28

Zwei Wochen später erreichten sie Vancouver. Es war bereits dunkel, als sie in die Bucht einliefen und auf die Docks am nördlichen Stadtrand zuhielten. Die Stadt war seit ihrer Flucht vor mehr als fünf Jahren rapide gewachsen. Ein riesiges Lichtermeer erstreckte sich über die Hügel und bis in die Außenbezirke hinein. Nur im Nordwesten, wo sich der Stanley Park ausdehnte, herrschte Dunkelheit, vom Flackern einiger Laternen und den wandernden Scheinwerfern eines Automobils einmal abgesehen.

Clarissa stand an der Reling, als sie sich der Anlegestelle näherten, und blickte staunend auf ihre ehemalige Heimatstadt. Ein großartiger Anblick, und doch konnte sie sich nicht vorstellen, noch einmal hier zu leben, sie sehnte sich jetzt schon nach der Einsamkeit der nördlichen Wälder. Schon als Mädchen hatte sie sich in der Natur immer wohler gefühlt, auf der kleinen Ranch ihres Onkels weit außerhalb der Stadt, unter den ausladenden Ästen der Douglasfichten und auf dem Meer, wenn sie mit ihrem Vater im Fischkutter unterwegs war. Die unendliche Weite und die Stille fernab der belebten Stadt hatten sie jedes Mal in ihren Bann gezogen.

Im Hafen überreichte Whittler dem Captain den Rest der Summe und führte Clarissa zur Gangway hinab. Der Matrose, der sie aus der Kabine gelassen hatte, trug ihr Gepäck zu einem bereitstehenden Zweispänner und lud sie auf. Er bedankte sich für das Trinkgeld, das ihm der Millionär in die Hand drückte und verabschiedete sich mit einem spöttischen Lächeln von Clarissa.

Clarissa war froh, dass im Frachthafen nur wenige Lampen brannten und Whittler nicht sah, wie sie errötete. Auf dem Kutschbock des Zweispänners saß ein Schwarzer, der sich mehrmals verbeugte, als sie einstiegen, und wohl bei Whittler angestellt war. Ein treuer Untergebener, der seinen Chef niemals anschwärzen und auch keine Gerüchte herumerzählen würde, weil er zu den wenigen Schwarzen zählte, die überhaupt Arbeit hatten. Er stellte keine Fragen, und wenn er sich Gedanken darüber machte, warum ein Millionär mit einem Frachtschiff kam und sich mit einer jungen Dame, die nicht mit ihm verwandt war, über Nebenstraßen zu seiner Villa fahren ließ, sagte er es nicht.

»Ich sage es Ihnen noch einmal, Ma’am«, sagte Whittler, als sie den Hafen verließen, »damit Sie später nicht sagen können, Sie hätten es nicht gewusst. Falls Sie versuchen sollten, vor mir davonzulaufen, so wie vor einigen Jahren, als mein Sohn hinter Ihnen her war, oder zur Polizei rennen oder sonst eine Dummheit begehen, geht es Ihrer Freundin schlecht. Entweder verliert sie ein Ohr oder einen Finger oder ein Auge oder ihr Leben, je nachdem, was Sie angestellt haben. Also benehmen Sie sich gefälligst anständig. Verstanden?«

Sie nickte stumm, hatte nur halb hingehört, als Whittler seine Drohungen wiederholt hatte. Die unruhige Fahrt über unbefestigte Nebenstraßen ließ ihren Magen rumoren und Übelkeit in ihr aufsteigen. Normalerweise machte ihr eine bewegte Fahrt nichts aus, sie war lange genug zur See gefahren, und als Musherin stand man noch unsicherer auf den Kufen, aber inzwischen ließ sich nicht mehr verleugnen, dass sie schwanger war, und ihre Empfindlichkeit wuchs. »Halten Sie an!«, rief sie dem Kutscher zu. »Halten Sie sofort an!«

Der Kutscher gehorchte, und sie schaffte es gerade noch, sich aus dem Wagen zu lehnen, bevor sie sich würgend übergab. Mit einem sauberen Taschentuch, das Whittler ihr reichte, wischte sie sich den Mund ab. Sie atmete einige Male tief durch, hielt ihr Gesicht in den Nieselregen und genoss die Kühle auf ihrem Gesicht. Seufzend lehnte sie sich auf ihrem Sitz zurück.

»Tut mir leid, wenn Ihnen die Seereise nicht bekommen ist«, entschuldigte sich Whittler mit einem falschen Lächeln. »Nach einer langen Fahrt fällt es vielen schwer, das Gleichgewicht zu halten, wenn sie wieder an Land sind.«

Clarissa steckte das Taschentuch ein. »Mir nicht, dazu war ich zu oft mit meinem Vater unterwegs. Ich bin schwanger, oder haben Sie das schon vergessen? Wenn meinem Baby was passiert, mache ich Sie verantwortlich.«

»Keine Angst, ich besorge Ihnen einen Arzt.«

»Einen Gefängnisarzt?«

»Wenn Sie keine Dummheit begehen, und alles zu meiner Zufriedenheit verläuft, könnte ich mich dazu durchringen, auf eine Anklage wegen Diebstahls zu verzichten. Vorausgesetzt, die Gefängnisstrafe meines Sohnes wird reduziert. Es liegt allein bei Ihnen, wo Ihr Kind das Licht der Welt erblickt.«

»Ihr Sohn ist ein Verbrecher, Sir.«

»Und ein Whittler.«

»Ein gemeiner Verbrecher wie sein Vater!«

Die Ohrfeige kam so plötzlich, dass sie zu keiner Gegenwehr fähig war. Seine Hand klatschte so fest auf ihre Wange, dass sie zur Seite geschleudert wurde und beinahe vom Wagen fiel. Ihre Haut brannte wie Feuer, und nur, weil sie sich tief in ihrer Ehre gekränkt sah, spürte sie den Schmerz nicht. »Tun Sie das nie wieder, Mister!«, erwiderte sie so ernst und bestimmt, dass er unwillkürlich vor ihr zurückwich. »Sonst werden Sie es teuer bezahlen.«

Er setzte zu einer Entschuldigung an, sagte aber nichts.

Clarissa rückte so weit wie möglich von ihm ab und gehorchte ihrem Stolz, der sie davon abhielt, sich an die schmerzende Wange zu greifen oder zu weinen. Stoisch ertrug sie den Rest der Fahrt, die sie über die Robson Street nach Nordwesten und die Broughton Street ins vornehme West End führte. Dort hatte sich nichts verändert. Noch immer säumten herrschaftliche Häuser mit Kies­auffahrten die Straße, die von Laubbäumen begrenzt wurde und im matten Schein gebogener Lampen glänzte. Selbst tagsüber war in dieser abgeschiedenen Idylle kaum etwas vom Lärm der Innenstadt zu hören.

Die Whittlers wohnten noch im selben Haus, einer zweistöckigen Villa mit turmähnlichen Aufbauten und einem steilen Giebeldach. Der Kutscher nahm die hufeisenförmige Kiesauffahrt und hielt vor dem Haus, kletterte vom Wagen und trug das Gepäck ins Haus. Nachdem er sich bei Whittler erkundigt hatte, wann er wieder gebraucht wurde, fuhr er den Wagen hinters Haus.

Clarissa folgte ihrem einstigen Herrn in die Empfangshalle der Villa und fand alles noch wie vor einigen Jahren vor, als sie Whittlers Haushälterin gewesen war, nur dass die Möbel jetzt abgenutzt wirkten, die Tapeten blass geworden waren und man mit bloßem Auge sah, dass schon einige Tage nicht mehr saubergemacht worden war. Es waren keine Angestellten zu sehen.

»Meine Frau hält sich schon seit einigen Wochen bei ihrer Schwester in Toronto auf«, ließ er sich zu einer Erklärung herab. »Der Prozess hat sie nervlich sehr belastet, und sie braucht dringend etwas Ruhe. Ich habe ihr nahegelegt, so lange dort zu bleiben, bis die Berufungsverhandlung vorüber ist.«

»Sie haben sie weggeschickt, damit sie keine Fragen stellt.«

Whittler überhörte die Frage. »Sie werden wieder als Haushälterin für mich arbeiten«, sagte er, »und da ich im Augenblick keine Köchin beschäftige, werden Sie auch die Arbeit in der Küche übernehmen. Augustus, der Schwarze, der uns hergefahren hat, wird Sie mit Lebensmitteln versorgen.«

»Sie wollen mich hier einsperren?«

»Ich will verhindern, dass die Staatsanwaltschaft von Ihrer Anwesenheit erfährt«, redete er sich heraus. »Das dürfte auch in Ihrem Interesse sein. Je spektakulärer Ihr Auftritt vor Gericht ausfällt, umso wahrscheinlicher ist, dass mein Sohn mit einer milderen Strafe davonkommt. Ihre Aussage wird unser Anwalt in den nächsten Tagen mit Ihnen besprechen.« Er erwartete wohl Widerspruch, doch als er ausblieb, fuhr er fort: »Sie wohnen im selben Zimmer wie damals. Ihre Uniform liegt im Schrank. Und vergessen Sie nicht, Ihre Freundin befindet sich in meiner Gewalt. Benehmen Sie sich so, wie ich es von Ihnen erwarte, dann geschieht ihr nichts … Aber nur dann.«

Diesmal nahm ihr niemand die Tasche ab, und sie war gezwungen, die Reisetasche allein die schmale Treppe in ihre Kammer unterm Dach hinaufzutragen. Auch dort hatte sich nichts verändert. Dasselbe einfache Bett, ein Schrank und ein kleiner Tisch mit Stuhl. Auf dem Tisch stand eine Petroleumlampe. Elektrisches Licht gab es nur im Erdgeschoss und im ersten Stock.

Sie fühlte erneut Übelkeit in sich aufsteigen, als sie die vertraute Umgebung sah. In dieser Kammer hatte Frank Whittler versucht, sie zu vergewaltigen, und sie hatte ihn in ihrer Panik von sich gestoßen, so fest, dass er mit dem Kopf gegen die Wand geprallt war und für einen Augenblick die Besinnung verloren hatte. Danach war ihr nur die Flucht geblieben. Einer der furchtbarsten Augenblicke in ihrem Leben und der Beginn einer Hetzjagd, die auch mit der Verhaftung von Frank Whittler noch nicht zu Ende war. Ausgerechnet sein Vater, der ihn anfangs verstoßen hatte, setzte sich plötzlich für ihn ein.

Sie stellte ihre Reisetasche vor den Schrank, zog ihren Mantel aus und warf ihn auf den Stuhl. Mit feuchten Augen trat sie ans Fenster und blickte über die Häuser am Ende der Straße auf die English Bay hinaus. Irgendwo dort draußen waren ihre Eltern. Ihr Vater war während eines Sturms über Bord gespült worden und ertrunken, die Mutter war, von Verzweiflung getrieben, ihm wenige Wochen später freiwillig gefolgt und ebenfalls ertrunken. Es gab kein Grab, zu dem sie pilgern konnte, nur eine Inschrift an einem Baum im Stanley Park. Arthur Howe, August 24, 1892 und Charlotte Howe, March 3, 1893. Neben beide Daten hatte sie ein Kreuz geritzt. Und es gab die Bilder ihrer Eltern, die ihr in Erinnerung geblieben waren, das zufriedene Lächeln ihres Vaters nach einem großen Fang, die Erleichterung ihrer Mutter über seine glückliche Rückkehr nach einem heftigen Sturm.

Sie faltete die Hände über dem Bauch. Ihr kam es beinahe so vor, als hätte sich dort etwas geregt, obwohl es eigentlich noch zu früh dafür war. War ihr Bauch dicker geworden? War ihr Kind schon so groß, dass es mehr Platz brauchte? In welchem Monat war sie überhaupt? Sie war viel zu verwirrt, um jetzt rechnen zu können. Zu viel war in den letzten Wochen auf sie eingestürzt. Gutes und Schlechtes, vor allem aber Schlechtes. Als hätten sich die bösen Geister, von denen der greise Medizinmann gesprochen hatte, mit Thomas Whittler und seinen Handlangern vereinigt, um ihr das Leben so schwer wie möglich zu machen. Alex hatten sie fast schon besiegt, und jetzt war sie dran, fernab ihrer neuen Heimat, ausgerechnet in der winzigen Kammer, in der sie ihnen zum ersten Mal auf den Leim gegangen war. Sie fluchte leise vor sich hin.

Hier war sie wirklich allein. Ohne die Hand- und Fußfesseln, die ihr Smith angelegt hatte, und doch unfähig, dem Mann, der sie aus ihrer neuen Heimat entführt hatte, zu entfliehen. Genauso gut hätte sie in Ketten liegen können. Ihre einzige Hoffnung war der Brief, der jetzt schon auf dem Weg von Valdez nach Fairbanks und spätestens in weiteren zwei Wochen bei Dolly sein musste. Eine vage Hoffnung nur, räumte sie ein, denn wer sagte ihr, dass man tatsächlich herausfand, in welcher Hütte Betty-Sue gefangen gehalten wurde? Wenn Frank Whittler seine gerechte Strafe bekommen sollte und sie verhindern wollte, dass er sich doch noch auf irgendeine Weise an ihr rächte, musste man ihre junge Freundin befreien und die Zeitung informieren. In frühestens drei Wochen, so rechnete sie am nächsten Morgen aus, würde sie mit der Nachricht rechnen können. Aber auch nur dann, wenn sich alle guten Geister auf ihre Seite schlugen und ihr das Glück endlich einmal wieder hold war.

Auf Bones konnte sie in Vancouver nicht zählen. Selbst ein Geisterwolf ließ sich in einer Großstadt nicht blicken – nahm sie jedenfalls an. Und Alex wusste wahrscheinlich noch gar nichts von ihrer Entführung. Oder hatte der greise Medizinmann in einem Traum gesehen, was ihr widerfahren war, und war Alex trotz seiner Verwirrung schon auf ihrer Spur? Sie glaubte nicht, dass er schon bereit war, es mit einem so mächtigen Gegner wie Thomas Whittler aufzunehmen, und war davon überzeugt, dass der Indianer genauso dachte und ihm die Wahrheit verschwieg. Oh, wie sehnte sie sich danach, Alex wieder in die Arme zu schließen. Ohne ihn war ihr Leben nicht vollkommen, und der Gedanke, ihr Kind müsste ohne ihn aufwachsen, erschien ihr beinahe unerträglich. Weder Alex noch sie durften das Kind jemals im Stich lassen.

Die nächsten Tage verliefen eintönig. Sie beschränkte sich darauf, die Wohnung zu putzen und servierte Whittler Frühstück, Mittag- und Abendessen. Sie selbst aß in der Küche. Sie wechselte nicht mehr Worte mit ihm als unbedingt nötig und nickte nur, als er ihr mitteilte, dass die Verhandlung in drei Wochen stattfinden würde. Die magischen drei Wochen, vielleicht gerade noch rechtzeitig, um von Betty-Sues Rettung zu erfahren und nach Alaska zurückzukehren. Sie war so darauf fixiert, dass sie gar nicht merkte, wie sehr sich das Schicksal wenden musste, wenn sie wirklich eine Chance haben wollte. Viel wahrscheinlicher war es doch, dass Betty-Sue nicht gefunden wurde und sie gezwungen war, zugunsten von Frank Whittler auszusagen. Und dass man sie nach ihrer Aussage nicht einfach ziehen lassen würde, war auch klar.

Ungefähr eine Woche nach ihrer Ankunft in Vancouver geschah etwas Unvorhergesehenes. Thomas Whittler saß gerade beim Abendessen und sie war in der Küche und setzte Kaffee auf, als ein Zweispänner vorfuhr und Louise Whittler vom Kutschbock stieg. Der Kutscher folgte ihr und stellte ihre Koffer in der Eingangs­halle ab. Er hatte gerade sein Trinkgeld kassiert und das Haus verlassen, als die Türen zum Esszimmer und zum Dienstbotenbereich aufgingen und Whittler und Clarissa in der Eingangshalle erschienen.

Mehrere Sekunden vergingen, während der Louise Whittler den Blick mehrmals zwischen ihrem Mann und Clarissa hin und her wandern ließ, und bevor sie sagte: »Was hat das zu bedeuten, Thomas? Ich dachte, du bist in Alaska? Und das … das ist doch Clarissa, die unseren Sohn ins Gefängnis geschickt hat? Was tut sie hier, Thomas? Was tut diese Frau in unserer Villa?«

Ihre Stimme war immer schriller geworden, und Whittler suchte verzweifelt nach einer passenden Antwort, doch Clarissa war schneller und erwiderte: »Ich bin nicht freiwillig hier, Mrs. Whittler. Ihr Mann hat mich entführt! Zwei seiner Handlanger halten eine meiner Freundinnen in Alaska gefangen und werden sie töten, falls ich zu fliehen versuche oder sonst etwas versuche.«

»Stimmt das?«, fragte Louise Whittler scharf. »Du hast eine unschuldige Frau entführen lassen und sie hier gewaltsam nach Vancouver gebracht? Wenn das Gericht davon erfährt, bleibt es bei dem ›Lebenslänglich‹ für Frank, und du kannst froh sein, wenn du nicht auch im Gefängnis landest. Reicht es denn nicht, dass du uns diesen Skandal eingebrockt hast und uns die Canadian Pacific den Laufpass gegeben hat? Wie konntest du so etwas tun?«

Ihr Mann ging ein paar Schritte auf sie zu. »Clarissa soll in der Berufungsverhandlung für Frank aussagen, Louise. Sie soll dem Gericht mitteilen, dass es damals keine Vergewaltigung war und sie bei ihren Schilderungen übertrieben hat. Selbst wenn die anderen Anklagepunkte bestehen bleiben, werden sie seine Strafe reduzieren. Ich bin sogar sicher, dass sie es tun. Und wenn der Mordzeuge so geldgierig ist, wie ich vermute, kriegen wir Frank vielleicht ganz frei … Oder er bekommt höchstens ein paar Jahre. Ich musste es tun, Louise!«

Louise Whittler sank ihrem Mann in die Arme und begann zu weinen. »Das … das wäre schön«, stammelte sie, »ich habe nie geglaubt, dass … dass unser Frank so schlimm ist, wie manche … manche Leute behaupten. Er war doch immer ein … ein guter Junge, auch …« Sie schniefte laut. »… auch wenn er manchmal über die Stränge geschlagen hat. Und du meinst wirklich … Du meinst wirklich, dass sie seine Strafe … dass er nicht ins Gefängnis muss?«

»Wenn Clarissa für ihn aussagt …«

Sie hob den Kopf. »Das werden Sie doch tun, nicht wahr?«

Clarissa wäre am liebsten davongelaufen, wusste aber, dass sie Louise Whittler eine Antwort schuldig war. Sie hatte sogar Verständnis für sie, denn sie trug sicher die geringste Schuld an den Verfehlungen ihres Sohnes und war in die Machenschaften ihres Mannes nie eingeweiht gewesen. »Solange Sie meine Freundin gefangen halten, bleibt mir wohl nichts anderes übrig, Ma’am. Aber Ihr Sohn …« Sie konnte nicht anders. »Ihr Sohn ist ein gemeiner Mörder. Ich habe zwei seiner Opfer mit eigenen Augen gesehen, und würden die Handlanger Ihres Mannes meine Freundin nicht mit einem Messer bedrohen und hätte er mich von seinen Wachhunden nicht an Händen und Füßen fesseln und wie eine Gefangene durch die Wildnis karren lassen, würde ich …«

»Hören Sie auf!«, schrie Louise Whittler. »Hören Sie sofort auf, oder ich bringe Sie um!« Sie verlor die Nerven und ging mit beiden Fäusten auf sie los, packte sie an der Kehle und drückte so fest zu, dass Clarissa keine Luft mehr bekam. »Wie können Sie es wagen, so über meinen Sohn zu reden, Sie … Sie …« Ihr fehlten die Worte. »Warum … warum sagen Sie … Sie so was?«

Thomas Whittler war so überrascht vom Ausbruch seiner Frau, dass er jetzt eingriff. Er zog sie von Clarissa weg und nahm sie in die Arme. Sie schluchzte wie ein kleines Kind. »Es wird alles gut«, sagte er. »Sie wird für uns aussagen, und Frank bekommt eine mildere Strafe … ein paar Jahre … höchstens.« Sein Blick richtete sich auf Clarissa, und ein strenger Ausdruck trat in seine Augen. »Gehen Sie auf Ihr Zimmer … Sofort! Gehen Sie schon!«

Clarissa ging wortlos zur Treppe.