfter an, um nach ihrer Tochter zu sehen, und ein Teil des Trails war so vereist, dass sie noch langsam fahren mussten. Es war bereits spät am Abend, als sie die kleine Ansammlung von Hütten und Zelten am Ufer des Fish Creek erreichten. Ein größeres Blockhaus, wahrscheinlich das Versammlungshaus, zwei kleinere mit Dächern aus Grassoden und einige Baracken und Zelte. Vor den Zelten brannten Feuer, die Fenster der kleinen Blockhäuser waren erleuchtet, und aus den Schornsteinen quoll Rauch. Etliche Huskys lagen zwischen den Hütten und stimmten ein lautes Heulkonzert an, als sie vor einem der kleinen Blockhäuser hielten und ihre Schlitten verankerten.
Der Häuptling, ein beleibter Mann mit langen weißen Haaren, hieß sie willkommen und grinste breit, als er Angus erkannte. Er sagte etwas in seiner Sprache, das den alten Mann, der ihn verstand, verlegen machte und ihm ein schüchternes Lächeln abrang. Er antwortete in der Sprache des Häuptlings und warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf die junge Frau, die hinter dem Häuptling in der Tür erschienen war. Ashana, nahm Clarissa an, und wahrscheinlich die Tochter des Häuptlings. Sie war beinahe genauso dick wie er.
»Das ist Clarissa«, sagte Angus auf Englisch, »die Frau, der Dezba das Baby gestohlen hat. Sie hat ihre kleine Tochter zurückgeholt und die Hexe nach Norden vertrieben. Dezba wird euch nicht mehr belästigen.« Er wartete, bis Ashana übersetzt hatte, und fuhr fort: »Sie braucht einen Platz für die Nacht und eine Trage für ihr Baby. Ich werde euch mit einigen Fellen bezahlen …«
Der Häuptling lächelte verschmitzt. »Die Felle kannst du mir geben, sobald du den Mut gefunden hast, mich zu bitten, dir meine Tochter zur Frau zu geben. Die Frau, die Dezba, die Hexe, vertrieben hat, braucht nichts zu bezahlen. Sie ist uns jederzeit willkommen.« Er drehte sich zu seiner Tochter um. »Kümmere dich um sie, Ashana. Ich ziehe mich mit Angus in eines der Zelte zurück und rauche die Pfeife mit ihm. Ich glaube, er hat mir etwas zu sagen.«
Clarissa bedankte sich und folgte Ashana mit ihrem Baby in die Blockhütte. Dort war es angenehm warm. Im Schein einer Petroleumlampe saßen ein greiser Mann, eine ältere Frau und zwei junge Frauen um einen Tisch herum und empfingen Clarissa mit freudigen Mienen. Die greise Frau ergriff sogar ihre Hand, ungewöhnlich für eine Indianerin, und sagte einige Worte in ihrer Sprache. Dabei entblößte sie ihr mehr als lückenhaftes Gebiss.
»Sie bedanken sich dafür, dass du die Hexe vertrieben hast«, erklärte Ashana. »Wir alle hatten große Angst vor Dezba. Wir sind froh, dass sie geht.«
Clarissa hatte keine Lust, sie mit der Wahrheit zu überraschen, auch weil ihre Tochter schrie und sie sich dringend um sie kümmern musste. Ashana scheuchte alle anderen Bewohner hinter den Vorhang der Nachtlager zurück und breitete rasch eine Wolldecke auf dem Tisch aus. Dezba hatte sich gut um ihr Baby gekümmert. Seine Windel aus weichem Wildleder war, wie früher bei den Indianern üblich, mit trockenem Moos ausgestopft und hatte es besser geschützt als manche Stoffwindel. Sie beließ es bei der Lederwindel und stopfte sie mit frischem Moos aus, das Ashana von einer der jungen Frauen bekam. Ihrer frisch gewickelten Tochter gab Clarissa die Brust, ein Angebot, das sie nach kurzem Zögern annahm und auch zu genießen schien.
Ashana brachte einen Korb aus Birkenrinde, in dem Clarissa ihr Baby auf dem Rücken tragen konnte, wenn sie weiterfuhr, und war gerade dabei, Tee aufzusetzen, als Angus ohne zu klopfen die Hütte betrat und sagte: »Thomas Whittler und seine Männer kommen. Ich gehe jede Wette ein, dass er es ist. Ich habe ihre Gesichter gesehen. Sie haben eine Fackel dabei. Ein stattlicher Mann mit weißem Bart, ein Weißer und ein Indianer in langen Mänteln. Sie müssen so schnell wie möglich verschwinden! Sofort! Ich versuche inzwischen, sie aufzuhalten. Fahren Sie am Fluss entlang, dort sieht man Sie nicht!«
Clarissa wusste, was ihr blühte, wenn man sie erwischte, und reagierte augenblicklich. Sie ließ sich von Ashana den Korb mit dem Baby auf den Rücken schnallen und rannte nach draußen, stieg auf die Kufen des Schlittens, den Angus bereits aufgerichtet hatte, und fuhr zum Fish Creek hinab. Über den vereisten Bach trieb sie die Hunde nach Westen. »Keine Angst«, tröstete sie ihre Tochter, als sie zu wimmern begann, »dir passiert nichts. Die bösen Männer finden uns nicht. Wir fahren nach Hause zu Daddy.« Sie wich einigen aufgeworfenen Eisschollen aus und schlingerte über den Fluss. »Vorwärts, Emmett! Zurück zum Yukon! Vielleicht treffen wir Alex und den Marshal!«
Ungefähr drei Meilen vom Indianerdorf entfernt verließ sie den Fluss und lenkte den Schlitten nach Süden. Vor ihr lag eine verschneite und vereiste Hügellandschaft, die geheimnisvoll im Licht des Mondes und der Sterne glänzte. Eisiger Wind blies ihr entgegen. Ihr Baby hing gut geschützt in dem Korb, zusätzlich mit Moos ausgepolstert, das Ashana zwischen seinen Körper und die Birkenrinde gestopft hatte. Dass es immer wieder zu weinen begann, lag an den zahlreichen Bodenwellen, die den Schlitten holpern und über die vereisten Hügelkämme schlittern ließen. Selbst mit ihrer großen Erfahrung gelang es Clarissa nur manchmal, das heftige Schlingern auszugleichen.
Trotz der anstrengenden Fahrt, die noch vor ihr lag, spürte sie, wie sich eine schwere Last von ihrer Seele löste. Leider währte ihre Freude über die gelungene Flucht nur kurze Zeit. Als sie eine halbe Stunde später über einen langgestreckten Hügel zum Haupttrail zurückfuhr, sah sie sich plötzlich Thomas Whittler und seinen Männern gegenüber. Die Begegnung kam so plötzlich, dass ihr keine Zeit mehr blieb, den Verfolgern auszuweichen und zu versuchen, ihnen auf diese Weise zu entkommen. Noch bevor es ihr gelang, ihr Gespann zum Stehen zu bringen, hatten auch John Smith und Raven gebremst und richteten ihre Gewehre auf sie. Thomas Whittler grinste schadenfroh.
»Sieh an«, rief er spöttisch, »da bist du ja, du Miststück! Und deinen hässlichen Balg hast du auch dabei!« Seine Sprache erinnerte eher an einen Gangsterboss als an einen erfolgreichen Geschäftsmann. »Du glaubst doch nicht, dass ich mich durch einen so billigen Trick ins Bockshorn jagen lasse.«
Sie wusste, dass sie kaum noch etwas zu verlieren hatte. »Thomas Whittler! Wie tief muss ein Mann sinken, um sich mit zwei Verbrechern wie Smith und Raven zusammenzutun und eine Frau und ihr Baby quer durch Alaska zu verfolgen? Sind Sie schon ein genauso mieser Verbrecher wie Ihr Sohn?«
»Dir wird dein Lachen schon noch vergehen, du miese Hure!«
»Was glauben Sie denn, was passiert, wenn Sie mich umbringen? Der Marshal weiß längst Bescheid und ist Ihnen wahrscheinlich schon auf den Fersen! Und glauben Sie ja nicht, dass Sie sich wieder freikaufen können. Inzwischen wissen sie auch in Alaska, was für ein gemeiner Betrüger Sie sind, und dass Sie bei der Alaska Central genauso betrogen haben wie damals bei der Canadian Pacific. Sie werden am Galgen landen, Mister Whittler!«
»Mag sein, meine Liebe«, erwiderte er, »aber vorher wirst du bezahlen!« Er wandte sich an den Indianer. »Nimm ihr das Baby weg! Bring es irgendwohin, wo man es nicht findet. Wirf den Balg meinetwegen den Wölfen vor.«
Clarissa war vor Entsetzen unfähig, sich zu bewegen. Erst als Raven an dem Korb mit dem Baby zerrte, begann sie sich zu wehren. Wie eine Besessene zog sie an dem Korb, von Panik und Verzweiflung getrieben, bis der Riemen riss und sie rückwärts in den Schnee flog. Sie kam schreiend wieder hoch, schlug mit beiden Fäusten auf den Indianer ein, versuchte ihm den Korb zu entreißen und schluchzte und schrie zugleich, bis sie ein heftiger Ellbogenschlag endgültig außer Gefecht setzte und mit blutiger Nase zu Boden warf.
Leise wimmernd und benommen vor Schmerz musste sie zusehen, wie Raven den Korb mit ihrem Baby auf seinen Schlitten warf und zu einem Wäldchen im Osten fuhr. Der Gedanke, dass ihr Kind nur noch wenige Minuten zu leben hatte, ließ ihre Gedanken taumeln und stürzte sie in einen dunklen Abgrund, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien. Sie fiel schluchzend in die Tiefe, rang mühsam nach Atem und hörte kaum hin, als Thomas Whittler befahl: »Leg sie um, Smith! Ich will ihr Gesicht sehen, wenn sie stirbt.«
»Ich soll sie einfach abknallen, Boss? Aber …«
»Leg sie um, hab ich gesagt!«
»Runter mit dem Gewehr!«, schallte im selben Augenblick die Stimme von Deputy U.S. Marshal Chester Novak von den Hügeln herab. Er und seine Männer hatten sich ihnen unbemerkt genähert und fuhren mit ihren Hundeschlitten in die weite Senke herab. »Weg mit dem Gewehr, habe ich gesagt!«
Smith ließ die Waffe fallen.
»Und jetzt die Revolver. Auch Sie, Whittler!«
Die Männer gehorchten, und der Marshal legte ihnen Handschellen an. »Diesmal trete ich selbst als Zeuge auf«, sagte Novak zu dem Millionär. »Und glauben Sie bloß nicht, dass ich mich von Ihnen kaufen lasse. Männer wie Sie und Ihren Sohn können wir in Alaska nicht brauchen. Es ist vorbei, Whittler.«
»Wo ist Alex? Wo ist mein Mann?«, rief Clarissa verzweifelt.
»Er ist dem Indianer nachgefahren«, antwortete der Marshal.
»Allein?« Sie sprang auf und rannte zu ihrem Schlitten. »Der Indianer hat mein Baby! Er will mein Baby umbringen!« Sie sprang auf die Kufen und lenkte den Schlitten an den Männern des Aufgebots vorbei. »Vorwärts, Emmett!«, feuerte sie ihren Leithund an. »Giddy-up, go, go, go!« Ihre Stimme überschlug sich fast. »Wir müssen Alex helfen! Der Indianer hat mein Baby!«
Sie fuhr so schnell wie noch nie in ihrem Leben, hetzte ihre Huskys über die vereisten Hügel, flog beinahe über die vereisten Kämme und kam auch dann nicht von ihrem Ziel ab, wenn der Schlitten aus der Spur kam und quer über festen Schnee schleuderte. »Schneller! Schneller!«, rief sie, von Panik übermannt. »Alex und Emily darf nichts passieren! Vorwärts, Emmett, go!«
Als sie den Waldrand erreichten, glaubte Clarissa das Fauchen und Knurren eines Wolfs zu hören, aber das konnte auch Einbildung sein. Unbeirrt fuhr sie weiter, den Spuren des Indianers durch den Wald folgend und von einem vertrauten Heulen begleitet, das wie ein triumphierendes Siegesgeheul durch den Wald drang und sich gleich darauf in der Ferne verlor. Bones, ging es ihr durch den Kopf, bist du etwa … Sie führte den Gedanken nicht zu Ende, ließ die Huskys auch im Wald volles Tempo gehen und bremste abrupt, als sie eine Lichtung erreichte und Alex mit dem Baby auf dem Arm dort stehen sah.
»Alex!«, kam es ungläubig über ihre Lippen. Sie sprang noch im Fahren vom Schlitten, rannte stolpernd auf ihren Mann zu und schloss ihn und ihr Baby in die Arme. »Alex! Emily! Und ich dachte, ich sehe euch nie wieder!«
Sie hielten sich eng umschlungen, wie lange, hätten sie später nicht sagen können, und küssten und liebkosten sich abwechselnd, flüsterten immer wieder den Namen des anderen, glücklich und erleichtert, sich wiederzuhaben.
»Ich liebe dich, Clarissa!«, sagte er. »Ich liebe … euch!«
»Und wir lieben dich, Alex.«
»Emily?«, fragte er sehr viel später.
Sie lächelte. »Ich hab dir doch gesagt, dass es ein Mädchen wird.«
»Und was für eins«, erwiderte er stolz.
Sie warf einen Blick auf den Indianer, der mit durchbissener Kehle im Schnee lag und mit leeren Augen zum Himmel starrte. »Ein Wolf?«
»Sieht ganz so aus«, antwortete er. »Seltsam … Sonst greifen sie nur Menschen an, wenn es zu kalt wird und sie keine andere Beute mehr finden.«
»Bones«, flüsterte sie.