Kapitel 31
Der Ball in der Philharmonischen Gesellschaft

An jenem 31. Dezember hatte der große Jahresball der Philharmonischen Gesellschaft eine doppelte Bedeutung und Wichtigkeit. Einerseits sollte es in ihren Sälen dem englischen Konsul und Admiral Lord Clarence Paget an den Kragen gehen – ein Mordanschlag, der vom Generalkapitän persönlich im schmählichen Bündnis mit Don Cándido de Gamboa und anderen Plantagenbesitzern und Sklavenhändlern ausgeheckt worden war –, zum anderen würde in dieser erlesenen Gesellschaft die bevorstehende Vermählung Leonardo Gamboas mit Isabel Ilincheta bekannt gegeben werden.

Bei Einbruch der Dunkelheit begannen die Gäste einzutreffen. Sie trugen übergroße Masken, die sie völlig blind machten, denn darunter hatten sie sich zusätzlich sorgfältig die Augen verbunden. Blindlings durchschritten sie den Saal, und erst wenn sie an der hinteren Wand unter dem Kolossalbildnis Fernandos VII. angelangt waren, nahmen sie die unbequemen, aber rettenden Augenbinden ab.

Andererseits sei eingeräumt, dass manche der Damen diese rigorose Rettungstat in eine besonders kokette Modenschau verwandelten, konnten sie so doch märchenhafte tiefschwarze Schleier tragen, übersät mit Edelsteinen und mit Fäden aus echtem Gold gesäumt.

Was der Grund dafür war, dass sich Havannas ältester Adel in diesem herrlichen Ballsaal mit verbundenen Augen traf? Ebenjenes an der Hinterwand hängende, alles beherrschende Kolossalbildnis Fernandos. So haarsträubend war jede Einzelheit dieses Porträts (und also dem Original wahrheitsgetreu nachgebildet), dass jeder, der es je erschaut hatte, bei seinem Anblick auf der Stelle tot umgefallen war.

Nicht etwa nur, weil der Mund fratzenhaft teuflisch, die Ohren spitz und riesig, das Kinn spektakulär speckig, das Haar dünn und aschgrau, das Gesicht gespenstisch und verworfen, die Nase schauerlich und die Glupschaugen düster waren – all dies zeigte das Horrorbild –, es lag vielmehr am Gesamteindruck: In den Zügen dieses Gesichts lag eine solche Ladung von Schrecken und Bosheit, Brutalität und Stumpfsinn, dass sich kein lebendes Geschöpf fand, das ihm hätte entgegentreten können.

Zweifellos wird irgendein neugieriger, vorlauter Leser (einer derer, an denen es nie fehlt) es fertigbringen, mich ausgerechnet an dieser spannenden und schwierigen Stelle meiner Erzählung zu unterbrechen, um mich zu fragen, wie ich denn dann dieses Bild so genau und detailliert beschreiben kann. Ganz einfach, mein Bester, ich selbst bin der Maler und mithin Schöpfer des Bildes: Francisco de Goya y Lucientes, bekannter als Tomasito, zu Ihren Diensten. Jawohl, ich habe perfekte Arbeit geleistet, denn ich habe in dieses Werk meine ganze Wut und mein Genie hineingelegt, nebst meiner Klarsicht, erwachsen aus der Syphilis (einer königlichen Ehre, die mir direkt und unmaskiert Königin María Luisa zuteilwerden ließ). Als das Bild fertig war, befahl Fernando VII. persönlich, es mit doppeltem Leinen zu verhüllen – aus Angst um sein Leben, dem eigenen, nicht dem des Bildes, das natürlich unzerstörbar ist.

Mit großem Erfolg hat mein Werk an zahlreichen Feldzügen und den bemerkenswertesten kriegerischen Auseinandersetzungen teilgenommen. Es war der Verursacher der Ausrottung der Indios auf den gesamten Antillen und in weiten Teilen Süd- und Nordamerikas, Urheber der endlosen Wüsten, die es heute auf den verschiedenen Kontinenten gibt. Der Hass Seiner Majestät war so groß – vor allem wegen gewisser kreolischer Adliger, die Reformen erbaten –, dass er befahl, dieses Bildnis (diese furchtbare Waffe) in die Mitte des vornehmsten Festsaals von Havanna zu hängen. Die Kubaner indes, im Allgemeinen ein freches, unverschämtes Volk, aber auch gewitzt, durchschauten die Kriegslist und überlegten, wie sie ihr beikommen könnten. Das Bild zu verhüllen war ihnen verboten. Abhängen unmöglich. Nicht mehr zu den Bällen der Philharmonischen Gesellschaft gehen? Lieber tot. Die einzige Lösung: es nicht sehen. Das nämlich war der Grund, weshalb alle den prachtvollen Bau mit verbundenen Augen betraten, bis sie mit dem Rücken zum furchtbaren Porträt standen.

Mit dem Rücken zur Wand spielte jetzt auch das Orchester, bestehend aus zweihundert blinden Schwarzen, die sich, um ganz sicherzugehen, die Augen eigenhändig herausgerissen hatten. Mit dem Rücken zur Wand tanzten die hocheleganten Damen einen Kontertanz, bei dem sie in ihren weit ausladenden Krinolinen wie Luftballons hüpften, viele von ihnen mit einer französisch herausgeputzten Äffin an der Leine – eine Sitte unter den Schönen Havannas, die auf den unbestreitbaren Einfluss der Comtesse Merlin zurückging, glaubten die Kreolinnen doch, dies sei der letzte Schrei der Pariser Salons. Mit dem Rücken zur Wand neben dem Kolossalbildnis standen auch der ruchlose Bischof von Havanna, Señor Echerre, der Befehlshaber der spanischen Marine, der Bürgermeister der Stadt, der Oberste Richter, Don Cándido de Gamboa zusammen mit seiner Tochter Carmen sowie Tondá mit Säbel und goldenen Epauletten, alle postiert rund um den Generalkapitän, Don Dionisio Vives, feierlich mit Schärpe, Halskrause, Degen, goldenem Marschallstab und Dreispitz unter dem Arm.

»Da sind sie! Da sind sie!«, rief Don Cándido leise, als er die Gestalten des hochgewachsenen englischen Konsuls und des ebenso schnittigen Lord Clarence Paget den Saal betreten sah, an ihrer Seite stets die unvergleichliche María La O, eine knappweiße Mulattin, die an diesem Abend auf ausdrücklichen Befehl des Generalkapitäns den prominenten Würdenträgern gegenüber die Rolle der Gastgeberin spielte.

Das große Orchester hörte auf zu spielen. Kavaliere und Damen blieben stehen und warteten darauf, dass das – herbeigesehnte – Schicksal seinen Lauf nähme. Doch die beiden Gäste traten mit tief gesenktem Blick bis an den Generalkapitän heran, verbeugten sich mit vollendeten höfischen Manieren vor dem höchsten Vertreter der spanischen Krone sowie dem Señor Bischof und empfahlen sich auf das Vorzüglichste.

»Fühlen Sie sich wie in Ihrem eigenen Palast«, sagte der Generalkapitän, und mit einer weit ausladenden Gebärde fügte er hinzu: »Wie finden Sie den Saal?«

»Sehr schön«, sagte der Konsul, den Blick unverwandt auf die goldenen Schnallen seiner Schuhe gerichtet.

»Wahrhaftig …«, ergänzte Lord Clarence Paget, stur auf den Boden blickend, und beließ es bei diesem Wort, dem einzigen, dessen er in der reichen spanischen Sprache mächtig war.

»Schauen Sie sich alles gut an«, befahl Dionisio Vives schon geradezu. »Dieser Bau ist der Stolz des ganzen Königreichs. Und erst die Gemälde …« Bei diesen Worten hob der Generalkapitän einen Arm nach hinten und dachte bei sich: Jemand hat uns verraten. Gottverflucht! Gleich morgen lasse ich die ganze Stadt verhaften. »Die Gemälde sind wirklich außergewöhnlich, sie stammen vom besten Maler am Hofe.«

»Es sind Meisterwerke«, pflichtete der Konsul geschlossenen Auges bei.

»Wahrhaftig …«, ergänzte Lord Clarence Paget unverzüglich mit fest zusammengekniffenen Lidern.

»Die bezaubernde María La O wird es sich angelegen sein lassen, Ihnen den ganzen Saal zu zeigen«, endete der Generalkapitän. Und auf einen Wink von ihm spielte das Orchester zu Ehren des ausländischen Besuchs ein langsames Hofmenuett und danach eine Allemande.

Gegen Mitternacht hatten fast alle Gäste Berge von Essen verschlungen und viele Fässer Wein getrunken, hatten immer wieder in sich hineingestopft, was auf den langen Tischen serviert wurde. Nur manchmal verließen sie den Saal, um sich zum kürzlich gegrabenen Brunnen im zentralen Innenhof zu begeben, in den hinein sie sich erbrachen. Diesen neuen, lebenserhaltenden Brauch hatte man sich in Havanna nach den tragischen Ereignissen während des weihnachtlichen Abendmahls auf der Finca La Tinaja zu eigen gemacht. Daher besitzen jetzt alle großen Wohnsitze in Havanna (und selbst im Landesinnern) genau in der Mitte einen prachtvollen Brunnen.

So besorgt war Don Cándido ob der vereitelten Pläne, dass er sogar vergaß, Leonardo die Bekanntgabe der bevorstehenden Vermählung zu befehlen; genauso wenig bemerkte der vornehme Herr die Blicke, die der Neger Tondá seiner Tochter Carmen zuwarf, Blicke, die von der Alleinerbin der Gamboas mit wahrem Entzücken aufgenommen wurden. Nicht einmal als der imposante Afrikaner der jungen Frau seinen Arm um die Hüfte legte und mit ihr einen Walzer und dann eine Cachucha und dann einen Zapateo tanzte, fand Don Cándido seine Geistesgegenwart wieder.

Es war schon fast vier Uhr morgens, und die englischen Gäste hatten noch immer nicht zum Bildnis Fernandos VII. aufgeschaut.

»Schweinebande, das Fest haben sie uns verdorben«, murmelte der Generalkapitän, stets lächelnd und Huldigungen entgegennehmend.

»Wahrhaftig …«, erwiderte mit neuerlicher Verbeugung Lord Clarence Paget, der natürlich kein Wort verstanden hatte. Doch in ebendiesem Augenblick hätten sich die Pläne jener Gesellschaft doch noch fast erfüllt.

Während der Konsul mit der wunderschönen María la O tanzte, trat er aus Unachtsamkeit und Ungeschick der ruhelosen Äffin, die die Dame kurz an einer langen, dünnen Goldkette hielt, auf den Schwanz. Unter dem Eindruck dieses bleischweren Stiefels riss sich das arme Tierchen von der Mulattin los, kletterte erschrocken an der hinteren Saalwand bis zum Kolossalbildnis hinauf und stieß, als seine Äuglein das Gemälde erblickten, ein so markerschütterndes Kreischen aus, wie man es in diesem Gemäuer noch nie vernommen hatte.

Fast niemandem gelang es, sich nicht umzudrehen und zu schauen, woher dieser Schrei kam.

Schneller, als ein Blitz zuckt, bedeckte sich da der weite Saal mit Leichen. Fast die gesamte Crème de la Crème Havannas schied bei diesem Fest aus dem Leben.

Unter den Überlebenden befanden sich außer den zweihundert blinden Musikern der Generalkapitän, dessen (heimlich zu diesem Anlass angefertigte) eiserne Halskrause es ihm nicht erlaubte, den Kopf zu wenden, Don Cándido de Gamboa, der unbeirrbar jede Bewegung des Generalkapitäns imitierte und sich daher nicht gerührt hatte, sowie Isabel Ilincheta und Leonardo Gamboa, die ganz in ihre Berechnungen vertieft waren, wie groß ihrer beider Vermögen sein würde, wenn sie erst vereint wären. Natürlich retteten auch Seine Exzellenz der englische Generalkonsul und Admiral Lord Clarence Paget ihr Leben.

»Eine merkwürdige Art zu feiern haben diese Indios«, bemerkte treffend der Konsul, während er, Leichnamen ausweichend (und manchmal auf sie tretend), mit großer Würde den Totentempel verließ.

»Wahrhaftig …«, ergänzte Lord Clarence Paget und folgte vorsichtig dem Konsul.

Carmen und Tondá übrigens, die nur füreinander Auge und Ohr hatten, nutzten die Katastrophe, um sich der Kutsche des Bischofs zu bemächtigen (Hochwürden würde ihrer eh nicht mehr bedürfen), und Hals über Kopf jagten sie zur Stadt hinaus, entschwanden in jungfräuliche Gefilde, wo Carmen ihre Jungfräulichkeit augenblicklich verlor.