13
Sie waren bereits von dem Felsen gesprungen, als sie ein scharfer Windstoß zusammenzucken ließ. Ein Pfeil zischte so schnell über sie hinweg, dass sie ihn kaum wahrnahmen, und bohrte sich in einen Fichtenstamm nur wenige Schritte neben dem Felsvorsprung. Er blieb federnd im festen Holz stecken.
Alex ließ sich instinktiv zu Boden fallen und riss Clarissa mit sich. Mit angehaltenem Atem warteten sie auf einen zweiten Pfeil. Alex öffnete seine Anoraktasche und zog den Revolver heraus, hob vorsichtig den Kopf und suchte das Seeufer ab, fand aber kein Ziel. So still und reglos, als wäre nichts geschehen, lag der See vor ihnen, und vom Waldrand kam nicht der geringste Laut. Nur das Krächzen eines einsamen Nachtvogels störte die Stille.
Als es verklang, trug der auffrischende Wind das Scharren von Schlittenkufen zu ihnen herüber. Clarissa glaubte, einen Hund bellen zu hören, konnte sich aber täuschen. Nur einen Augenblick später verstummte der Wind, und mit ihm verschwanden auch die verräterischen Geräusche. Wer immer den Pfeil abgefeuert hatte, machte sich mit seinem Hundeschlitten aus dem Staub.
Sie warteten noch eine Weile, bis sie sicher sein konnten, dass der geheimnisvolle Schütze tatsächlich weggefahren war, und stemmten sich zögernd vom Boden hoch. Ohne Deckung blieben sie stehen, immer noch nervös und darauf gefasst, erneut beschossen zu werden. Den Finger am Abzug, schob Alex den Revolver in die Anoraktasche. Er blieb jedoch wachsam und nahm den Blick nicht vom Waldrand, aber er entdeckte lediglich den Nachtvogel, der sich in seiner Ruhe gestört fühlte und sich flatternd aus einem Baumwipfel erhob.
Clarissa stand noch unter Schock und handelte rein instinktiv, als sie zu dem Baum neben dem Felsvorsprung ging und den Pfeil aus dem Stamm zog. Erst jetzt entdeckte sie den aufgespießten Zettel am Schaft. »Alex!«, rief sie mit gedämpfter Stimme. »Eine Nachricht! Man wollte uns gar nicht treffen.«
»Eine Nachricht? Auf einen Pfeil gespießt? Wie in einem Western?«
»Sieht ganz so aus.« Clarissa hatte sich einigermaßen von ihrem Schrecken erholt und las: »Schicken Sie eine eidesstattliche Aussage nach Vancouver! Widerrufen Sie Ihre Aussage, und sagen Sie dem Gericht, dass Frank Sie nicht vergewaltigen wollte! Es wird nicht zu Ihrem Schaden sein! Wenn Sie es nicht tun, werde ich Sie vernichten! Ich meine es ernst. Thomas Whittler.«
Alex nahm ihr den Zettel aus der Hand und betrachtete ihn ungläubig. Die Nachricht war in Druckbuchstaben und ohne Rechtschreibfehler geschrieben. »Thomas Whittler!«, las er ungläubig. »Geht das etwa schon wieder los? Rückt uns jetzt der Vater auf den Pelz? Und ich dachte, wenigstens er wäre einigermaßen vernünftig. Die Verurteilung seines Sohnes hat ihm wohl stärker zugesetzt, als wir dachten. Aber dass er zu so einer Drohung fähig wäre, hätte ich nicht gedacht. Obwohl … beim Eisenbahnbau ist er wahrscheinlich auch über Leichen gegangen.« Er blickte Clarissa an. »Meinst du, die Nachricht ist echt? Vielleicht hat sich nur jemand einen schlechten Spaß erlaubt.«
»Und warum lässt er uns die Nachricht nicht unter der Tür durchschieben oder schickt sie uns mit der Post?« Er betrachtete den Pfeil. »Wie im Wilden Westen … Als ob er sich über uns lustig machen wollte.« Er schüttelte den Kopf. »Er kann doch nicht im Ernst glauben, dass du dem Gericht in Vancouver eine eidesstattliche Erklärung, oder wie immer das heißt, schickst und seinem Sohn, diesem miesen Dreckskerl, eine mildere Strafe ermöglichst.«
»Tut er aber.« Clarissa griff nach der Nachricht, las noch einmal, was auf dem Zettel geschrieben stand, und konnte es noch immer nicht fassen. »So lief es beim Eisenbahnbau auch. Den Siedlern, die ihr Land nicht verkaufen wollten, drohte er so lange, bis sie klein beigaben und ihre Sachen packten. Erzählt man sich. Und wenn sie zu lange warteten, bekamen sie nicht mal Geld für ihr Land. Thomas Whittler geht vielleicht geschickter vor als sein Sohn, aber er ist genauso gemein wie er. Ich traue ihm nicht über den Weg.«
»Du willst doch nicht nachgeben?«
Clarissa steckte den Zettel ein. »Nein, aber ich werde die Nachricht dem US-Marshal zeigen. Novak will noch im März seinen Dienst in Fairbanks antreten. Er ist ein gerechter Mann. Vielleicht kann er Whittler klarmachen, dass sich ein Manager der Alaska Central Railroad nicht alles erlauben darf.«
»Das wird nichts nützen«, sagte Alex, »die Nachricht könnte doch jeder geschrieben haben. Ich werde mir diesen Thomas Whittler wohl selbst vorknöpfen müssen. Er soll bloß nicht glauben, dass er das Spiel, das sein Sohn begonnen hat, auf diese schmierige Weise fortsetzen kann.« Er betrachtete den Pfeil genauer. »Ob er einen Indianer auf seiner Lohnliste stehen hat?«
Clarissa ging plötzlich ein Licht auf. »Vielleicht den Indianer, der mit einem gewissen John Smith im Roadhouse gewesen ist.« Sie erzählte Alex von dem seltsamen Paar. »Die beiden sahen nicht gerade wie brave Bürger aus.«
»Weil er sich John Smith nannte? Das kann auch andere Gründe haben. Vielleicht rennt er vor einer Frau davon. Oder er schuldet jemandem Geld. Und den Indianer hat er als Guide angeheuert. Weiter südlich soll es einen Indianer geben, einen gewissen Raven, auf den deine Beschreibung passt. Wenn er nicht gerade weiße Jäger führt, arbeitet er als Fallensteller. Ein mürrischer Bursche, der angeblich alles für Geld tut. Mit Pfeil und Bogen soll er auch umgehen können, aber welcher Indianer kann das nicht?« Er zog sie zu sich heran und küsste sie auf die Stirn. »Lass uns nach Hause fahren. Sobald mir dieser Whittler unter die Nase kommt, werde ich ihm sagen, was wir von solchen Drohungen halten. Dir wird nichts passieren, das verspreche ich dir.«
Die nächste Woche verlief ohne Zwischenfälle. Alex trainierte täglich für das Alaska Frontier Race am kommenden Wochenende, gewann zunehmend an Kraft und Selbstvertrauen und erweckte schon bald den Eindruck, wieder im Vollbesitz seiner Kräfte zu sein. Gleich nach dem Rennen wollte er wieder seine Fallen auslegen. Clarissa half ihrer Freundin im Roadhouse, wo es in der Woche vor dem Rennen besonders viel zu tun gab, weil die Menschen sogar aus dem fernen Dawson City herbeiströmten, um bei dem großen Rennen dabei zu sein. Sie mussten sogar die Notlager in der Scheune herrichten.
Zwei Tage vor dem Rennen erklärte sich Clarissa bereit, nach Fairbanks zu fahren, um dort einige Einkäufe für Dolly zu tätigen. Sie versprach Alex, schon frühmorgens loszufahren, um am Abend wieder zu Hause zu sein und etwas von dem guten Kaffee mitzubringen, den Barnette aus Seattle bezog. Jerry fragte nach einer Flasche irischen Whiskey, wurde aber schon nach ein paar Worten von Dolly unterbrochen, die ihn mit den Worten zurechtwies: »Kommt gar nicht in die Tüte, mein Lieber! Mit dem Whiskey, den du auf der Party getrunken hast, könnte man eine Badewanne füllen, und ich hab keine Lust, dich nach dem Rennen aus der Gosse zu ziehen.« Auch Dolly würde am Rennen teilnehmen, hatte allerdings kaum trainiert und würde sich mit einem Platz unter »ferner liefen« zufriedengeben. »Hauptsache, ich bin auch dabei.«
»Keine Angst, ich bringe deine Hunde schon auf Vordermann!«, versprach ihr Clarissa, als sie am frühen Morgen nach Fairbanks fuhr. Besonders auf dem festen Eis des Chena River trieb sie das Gespann mit lauten Zurufen an, als ginge es jetzt schon darum, eine möglichst gute Zeit herauszufahren. Erst auf der Hauptstraße von Fairbanks drosselte sie das Tempo, bei dem starken Verkehr hatte sie auch gar keinen Platz für einen rasanten Spurt. Mindestens doppelt so viele Hundeschlitten wie sonst waren unterwegs, meist Besucher aus den umliegenden Siedlungen, die vor dem Rennen im Saloon pokern oder sich mit den leichten Mädchen vergnügen wollten, die während der letzten Wochen in zwei neue Bordelle abseits der Hauptstraße eingezogen waren. Vor den Läden parkten Fuhrwerke mit neuen Waren, die über den eisfreien Hafen in Valdez gekommen waren, und vor der Poststation parkte der mehrsitzige Schlitten, der zwischen Valdez und Fairbanks verkehrte. Ein Banner kündigte das Alaska Frontier Race als »Größtes Rennen des Nordens« an.
Clarissa parkte vor dem Handelsposten und bedankte sich bei Rusty und seinen Artgenossen, wie sie es bei ihren eigenen Huskys getan hätte. Erst dann betrat sie den Laden und gab ihren Einkaufszettel ab. »Haben Sie schon gehört?«, fragte die Frau des Händlers, nachdem sie sich für das stimmungsvolle Fest im Roadhouse bedankt hatte. »Wir haben jetzt einen US-Marshal. Sein Büro liegt gegenüber der Schmiede. Ich hoffe, er sorgt endlich für Ordnung in diesem Sündenpfuhl. Manchmal erkenne ich Fairbanks kaum wieder. Dieser Goldrausch spült allerhand Gesindel in unsere schöne Stadt. Wenn ich daran denke, was dieser Gillespie und seine Männer hier alles anstellen …«
Nach einem belanglosen Wortwechsel, auf den sich Clarissa nur aus Höflichkeit einließ, versprach sie der Frau des Händlers, die Waren in einer Stunde abzuholen, und machte sich auf den Weg zum Marshal. Deputy U.S. Marshal Chester Novak saß hinter seinem Schreibtisch und las in der neusten Ausgabe der Weekly Fairbanks News, als sie den Raum betrat. Er war ein schneidiger Mann mit kantigem Gesicht, der sich wie ein Offizier benahm und seine Lippen zu einem schwachen Lächeln verzog, als er Clarissa erkannte. »Mrs. Carmack«, begrüßte er sie. »Haben Sie schon gehört? Frank Whittler hat lebenslänglich bekommen … ohne die Möglichkeit, begnadigt zu werden.«
»Ich weiß«, erwiderte sie, »jedes andere Urteil wäre auch ein Skandal gewesen. Aber ich bin nicht seinetwegen, sondern wegen seines Vaters hier.« Sie kramte den Zettel mit der Nachricht hervor und legte ihn auf den Schreibtisch. »Sehen Sie sich das an. Der hing an einem Pfeil, der ungefähr eine Handbreit neben meinem Mann und mir in einem Baum einschlug, am Grünen Wasser, einem See, ungefähr zwei Meilen von unserer Hütte entfernt.«
Der Marshal nahm den Zettel und betrachtete ihn lange. »Und Sie wollen mir sagen, diese Warnung hätte Ihnen Thomas Whittler zukommen lassen?«
»Ich weiß nicht, ob er sie geschrieben hat, aber es könnte durchaus sein, dass er dahintersteckt.« Clarissa setzte sich auf den Besucherstuhl und erkannte Zweifel in den Augen des Marshals. »Ich kenne Thomas Whittler … Ich habe lange genug für ihn gearbeitet. Er ist kein gewalttätiger Verbrecher wie sein Sohn, aber er kann nicht verlieren, und ihm ist sicher jedes Mittel recht, um seinem Sohn eine leichtere Strafe zu verschaffen. Und er weiß andere Leute für seine Ziele einzuspannen. Durchaus möglich, dass er einen Indianer bezahlt hat, um mir Angst einzujagen. Ich traue dem Mann alles zu.«
Der Marshal schüttelte ungläubig den Kopf. »Das glaube ich nicht. Eine solche Aktion passt einfach nicht zu Thomas Whittler. Mag sein, dass er bei der Canadian Pacific gelogen und betrogen hat, diese großen Tiere sind alle keine Heiligen, aber das Schmierentheater mit dem Pfeil ist nicht sein Stil. Er würde sicher zu anderen Mitteln greifen. Aber ich werde der Sache natürlich nachgehen.« Er ließ den Zettel in seiner Schublade verschwinden. »Wie geht es Ihrem Mann? Ich habe gehört, er hätte eine schwere Operation hinter sich.«
»Es geht ihm schon besser.« Clarissa gefiel nicht, wie der Marshal sie behandelte. »Werden Sie denn mit Thomas Whittler sprechen? Soweit ich weiß, ist er auch am Bau der neuen Telegrafenlinie in Valdez beteiligt.«
»Ich sagte Ihnen doch, ich werde der Sache nachgehen.« Er gab vor, in seinen Papieren nach etwas zu suchen. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen, Ma’am … Ich hab heute noch einiges zu tun. Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald ich etwas Näheres weiß.« Er blickte auf. »Auf Wiedersehen.«
Clarissa blieb nichts anderes übrig, als das Büro zu verlassen. Sie kehrte zum Handelposten zurück, lud ihre Waren auf den Schlitten und umarmte jeden Husky und streichelte und kraulte ihn ausgiebig, bevor sie auf die Kufen stieg. »Ich hab euch nicht vergessen«, rief sie ihnen zu. »Ich werde Dolly sagen, dass sie euch heute Abend was ganz Besonderes zu fressen geben soll.«
Sie wollte eigentlich auf schnellstem Wege nach Hause fahren, um noch am frühen Abend wieder bei Alex sein zu können, der sowieso schon etwas murrte, weil sie so oft im Roadhouse aushalf, doch als sie Dr. William Nelson und seine eingebildete Frau über die Bretter auf der anderen Straßenseite laufen sah, ahnte sie, dass er vom Krankenhaus kam und Betty-Sue vielleicht ihre Hilfe brauchte. »Wir sehen nur noch schnell bei Betty-Sue vorbei, okay?«
Sie brauchte nicht lange nach ihrer jungen Freundin zu suchen. Sie kam ihr weinend über die Hauptstraße entgegen, ungeachtet der zahlreichen Hundeschlitten und Fuhrwerke, die ihr dort entgegenfuhren. »Betty-Sue!«, rief sie schon von Weitem. Sie parkte den Schlitten am Straßenrand, rannte auf Betty-Sue zu und zog sie unter ein Vorbaudach. »Betty-Sue! Willst du unbedingt überfahren werden? Komm von der Straße runter, und beruhige dich erstmal!«
»Der Inspektor …« Sie schluchzte. »Der Inspektor hat … er hat mir …«
»Er hat dir gekündigt, das war doch abzusehen.« Sie nahm die Freundin in die Arme und strich ihr tröstend über den Kopf. »Und wie ich dich kenne, hast du ihm ordentlich die Meinung gesagt, bevor du ihn aus dem Krankenhaus gejagt hast. Dass er keine Ahnung von Indianern hätte, dass die Hautfarbe eines Menschen keine Rolle spielen würde und dir niemand vorschreiben dürfte, mit wem du dich einlässt, schon gar nicht ein Städter wie er …«
»… ein arroganter Städter wie er«, verbesserte sie. Sie löste sich von ihr und konnte schon wieder lächeln. »Und dass es wenig christlich von einem Vertreter der amerikanischen Regierung wäre, sich so über Indianer zu äußern.«
Clarissa blickte sie erstaunt an. »Das hast du ihm gesagt?«
»Das … und noch einige Sachen mehr, aber da hatte er das Krankenhaus schon verlassen, und der Einzige, der mich hören konnte, war Doc Boone.«
»Und was sagt er dazu?«
»Dass er den Inspektor genauso wenig leiden könnte wie ich, und dass ich vollkommen recht hätte, aber ihm wären leider die Hände gebunden, und er müsste sich an die Anweisungen des Civil Service halten, wenn er weiter staatliche Zuwendungen erhalten wollte.« Sie zog ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich kräftig. »Doc Boone hat mir den Lohn für den ganzen Monat ausbezahlt. Und ich darf bis Ende des Monats im Krankenhaus wohnen bleiben. Er ist wirklich ein großzügiger Mann, doch wenn es um die Indianer geht, lässt er nicht mit sich reden. Er sagt, Indianer wären keine Amerikaner.«
»Nach dem Gesetz vielleicht nicht.«
»Aber sie waren vor uns Weißen hier!«
Clarissa wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. »Nach der Bürgermeisterwahl würde ich mal mit Barnette reden. Wenn dich die Stadt bezahlt, könntest du die Indianerdörfer vielleicht als unabhängige Krankenschwester betreuen. Die Indianer haben Vertrauen zu dir, das würde sich auf das Klima zwischen Weißen und Indianern auswirken.« Sie lächelte aufmunternd. »Und wenn alle Stricke reißen, könntest du immer noch im Roadhouse anfangen.«
»Das ist sehr nett von euch, aber ich bin Krankenschwester. Ich habe einen großen Teil meines Lebens damit verbracht, anderen Menschen zu helfen, und möchte das auch weiterhin tun. Selbst dann, wenn mich überhaupt niemand bezahlt. Matthew und ich werden immer was zu essen haben. Er ist der beste Jäger seines Stammes. Er könnte als Fallensteller wie Alex arbeiten.«
»Weißt du inzwischen, wo er ist?«
»Nein, aber am Samstag wird er hier sein, da bin ich ganz sicher. Er hat mir versprochen, beim Alaska Frontier Race mitzumachen. Wir haben uns erkundigt. In den Statuten steht nichts davon, dass die Teilnahme für Indianer verboten ist. Er will den Goldsuchern zeigen, wozu er fähig ist.«
»Das könnte gefährlich werden.«
»Wegen Gillespie und seinen Anhängern?«
»Wenn sie wieder randalieren …«
»… verhaftet sie der Deputy U.S. Marshal. Der würde Männer wie Casey und King sofort einsperren. Jetzt herrschen Recht und Ordnung in Fairbanks.«
Clarissa dachte an die Reaktion von Novak, als sie ihm den Zettel mit der Warnung gezeigt hatte, und war sich nicht sicher. »Ich würde die Leute nicht unnötig provozieren, Betty-Sue. Sag Matthew, er soll sich zurückhalten.«
»Zurückhalten?«, brauste Betty-Sue auf. »Wir haben uns lange genug zurückgehalten. Ich will kein Versteck mehr spielen. Was ist denn schon dabei, wenn sich eine Weiße und ein Indianer lieben?« Sie sprach so laut, dass Clarissa ihr am liebsten den Mund zugehalten hätte. »Hier draußen gelten andere Gesetze, das sollte auch der Civil Service kapieren. Oder hast du schon mal gehört, dass sich jemand aufregt, wenn ein Weißer eine Indianerin zur Frau nimmt? Der kann fünf Squaws in seiner Hütte haben, aber wenn ich …« Sie winkte wütend ab. »Ach, es ist alles so verfahren, Clarissa. Am liebsten würde ich mit Matthew durchbrennen, aber ich weiß selbst, dass eine solche Flucht nichts bringen würde. Vielleicht kam auch alles zu früh und schnell.«
»Komm erst mal zur Ruhe, Betty-Sue. Geh in dein Zimmer, und ruh dich aus oder arbeite ein wenig. Der Doc hat sicher nichts dagegen, wenn du ihm ein wenig zur Hand gehst. Der Inspektor braucht ja nicht alles zu wissen.«
»Vielleicht hast du recht, Clarissa. Sehen wir uns am Wochenende?«
»Natürlich. Alex will das Rennen gewinnen, schon vergessen?«
Das Zwielicht des Tages spiegelte sich noch auf dem vereisten Chena River, als Clarissa nach Hause aufbrach. Über dem Fluss wölbte sich ein scheinbar endloser Himmel und gab ihr selbst in unmittelbarer Nähe der Stadt das Gefühl, der einzige Mensch auf Erden zu sein. Eisiger Wind wehte ihr entgegen und zwang sie schon bald, ihren Schal über den Mund zu schieben. Vereinzelte Flocken wirbelten durch die Luft und glänzten im fahlen Licht.
Als sie den Fluss verließ und über die Böschung auf den schmalen Jagdtrail fuhr, hallte ein Eulenruf aus dem nahen Wald. Wie ein dumpfes Signal blieb es über den Hügeln oberhalb des Flusses hängen. Wenige Augenblicke später erhob sich die Eule aus einem Baumwipfel und flog lautlos davon.
Clarissa bremste den Schlitten und blieb wie versteinert auf den Kufen stehen. »Dezba!«, flüsterte sie erschrocken. Erst nach mehreren Schrecksekunden trieb sie die Huskys an und fuhr weiter, von der ständigen Furcht begleitet, die Eule könnte wieder auftauchen und neues Unheil ankündigen.