27
Sie betrachtete die Fotografie im Lichtschein ihrer Petroleumlampe und spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Der Anblick ihrer verschüchterten Freundin machte ihr schwer zu schaffen, und sie hoffte nur, dass ihr die Entführer nichts antaten. Betty-Sue hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Sie war nur in die Hände ihrer Entführer geraten, weil sie ihre Freundin war und Whittler nach einem wirksamen Druckmittel gesucht hatte. Ein perfider Schachzug, auf den nur ein hinterhältiger Schurke wie er kommen konnte.
Sie kannte die Männer auf der Fotografie nicht und hatte keine Ahnung, wo die Aufnahme entstanden sein könnte. In Fairbanks gab es mehrere Fotografen, aber vielleicht hatte Whittler auch einen Fotografen aus Dawson City oder anderswo geschickt, die Aufnahme zu machen. Mit Geld ließ sich vieles erkaufen, auch die Verschwiegenheit eines Fotografen. Außer den beiden Männern, die wie Goldsucher gekleidet waren, konnte man auf der Fotografie kaum etwas erkennen. Die Umrisse einer Hüttenwand, ein Elchgeweih und ein Foto, das nur verschwommen zu sehen war. Zwei Petroleumlampen, die von Stützbalken herunterhingen und die Szene auf gespenstische Weise beleuchteten.
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und suchte nach Briefpapier und einem Umschlag, doch die Schubladen der einzigen Kommode waren leer. Enttäuscht blickte sie in die Runde. Erst als ihr Blick auf den Anorak fiel, den sie an einen Haken neben der Tür gehängt hatte, erinnerte sie sich an den Merkzettel, den sie zum Einkaufen nach Fairbanks mitgenommen hatte. Der gefaltete Briefbogen, den Dolly ihr gegeben hatte, und der Bleistift waren noch in der rechten Tasche. Sie setzte sich auf den Bettrand, nahm die Bibel vom Nachttisch als Unterlage und schilderte Dolly in knappen Worten, was geschehen war. »Ich weiß nicht, wann die neue Verhandlung stattfinden wird, und ob Thomas Whittler mich ins Gefängnis werfen lässt, aber solange Betty-Sue in der Gewalt dieser Männer ist, muss ich alles tun, was er von mir verlangt. Zeig die Fotografie herum. Vielleicht erkennt jemand die Männer oder die Hütte. Der Marshal soll Betty-Sue so schnell wie möglich befreien. Erst wenn Betty-Sue frei ist, kann ich versuchen, Whittler zu entkommen. Schick ein Telegramm an die Province, die größte Zeitung in Vancouver, die bringen dann bestimmt eine Meldung, dann weiß ich, dass Betty-Sue nichts mehr passieren kann. Sag Alex nur etwas, falls er nach Hause kommt. Und sag ihm und Jerry und allen anderen Männern, die es gut mit mir meinen, dass es keinen Zweck hat, mir nach Vancouver nachzureisen. Das würde viel zu lange dauern. Ich muss versuchen, allein aus diesem Schlamassel herauszukommen. Bisher hab ich doch immer geschafft, wieder aufzustehen, wenn ich am Boden lag, oder etwa nicht? Es grüßt Dich Deine Freundin Clarissa.«
Sie faltete den Brief zusammen und verstaute ihn zusammen mit der Fotografie in ihrer Manteltasche. Den ersten Schritt hatte sie getan, doch es würde noch wesentlich mehr Anstrengung und einer großen Portion Glück bedürfen, um den Brief auf den Weg nach Norden zu bringen. Nervös blickte sie durch das kleine Fenster auf das Meer hinaus. Düstere Nebelschwaden hingen über dem Meer und ließen kaum etwas erkennen. Der nächste Hafen, den sie ansteuerten, war Sitka, ein ehemals russischer Handelsposten, der zu einer geschäftigen Stadt herangewachsen war. Es würde ihr nicht schwerfallen, dort einen Umschlag zu besorgen, aber wie es ihr gelingen sollte, das Schiff zu verlassen und ungesehen in die Stadt und wieder an Bord zu kommen, wusste sie noch nicht.
Sie erreichten die Stadt am frühen Morgen. Wie Perlen an einer Schnur zogen sich die Häuser der Hauptstraße an der halbmondförmigen Crescent Bay entlang. Der Nebel war durchlässiger geworden, und pinkfarbenes Sonnenlicht ließ die beiden Türme der von Russen gegründeten St. Michael’s Cathedral glänzen. Clarissa stand in ihrem Mantel an der Reling, als die Humboldt in den Hafen fuhr, doch ihre Hoffnung, Whittler könnte ihr mehr Freiheiten gewähren, erwies sich als trügerisch. Noch während der Frachter anlegte, winkte er sie in ihre Kabine und verschloss sie mit dem Schlüssel, den er sich vom Captain hatte geben lassen. Sie verwünschte ihn in Gedanken, wusste aber auch, dass sie sich mit einer Schimpftirade nur noch mehr schaden würde.
Durch das schmutzige Fenster beobachtete Clarissa, wie die Matrosen und Hafenarbeiter die Fracht löschten, auf dem Pier stapelten oder auf die bereitstehenden Fuhrwerke luden. Thomas Whittler blieb in seinem langen Pelzmantel, der eigentlich viel zu warm für den Frühling war, selbst in Alaska, an der Reling stehen und zündete sich eine Zigarre an. Als der Captain erschien, nahm er die Zigarre aus dem Mund und sagte: »Ah, da sind Sie ja, Captain! Sie kennen doch sicher ein gutes Lokal in Sitka. Die Kost, die mir Ihre Matrosen vorsetzen, erscheint mir, gelinde gesagt, etwas eintönig. Mir ist mehr nach Rühreiern mit Schinken und starkem Kaffee, von dem ich keine Magenschmerzen bekomme. So was gibt es doch? Kommen Sie, ich lade Sie ein!«
Captain McLain schien auf eine solche Einladung gewartet zu haben und lächelte zufrieden. »Eine gute Idee, Sir. Bei Rosie’s gibt’s das beste Essen nördlich von Vancouver, und der Kaffee soll auch nicht zu verachten sein. Ich persönlich bevorzuge Tee mit Rum.« Er deutete mit dem Daumen hinter sich. »Und die Lady bleibt in ihrer Kabine? Die muss einiges auf dem Kerbholz haben, wenn Sie so streng mit ihr sind. Wir könnten sie doch mitnehmen.«
»Nicht Ihr Problem, Captain. Sie haben Ihr Geld bekommen, und damit hat es sich. Ich will weder, dass Sie oder einer Ihrer Matrosen sich der Dame in irgendeiner Weise nähern, noch kann ich zulassen, dass über sie gesprochen wird. Sie haben gutes Geld bekommen, mit Sicherheit mehr, als Sie in einem Jahr auf Ihrem Frachter verdienen, also kein Wort mehr über die Dame.«
»Aye, Sir. Ich schweige wie eine Muschel. Nur schade, dass eine so hübsche Frau …« Er sah den warnenden Blick in Whittlers Augen. »Gehen wir.«
Clarissa blickte den Männern hinterher, sah sie das Schiff verlassen und zur Hauptstraße hinaufgehen. Ein betrügerischer Millionär und ein bestechlicher Schiffskapitän, der nicht davor zurückschreckte, sie der Willkür von Whittler zu überlassen. Sie war nahe daran, verächtlich auf den Boden zu spucken. Keinen Funken Ehre hatten diese beiden Männer im Leibe, der eine geachtet wegen seiner Stellung und seines Geldes, der andere wegen seiner Uniform, sie waren nicht besser als Smith und Raven, Whittlers Handlanger.
Enttäuscht lehnte sie ihre Stirn gegen das kühle Fenster. Solange sie in ihrer Kabine eingeschlossen war, gab es keine Möglichkeit, den Brief abzuschicken. Die Tür war fest verschlossen. Zwei Mal hatte sich der Schlüssel im Schloss gedreht, und selbst ein Mann hätte es schwer gehabt, sie mit Gewalt aufzureißen. Und das Fenster ließ sich ohnehin nicht öffnen. Sie hätte die Scheibe einschlagen müssen, um nach draußen zu kommen, und auch das wäre bei dem dicken Glas nicht einfach gewesen. Selbst wenn sie es geschafft hätte, würde man das Klirren bis in den Hafen und auf die Hauptstraße hören.
Sie überlegte angestrengt. Je eher sie es schaffte, den Brief in einem Post Office abzugeben, umso größer war die Chance, dass sie Betty-Sue befreiten und ihr, Clarissa, zumindest die Möglichkeit eröffneten, Thomas Whittler zu entkommen. Weiter südlich, an der kanadischen Küste, konnte es bereits zu spät sein. Schon jetzt war die Hoffnung sehr gering, dass der Brief innerhalb weniger Tage bei Dolly ankam und sie es schaffte, den Aufenthaltsort der armen Betty-Sue oder ihrer Entführer zu bestimmen und dabei half, ihre junge Freundin aus der Gewalt ihrer Entführer zu befreien. Dem Gedanken, der Marshal könnte daraufhin gleich die North West Mounted Police alarmieren gab sie sich erst gar nicht hin. Dazu müssten die Entführer schon ein umfassendes Geständnis ablegen, und damit war nicht zu rechnen. Thomas Whittler hatte ihnen sicher versprochen, sich um sie zu kümmern, falls man ihnen auf die Schliche käme. Sie musste schon selbst versuchen, ihm zu entkommen.
Vor ihrer Kabine wurden Schritte laut. Sie trat rasch vom Fenster weg und beobachtete, wie ein junger Matrose daran vorbeiging und vor ihrer Tür stehen blieb. »Alles in Ordnung, Ma’am?«, fragte er. Seine Stimme war deutlich zu hören. Sie klang ein wenig schüchtern. »Soll ich Ihnen einen Tee holen?«
Clarissa überlegte. Als Mann könnte sie den Matrosen vielleicht überwältigen und bewusstlos schlagen, aber um gegen einen jungen Matrosen die Oberhand zu behalten, war sie viel zu schwach. Was hätte es auch genützt? Sobald er aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht wäre, hätte er seinen Captain und Thomas Whittler alarmiert. Es musste eine andere Möglichkeit geben.
»Nein, danke.« Sie trat ans Fenster und betrachtete den Matrosen von der Seite. Ein junger Mann, etwas zu kräftig und nicht gerade eine Schönheit, der anscheinend etwas zu viel Rum in seinen Tee geschüttet hatte und leicht schwankte. »Aber Sie könnten die Tür aufschließen und mich rauslassen. Mister Whittler hält mich für eine Diebin und glaubt, dass ich ihm weglaufen könnte, aber das stimmt nicht. Ich habe noch nie etwas gestohlen und finde es ziemlich schäbig von ihm, mich in meiner Kabine einzusperren. Lassen Sie mich raus, Matrose. Ich will mich doch nur in der Stadt ein wenig umsehen.«
»Das geht nicht, Ma’am. Der Captain hat’s verboten.«
»Der Captain?«
»Der Captain und Mister Whittler.«
»Die beiden brauchen es doch gar nicht zu erfahren«, sagte Clarissa, »bis sie vom Frühstück zurück sind, bin ich längst wieder in meiner Kabine.« Sie versuchte ihrer Stimme einen verführerischen Klang zu geben. »Tun Sie einer Lady diesen kleinen Gefallen, Matrose. Es soll nicht zu Ihrem Schaden sein.«
»Wie meinen Sie das, Ma’am?« Er klang nervös.
»Ich könnte Ihnen einige Goldkörner geben. Viel habe ich nicht, aber …«
»Ein Kuss wäre mir lieber.«
Clarissa erschrak. Es gab Schöneres, als von einem angeheiterten Matrosen geküsst zu werden, aber wenn es die einzige Möglichkeit war … »Okay.«
»Okay?«
»Okay … aber nur einen kurzen.«
»Auf den Mund.«
Sie schluckte verlegen. »Auf den Mund.«
Diesmal schwieg der Matrose. Sie hatte schon Angst, dass er sich aus dem Staub gemacht hatte, dann hörte sie ihn sagen: »Aber ich hab keinen Schlüssel. Den hat Mister Whittler mitgenommen. Es sei denn …« Wieder eine längere Pause, und dann: »Auf der Brücke hängt noch einer. Der passt überall.«
»Dann holen Sie ihn, Matrose!«
»Ich heiße Jim … Jim Collier.«
Sie verbarg mühsam ihre Ungeduld. »Holen Sie ihn, Jim!«
Er verschwand, und sie glaubte schon, sie hätte ihn mit ihrer Zusage so erschreckt, dass er nicht mehr wiederkommen würde, als erneut Schritte erklangen und der Matrose am Fenster vorbeikam. Er blieb vor ihrer Tür stehen und zögerte lange. »Und Sie geben mir wirklich einen Kuss? Kein Witz?«
»Nur, wenn Sie die Tür aufmachen.«
Sie hörte, wie der Schlüssel ins Schloss geschoben und gedreht wurde. Die Tür sprang auf, und der Matrose erschien auf der Schwelle. Bei ihrem Anblick errötete er doch ein wenig.
Sie überlegte nicht lange, trat auf ihn zu und drückte ihm einen Kuss auf die aufgesprungenen Lippen. Er schmeckte nach Rum und Tabak und dem Haferbrei, den es zum Frühstück gegeben hatte. Nur mühsam widerstand sie dem Drang, seinen Speichel von ihren Lippen zu wischen. Verzeih mir, Alex, entschuldigte sie sich in Gedanken, aber anders komme ich hier nicht raus.
»Sie warten hier, bis ich zurück bin. Ich brauche nicht lange.«
Der Matrose strahlte über beide Backen.
»Haben Sie mich gehört? Sie sollen in meiner Kabine warten, bis ich wieder hier bin. Ich brauche nicht lange. In einer halben Stunde bin ich zurück.«
»Aye, Ma’am. Und dann bekomme ich noch einen Kuss.«
»Wenn es unbedingt sein muss, Jim. Ich gehe jetzt.«
Sie spähte vorsichtig aus der Tür, konnte niemanden an Deck sehen und stieg rasch zur Gangway hinunter. Mit hochgesteckten Haaren, um nicht sofort als Frau erkannt zu werden und dadurch mehr Aufmerksamkeit zu erregen, ging sie von Bord. Sie eilte an einigen Hafenarbeitern vorbei, die ihr dennoch neugierig nachstarrten, und erreichte die Hauptstraße, die morastig und von zahlreichen Wasserlachen übersät war. In Sitka kam der Frühling einige Wochen früher als in Fairbanks, und es war längst kein Schnee mehr zu sehen. Dafür regnete es oft. Sie stieg über die Bretter, die man über den Schlamm gelegt hatte und flüchtete unter das Vorbaudach eines großen Gemischtwarenladens.
Ohne sich um zwei Frauen zu scheren, die mit ihren Einkaufskörben vor der Auslage standen und sich lautstark über die Verfehlungen ihrer Männer unterhielten, blickte sie zum Hafen hinunter. Die Männer, die ihr nachgestarrt hatten, kümmerten sich längst wieder um ihre eigenen Angelegenheiten und schienen sie bereits vergessen zu haben. An Bord der Humboldt war überhaupt niemand zu sehen, anscheinend hatte der Captain den meisten Männern heute Freigang gewährt. Dumpfes Tuten kündigte die Ankunft eines weiteren Dampfschiffes an, das langsam aus dem Dunst über der Bucht hervorkam und sich dem Pier für Passagierschiffe näherte. Ein stattliches Schiff, ungefähr so groß wie die Humboldt, nur schlanker und eleganter und mit mehr Kabinen.
»Das Dampfschiff nach Valdez«, sagte eine der beiden Frauen. »Haben Sie schon gehört, dort oben soll es einen neuen Goldrausch geben. Ich habe meinem Mann schon gesagt, noch einmal mache ich so was nicht mit, ich nicht!«
»In Fairbanks … da sollen die Nuggets im Ufersand liegen.«
»Alles nur Gerede, Emma. Mich kriegen da keine zehn Pferde hin.«
Clarissa hätte ihr gern gesagt, dass sie vollkommen richtig mit ihrer Einschätzung lag, hatte aber nur Augen für das Dampfschiff, das in diesem Augenblick am Pier festmachte und seine Passagiere an Land entließ. Hauptsächlich Männer, die zu den Goldfeldern im Norden unterwegs waren und sich in Sitka mit Ausrüstung und Proviant eindecken wollten, bevor die Preise unerschwinglich wurden. Einige steuerten zielstrebig die Saloons an, wollten sich wohl noch einmal Mut antrinken, bevor sie wieder an Bord gingen.
Das Dampfschiff nach Valdez, wurde ihr klar, und plötzlich keimte wieder Hoffnung in ihr auf. Wenn einer der Passagiere ihren Brief mitnahm, würde er in ein paar Tagen in Valdez und wenig später bei Dolly ankommen, vielleicht sogar noch, bevor die Humboldt in Vancouver anlegte. Frachtschiffe waren wesentlich länger als Passagierschiffe unterwegs. Sie betrat den Gemischtwarenladen, wartete ungeduldig, bis sie endlich an der Reihe war, und verlangte zum Missfallen des älteren Verkäufers einen Umschlag, den er ihr umsonst gab, als sie mit einem Goldkorn bezahlen wollte. Seine Miene beruhigte sich im nächsten Augenblick, als mehrere Passagiere des angekommenen Dampfschiffes mit langen Einkaufslisten seinen Laden betraten.
Sie steckte die Fotografie und ihren Brief in den Umschlag, klebte ihn sorgfältig zu und schrieb Dollys Adresse darauf. Mit dem Umschlag in der Hand kehrte sie auf den Gehsteig zurück, gerade rechtzeitig, um den Captain des Passagierschiffes an Land gehen zu sehen. Sie erkannte ihn an den vier Streifen auf den Schultern und den Ärmeln seiner Uniform und der eindrucksvollen Schirmmütze. Ein beleibter Mann mit einem eindrucksvollen Bart, ähnlich wie ihn Buffalo Bill trug, der vor dem Büro der Alaska Steamship Company stehen blieb und sich eine Pfeife anzündete.
Clarissa überlegte nicht lange und rannte sofort über die Straße, sehr zum Missfallen der beiden Damen, die ein so wenig damenhaftes Verhalten nicht zu schätzen schienen. Sie hörte nicht, wie sie über sie lästerten, hätte sich aber auch wenig daraus gemacht und hatte nur Augen für den Captain, der bereits eine Hand am Türknauf hatte, als sie ihn erreichte. »Captain! Captain! Bitte!«
Der Captain paffte grinsend an seiner Pfeife. »Na, Sie haben es aber eilig, Ma’am. Mir ist zum letzten Mal vor dreißig Jahren eine Lady hinterhergerannt, und das auch nur, weil ich ihr auf die Füße getreten war.« Er blickte sie aus blitzenden Augen an. »Sie laufen mir doch sicher nicht wegen meiner stattlichen Erscheinung nach. Ich bin gut verheiratet, müssen Sie wissen.«
»Nein«, erwiderte sie nervös, »das heißt, doch … Nein.« Sie errötete und hielt ihm den Brief hin. »Ich wollte Sie bitten, diesen Brief nach Valdez mitzunehmen und dort dem Postmeister zu übergeben. Ich habe leider keine Briefmarke zur Hand, aber ich kann Ihnen zwei Goldkörner geben, Sir …«
»Nun mal langsam, Ma’am«, unterbrach sie der Captain. »Warum gehen Sie denn nicht zum Post Office am Ende der Straße? Die haben auch Briefmarken, und wenn Sie Glück haben, kommt der Brief auch heute noch mit.«
Sie schüttelte heftig den Kopf, hatte furchtbare Angst, dass Thomas Whittler sie hören oder sehen konnte und ihre ganze Anstrengung umsonst war. »Aber ich muss ganz sichergehen, Captain! Der Brief ist wirklich furchtbar wichtig … Es geht um Leben und Tod! Ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden, wenn Sie mir helfen könnten. Tun Sie mir den Gefallen, Captain, bitte!«
»Nun ja«, erwiderte er ein wenig verlegen, »bei so einer hübschen Lady, wie Sie es sind, würde wohl jeder Mann schwach. Also meinetwegen. Und Sie brauchen mir auch keine Goldkörner zu geben, die Briefmarke spendiert Ihnen die Alaska Steamship Company.« Er griff nach dem Brief, blickte flüchtig auf die Adresse und ließ ihn in einer Seitentasche seiner Uniformjacke verschwinden. »Wenn er tatsächlich so wichtig ist, bleibt mir wohl gar nichts anderes übrig.« Er runzelte die Stirn. »Auf Leben und Tod, sagen Sie?«
Sie lächelte schwach. »Nun … auf jeden Fall sehr wichtig.«
Der Captain verabschiedete sich, offensichtlich geschmeichelt, einer jungen Frau einen Gefallen tun zu können, und betrat das Büro seiner Reederei. Sie ließ ihren Blick die Hauptstraße hinunterwandern und beobachtete, wie Thomas Whittler und der Captain ihres Frachters aus Rosie’s Restaurant traten, auf dem Gehsteig stehen blieben und sich jeder eine Zigarre ansteckten.
Sie vergeudete keine Zeit und kehrte auf den Frachter zurück. Von den Passagieren des Dampfschiffs beachtete sie niemand. Sie schaffte es bis zu ihrer Kabine, ohne einem neugierigen Matrosen in die Arme zu laufen, und öffnete die Tür. Der Matrose mit dem Schlüssel saß auf dem einzigen Stuhl.
Bei Clarissas Anblick stand er auf. »Ich dachte schon, Sie kommen gar nicht mehr! Wenn der Captain herausfindet, dass ich Sie rausgelassen habe …«
»Von mir erfährt er es bestimmt nicht.« Sie zog ihren Anorak aus und warf ihn aufs Bett. »Und jetzt gehen Sie besser. Wenn er Sie in meiner Kabine findet, ist erst recht der Teufel los. Und vergessen Sie nicht, abzuschließen!«
Der Matrose war so nervös, dass er vergaß, sich einen zweiten Kuss abzuholen, und verschwand. Zum ersten Mal war Clarissa erleichtert, als sich der Schlüssel im Schloss drehte. Sie sank aufs Bett und begann leise zu weinen.