31
Mit dem ersten Tageslicht, das durch das Fenster in die Abstellkammer fiel, wachte Clarissa auf. Von der unruhigen Nacht auf ihrem harten Lager taten ihr alle Knochen weh. Die Wolldecken hatten kaum etwas genützt, sie waren unbequemer als die Nachtlager aus Fichtenzweigen, auf denen sie während ihrer Fahrten durch die Wildnis geschlafen hatte. Mühsam unterdrückte sie ein Stöhnen.
Es dauerte eine Weile, bis ihr einfiel, wo sie sich befand. Sofort beschleunigte sich ihr Puls, und sie lauschte angestrengt. Als Schritte im Flur laut wurden, verhielt sie sich vollkommen still; doch zum Glück entfernten sie sich wenig später. Ächzend stemmte sie sich vom Boden hoch. Sie trat ans Fenster, das nach hinten rausging, und sah die Victoria im Hafen liegen, das Dampfschiff mit dem Firmenzeichen der Alaska Steamship Line auf den Schloten, das um acht Uhr nach Alaska aufbrechen würde. Nach dem Stand der Sonne, die allerdings nur als heller Fleck hinter den Wolken im Osten zu sehen war, musste es zwischen sechs und sieben Uhr sein. Seitdem sie in der Wildnis lebte, verstand sie die Zeichen der Natur viel genauer zu lesen. Es hatte aufgehört zu regnen.
Der Captain und seine Mannschaft waren bereits an Bord und trafen die Vorbereitungen für das Auslaufen. Die Matrosen schrubbten die Decks und überprüften die Rettungsboote. Die Stewards liefen von einer Kabine zur anderen, frische Bettwäsche und Handtücher über den Armen. Wie gern hätte sie zu den Passagieren gehört! Achtundzwanzig Dollar trennten sie von einer Passage auf dem Dampfschiff. Was sollte sie bloß tun? Sie besaß nicht mal ein paar Cent, um sich etwas zu essen zu kaufen. Sollte sie betteln? Oder in den Abfalltonnen nach etwas Essbarem suchen? Sich der Polizei stellen und darauf hoffen, dass man ihr glauben würde? Vielleicht blieb ihr gar nichts anderes übrig. Aber wäre das Glück dann auch noch auf ihrer Seite? Wenn es ihr irgendwie gelang, als blinde Passagierin an Bord der Victoria zu kommen, so wie damals, als sie aus Port Essington geflohen war? Unmöglich, räumte sie ein. In dem winzigen Hafen an der kanadischen Küste hatte dichter Nebel über dem Meer gelegen, und sie war unbemerkt mit einem Ruderboot bis dicht an das Schiff herangekommen. Vancouver war ein riesiger Hafen, in dem man sie sofort entdecken würde, und es gab keinen Nebel.
Sie musste raus aus der Stadt, erkannte sie, mit einem Güterzug, einem fahrenden Händler, der Mitleid mit ihr hatte, oder zu Fuß. Dann würde sie weitersehen. Erst einmal raus aus Vancouver und weg von Thomas Whittler, der bestimmt die Polizei und alle seine Handlanger alarmiert hatte, um sie zu finden. Aber bevor sie ging, würde sie zur Anlegestelle gehen und einen Blick auf die Victoria werfen. Der Anblick des Dampfschiffes und der Passagiere würde ihr die Kraft geben, sich nicht unterkriegen zu lassen und irgendwo Arbeit zu suchen, bis sie sich das Ticket nach Alaska leisten konnte. Sie durfte nicht aufgeben, das schuldete sie Alex und ihrem ungeborenen Kind.
Sie strich ihren Rock und ihre Bluse glatt und richtete ihre Haare, so gut es ohne Kamm oder Bürste ging. Den flachen Hut steckte sie mit zwei Nadeln fest. Ein wenig Rosenwasser hätte nicht geschadet, schon wegen des muffigen Geruchs, der in der Abstellkammer herrschte, und sie hätte sonst etwas für frische Unterwäsche gegeben, aber sie besaß nur die Kleidung, die sie am Körper trug, und den Mantel, der ihr allmählich zu eng wurde, sie aber gegen neugierige Blicke wegen ihres verknitterten Rocks und der Bluse und gegen den frischen Wind schützen würde, der von den nahen Bergen herabwehte.
Bevor sie die Tür öffnete, lauschte sie angestrengt. In dem abgelegenen Flur war alles still. Sie huschte hinaus und lief zur Treppe, schaffte es ungesehen bis in den ersten Stock und begegnete dort zwei Angestellten, die in ihre Unterhaltung vertieft waren und sie kaum bemerkten. In der Schalterhalle warteten zahlreiche Menschen auf den Zug nach Calgary, und nicht einmal die Männer blickten sich nach ihr um. Als sie noch in Vancouver gelebt und für die Whittlers gearbeitet hatte, war das ganz anders gewesen, aber jetzt war sie einige Jahre älter, und man sah ihr die Schwangerschaft bereits an.
Vor dem Bahnhof blieb sie erschrocken stehen. An der Abzweigung zum Hafen patrouillierte ein Polizist, und vor dem Büro der Alaska Steamship Line in der Howe Street meinte sie, den Zweispänner von Thomas Whittler zu sehen. Blitzschnell wich sie unter den Torbogen vor dem Bahnhofseingang zurück. War das alles nur Einbildung? Der Zweispänner konnte auch einem anderen Gentleman gehören, und der Polizist stand vielleicht jedes Mal an der Abzweigung, wenn ein Dampfschiff auslief.
Sie suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Auch wenn kein Polizist oder ein anderer von Whittlers Leuten auf der anderen Seite lauerte, konnte sie den Bahnhof nicht über die Bahnsteige verlassen.
Auf den Gleisen hätte man sie sofort entdeckt.
Sie war wohl gezwungen, in ihre Abstellkammer zurückzukehren und dort zu warten, bis die Victoria ausgelaufen war. Vielleicht zogen sich Whittler und seine Leute dann zurück und suchten im Güterbahnhof nach ihr, wie vor einigen Jahren.
Sie wollte schon umkehren, als ein Zweispänner vor dem Bahnhof hielt, und ein Gentleman ausstieg und sich ihr mit ausgebreiteten Armen näherte. »Liebling! Da bist du ja!«, rief er ein wenig zu überschwänglich und schloss sie in die Arme. »Entschuldige, dass ich mich ein wenig verspätet habe!« Und so, dass es nur sie hören konnte, flüsterte er: »In den Zweispänner … schnell!«
Sie folgte ihm und ließ sich von ihm in den überdachten Zweispänner helfen, kam aus dem Staunen nicht heraus, als er eine Schachtel öffnete und einen breitkrempigen Hut herausnahm, wie ihn die vornehmen Damen aus dem West End trugen. »Setzen Sie den auf, damit erkennt Sie keiner!« Sie reichte ihm den Hut, den sie von Whittler bekommen hatte, und setzte den neuen auf.
»Und in Ihrer Tasche«, er deutete auf die Ablage, »habe ich eine Bluse, Unterwäsche und Strümpfe für Sie.« Er griff in die Innentasche seines Maßanzugs und zog zwei Tickets heraus. »Ich nehme an, Sie wollen nach Valdez. Von dort kommt man am besten nach Fairbanks, habe ich mir sagen lassen.«
Sie strahlte ihn an, als hätte er ihr den Schlüssel zum Paradies überreicht. »Sam Ralston!«, sagte sie. »Sie haben ein Talent, immer dann aufzutauchen, wenn ich Hilfe am nötigsten brauche. Vor ein paar Jahren haben Sie mir schon einmal aus der Patsche geholfen. Sie sind ein wahrer Engel!«
»Nur ein Pokerspieler, der in letzter Zeit viel Glück gehabt hat und die schönste Frau des Nordens daran teilhaben lassen will.« Wie fast immer, wenn er zu lächeln versuchte, verzogen sich nur seine Lippen. »Ich weiß auch nicht, warum ich das tue. Sie haben mir schon vor einigen Jahren klargemacht, dass ich keine Chance bei Ihnen habe, und jetzt sind Sie verheiratet und erwarten ein Kind. Aber soll ich Sie etwa diesen Schurken überlassen?«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, erwiderte sie ein wenig verlegen.
Sam Ralston trug dem Kutscher auf, zum Hafen zu fahren, und zündete sich einen Zigarillo an. Seitdem er ihr geholfen hatte, Frank Whittler zu entkommen, war er immer wieder unerwartet in ihrem Leben aufgetaucht und hatte sich für sie eingesetzt, ohne je eine Gegenleistung zu verlangen. Ungewöhnlich für einen Mann, der das Glücksspiel zu seinem Beruf gemacht hatte und besser als die meisten anderen Männer mit den Pokerkarten umzugehen verstand. Seine scharfen Augen verrieten den geschulten Beobachter. Sein Haar war sorgfältig gescheitelt und roch nach einem Duftwasser. Er war überall dort, wo sich gutes Geld verdienen ließ, vornehmlich in Goldgräberstädten wie Dawson City, Skagway und Nome und war jetzt wohl nach Fairbanks unterwegs.
»Woher wussten Sie …«, begann sie, als sie die Abzweigung zum Hafen erreichten und an dem Polizisten vorbeifuhren. Er beachtete sie kaum. Thomas Whittler suchte nach einer alleinstehenden Dame, nicht nach einem Ehepaar.
»… dass Sie am Bahnhof sind?« Ralston paffte an seinem Zigarillo. »Das war ein glücklicher Zufall. Ich hatte Sie eigentlich am Pier vermutet und war schon zum Hafen unterwegs, als ich Sie aus dem Bahnhof treten sah. Dass Sie vor Thomas Whittler davonlaufen, weiß inzwischen die ganze Stadt. Es heißt, Sie hätten ihn erpressen wollen, aber das wusste ich natürlich besser. Sie würden nie jemand erpressen. Ich glaube eher, die Province hat recht. Er hat Sie entführt und wollte Sie zwingen, für seinen Sohn auszusagen, nicht wahr? Und als die Krankenschwester befreit wurde, sind Sie weggerannt.«
»So war es, Sam. Thomas Whittler ist noch schlimmer als sein Sohn.«
»Er hat Angst um ihn. Um ihn, sein Vermögen und den Ruf seiner Familie. Seine Zukunft steht auf dem Spiel, das macht ihn so gefährlich und gleichzeitig verwundbar. Arrogante Millionäre wie er sind es gewohnt zu gewinnen. Treibt man sie auf die Verliererstraße, machen sie Fehler. Wer weiß es besser als ich? Männer seiner Sorte, die sich an den Pokertisch setzen und schon vorher glauben, gewonnen zu haben, sind am leichtesten zu besiegen. Er wird sich verraten und zu seinem Sohn ins Gefängnis wandern. Aber bis es so weit ist, sollten Sie höllisch aufpassen.« Er paffte wieder und schnippte die Asche aus dem Fenster. »Wie geht es Ihrem Mann? Sie sind doch noch verheiratet.«
»Er war lange krank, aber jetzt … jetzt geht es ihm gut.«
Sie hatten den Hafen erreicht und gingen zur Anlegestelle der Victoria. Der Kutscher folgte ihnen mit den Taschen. Sie hatte sich bei Ralston eingehängt und hielt mit der anderen ihren neuen Hut fest, damit ihn der Wind nicht davontrug. Aus den Augenwinkeln sah sie einen untersetzten Mann auf einer Kiste sitzen und die Passagiere beobachten, die an Bord des Dampfschiffes gingen, offensichtlich einer von Whittlers Männern, der ebenfalls nach ihr Ausschau hielt. Auch er schenkte ihr kaum Aufmerksamkeit. Sie hatte den Mantel leicht geöffnet, damit niemand ihren leicht gewölbten Bauch bemerkte. Unbemerkt gingen sie über die Gangway an Bord und wurden von einem Steward begrüßt, der sie zu ihren Kabinen auf dem Oberdeck führte.
»Getrennte Kabinen«, verriet Ralston ihr flüsternd und warf den qualmenden Zigarillo ins Hafenbecken. »Wenn jemand fragt … Wir sind verheiratet, aber ich schnarche laut, und Sie weigern sich, mit mir die Kabine zu teilen.«
»Sie sind ein wahrer Gentleman, Sam Ralston«, erwiderte sie.
Nachdem sie die Kabinentür geschlossen hatte, ließ sie sich aufs Bett fallen und schloss die Augen. Sie weinte leise, vor Glück und Dankbarkeit, erleichtert darüber, Thomas Whittler entkommen zu sein. Ihre Worte waren ernst gemeint. Sam Ralston war ein Gentleman, der ihr auf zurückhaltende Weise den Hof gemacht hatte, als Alex in China gewesen war, sich aber sofort zurückgezogen hatte, als ihr Mann wieder aufgetaucht war. Einer der wenigen Berufsspieler, die ohne Falschspiel auskamen, auch wenn sie in anderen Situationen auch mal fünfe gerade sein ließen. Als Spieler konnte man sich seine Partner nicht aussuchen, besonders in Goldgräberstädten wie Dawson City und Nome. »Sie bringen mir Glück«, hatte er ihr geantwortet, als sie ihn gefragt hatte, warum er immer zur rechten Zeit bei ihr auftauchte.
Sie stand auf und trat ans Fenster. Whittlers Handlanger saß noch immer auf der Kiste und musterte die an Bord gehenden Passagiere. Erst als der Captain der Victoria die Maschinen anwerfen und die Taue losmachen ließ, stand er auf und ging zu einem der parkenden Zweispänner. Clarissa hatte gar nicht gemerkt, dass sich Thomas Whittler ebenfalls an der Anlegestelle aufhielt, und ihr wurde noch nachträglich schlecht, wenn sie daran dachte, dass er vielleicht schon vorhin dort gewesen war und sie und Ralston unauffällig beobachtet hatte, als sie die Gangway betreten hatten. Nur der breitkrempige Hut, der beinahe ihr ganzes Gesicht verdeckte, und die Tatsache, dass sie in Begleitung eines Mannes gewesen war, hatte sie vor der Entdeckung gerettet.
Auf ihrer Stirn stand kalter Schweiß, als Befehle über Deck schallten und die Victoria endlich ablegte. Während das Dampfschiff in die Bucht auslief, beobachtete sie aus der Ferne, wie Thomas Whittler aus seinem Zweispänner stieg und dem auslaufenden Dampfschiff nachblickte, bis sie die Mitte der Bucht erreicht hatten. Er wollte nicht glauben, dass sie nicht an Bord war, und ahnte wohl, dass sie ihn reingelegt hatte und seine Anstrengungen umsonst gewesen waren. Niemand würde bei der Berufungsverhandlung für seinen Sohn aussagen, und es würde vermutlich zu einer Bestätigung des Urteils kommen. Nach dem Verdacht, den die Province nach den Informationen von Dolly geschildert hatte, war sein Ruf mehr als angeknackst, und der Staatsanwalt würde leichtes Spiel haben.
Ihm blieb nur die Rache. Sobald die Verhandlung vorüber war, in einer knappen Woche also, würde er nach Alaska zurückkehren und alles daransetzen, um sie für seine Niederlage büßen zu lassen. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, dass er in seiner Wut einen Fehler beging und eines seiner Verbrechen zugab. Auch Thomas Whittler würde erst Ruhe geben, wenn er hinter Gittern saß … wie sein Sohn. Clarissa hoffte inständig, dass es dazu kam, denn noch einmal, so befürchtete sie, würde sie nicht die Energie aufbringen, sich auf der Flucht vor einem Whittler durch die Wildnis zu schlagen.
Nachdem sie die Bucht hinter sich gelassen hatten, klopfte Sam Ralston und sagte: »Darf ich Sie zum Frühstück begleiten, Ma’am? Ich nehme an, Sie haben großen Hunger. Auf der Karte stehen Rühreier mit Schinken und Toast, und wenn Sie wollen, können Sie noch Pfannkuchen mit Sirup haben.«
»Am besten zwei Portionen«, erwiderte sie. »So viel Hunger wie heute hatte ich noch nie.« Sie berührte lächelnd ihren gewölbten Bauch. »Außerdem muss ich ein Kind ernähren, und das isst Pfannkuchen für sein Leben gern.«
Sie betraten den Speisesaal, prunkvoll im Vergleich zu dem einfachen Raum auf dem Frachter, und bekamen einen Tisch am Fenster. Der Ober schrieb amüsiert mit, als Clarissa ihm ihre Bestellung diktierte und hinzufügte: »Und wenn Sie haben, bitte noch eine saure Gurke zu den Pfannkuchen.«
Sam Ralston begnügte sich mit einer Portion Rührei und Kaffee.
»Ich zahle Ihnen alles zurück, wenn wir in Fairbanks sind«, versprach sie, als der Ober gegangen war. »Wenn Thomas Whittler nicht in der Bank aufgetaucht wäre, würde ich es jetzt schon tun … wenigstens zum Teil.« Sie berichtete ihm von ihrem Missgeschick in der Bank. »Den Beutel hat bestimmt er.«
»Ich bin froh, wenn ich ihm eins auswischen kann. Selbstgerechte Männer wie ihn kann ich sowieso nicht leiden, er denkt doch Tag und Nacht nur daran, wie er seinen Reichtum vermehren kann … auf Kosten der Schwachen.«
»Ähnlich wie beim Pokern?«
Der Ober brachte seinen Kaffee und ihren Tee und stellte zwei Kännchen mit Milch und eine Schale mit Zucker daneben. Dazu gab es Orangensaft.
»Beim Pokern haben alle die gleichen Chancen«, erwiderte er. »Und wer nichts riskieren will, kann in jedem Spiel aussteigen. Reine Nervensache. Sobald man zu gierig wird, geht die Sache schief, und man steht am Ende mit heruntergelassenen Hosen da. Ich war noch nie gierig. Umso nüchterner man an ein Spiel herangeht, desto besser. Die Whittlers sind sehr schlechte Spieler.«
»Sie haben eine Menge Geld angehäuft.«
»Und sind tief gefallen.«
Das Frühstück kam, und Clarissa verschlang das halbe Rührei, bevor sie fragte: »Wie ist es Ihnen die letzten Monate ergangen, Sam? Der Goldrausch in Nome war kurz und heftig, da gab es sicher nicht viel zu holen für Sie.«
»Ganz im Gegenteil«, widersprach er, und diesmal lächelte er auch mit den Augen. »In den Saloons habe ich mehr verdient als die meisten Männer auf den Goldfeldern. Leider habe ich auf der Rückfahrt eine Frau kennengelernt …« Er blickte nachdenklich in seinen Kaffee, während er weitersprach. »… eine sehr hübsche Frau. Sie machte mir schöne Augen, und ich fiel auf sie herein, und als ich in Vancouver nach meiner Brieftasche suchte, war sie verschwunden. Zum Glück trage ich immer eine eiserne Reserve bei mir. Ich ging nach San Francisco und gewann dort ein kleines Vermögen.« Er blickte sie an und lächelte wieder. »Das Leben ist ein einziges Auf und Ab, nicht wahr? Anders könnte ich es auch gar nicht ertragen. Diesen Sommer will ich mein Glück in Fairbanks versuchen. Eine interessante Stadt, habe ich gehört.«
»Der Goldrausch hat sie verdorben.« Sie hatte ihr Rührei verschlungen und machte sich an die Pfannkuchen. »Letzten Winter gab es Ärger mit einigen Goldsuchern und einem Indianerhasser, der unbedingt Bürgermeister werden wollte. Immerhin hat der Deputy U.S. Marshal sein Büro jetzt in Fairbanks. Alex und ich wohnen außerhalb, an einem Nebenfluss des Chena River. Meine Freundin Dolly hat in der Nähe ein Roadhouse eröffnet. Sie erinnern sich an sie? Sie ist wieder mit einem Iren verheiratet … einem guten Mann.«
Ralston ging nicht darauf ein und wechselte rasch das Thema. Wahrscheinlich war er schon zu lange allein. Er wirkte sehr nachdenklich und schien froh zu sein, als er sie in ihre Kabine zurückbegleiten konnte. Clarissa nahm an, dass er genug von seinem unsteten Leben hatte und sich nach einer Frau, vielleicht sogar nach einer Familie sehnte. Auch Alex hatte sich noch vor einigen Jahren nicht vorstellen können, eine Familie zu gründen, aber es lag wohl in der Natur des Menschen, sich eines Tages seinen Gefühlen unterzuordnen, selbst wenn man in der Wildnis lebte.
Am späten Morgen stand Clarissa an der Reling und ließ die kanadische Küste an sich vorbeiziehen. In dem natürlichen Kanal, der zwischen dem Festland und den vorgelagerten Inseln verlief, wirkte sie zum Greifen nahe. Geheimnisvolle Nebelschwaden hatten sich in den Fichtenzweigen verfangen, und hinter dem Wald ragten die schneebedeckten Coast Mountains in den Dunst. Die Wildnis hatte sie wieder. Dank Ralston war sie Thomas Whittler doch noch entkommen und kehrte in ihre Heimat nach Alaska zurück. Eine Rückkehr voller Hoffnungen und Erwartungen, die ihr Herz schneller schlagen und sie sogar die Gefahren vergessen ließ, die dort auf sie warteten.
Eine Bewegung weckte ihre Aufmerksamkeit. Sie stützte sich mit beiden Händen auf die Reling und blickte auf die Lichtung, die sich in geraumer Entfernung zwischen den Bäumen auftat. Inmitten der Nebelschwaden waren die schemenhaften Umrisse eines Tieres zu erkennen. Ein Wolf, so viel konnte sie erkennen, der in weiten Sprüngen über die Lichtung setzte. »Bones!«, flüsterte sie, als sich der Nebel für einen kurzen Augenblick lichtete und helles Sonnenlicht auf sein Fell fiel. »Und ich dachte, du hättest mich vergessen.«