Kapitel 4
Die Großmutter

Wenn Cecilia, stets spät in der Nacht, nach Hause kommt, liegt Doña Josefa noch wach und wartet auf sie. Sie hat Angst, das Mädchen könnte eines Tages nicht zurückkehren. Sie hat Angst – sieht schon voraus –, dass ihre Enkeltochter ein Schicksal so trostlos wie das ihre oder das ihrer Tochter Rosario oder das ihrer eigenen Mutter erwartet.

Cecilia würde sich in einen weißen Mann verlieben, der sie als Geliebte benutzen würde, eine Frau, die man heimlich besuchte, wenn man sich zu erholen wünschte.

Tatsächlich war Cecilia bereits in einen weißen Mann verliebt, auch wenn sie es selbst vielleicht nicht wusste. Doch sie, die Großmutter, hatte die elegante Gestalt eines jungen Herrn gesehen, der mit ihrer Enkelin am Fenstergitter plauderte. Sie sprachen mit leiser Stimme, und offensichtlich war es nicht das erste Mal, dass sie sich trafen. Womöglich war dieser Mann, wenn sie, die Großmutter, nicht da war, schon im Haus gewesen; vielleicht waren sie bereits ein Liebespaar.

Geräuschlos wie ein Schatten, in der für sie schon typischen Art, war Doña Josefa zur Wohnstube gehuscht und hatte den schmucken Burschen erkannt. Es war Leonardo Gamboa, der Sohn Don Cándidos: Cecilias Bruder. Er war es, der ihr den Hof machte. Und er war der Mann, den Cecilia liebte, und zwar nicht wie einen Bruder.

Kein Zweifel, es ist ein Fluch oder ein böser Streich, dachte die Großmutter, als sie sich in ihr Zimmer flüchtete und die vom Flammenschwert durchbohrte Muttergottes anschaute, die im Licht einer Kerze in ihrer Andachtsnische schimmerte. Cecilia Valdés’ Herkunft war so geheim gehalten worden, dass sich, ohne dass er es wusste, ausgerechnet ihr eigener Bruder in sie verliebt hatte. Und sie sich in ihn. Das war das Schlimmste.

Was würde Don Cándido sagen, wenn er es erführe? Denn früher oder später wüsste er davon. Womöglich würde er befehlen, seine Tochter zu töten, zumindest aber sie aus der Stadt vertreiben; ihr würde er die Unterstützung entziehen, und sie würden beide verhungern.

War es schließlich – dachte Doña Josefa weiter – nicht logisch, dass sich Cecilia einen weißen Mann suchte? Was für eine Zukunft erwartete sie denn, wenn sie in einem Sklavenland einen Mulatten oder einen Neger heiratete? Dienstmädchen, Straßenverkäuferin, Schneiderin oder Köchin. Wenn überhaupt. Sie war schon achtzehn Jahre alt. Niemand konnte beim ersten Hinschauen denken, dass sie schwarzrassig war. Vielleicht würde sie sogar einen weißen Mann heiraten können, Kinder haben. Um ihr nicht zu schaden, würde sie, die Großmutter, sie nie wiedersehen. Was Rosario Alarcón anging, nach den Worten der Nonnen vom Frauenhaus eine bedauernswerte Geisteskranke, so würde sie sich niemals um ihre Tochter kümmern. Cecilias Vergangenheit bestand nur aus einer halbmondförmigen Narbe, die Doña Josefa ihr eingeritzt hatte, um sie unter den vielen Kindern namenloser Väter im Findelhaus wiederzuerkennen.

Wenn es Cecilias Schicksal – und Wunsch – war, mit einem weißen Mann zu leben, durfte dieser Mann natürlich nicht ihr eigener Bruder sein, sagte sich Doña Josefa und beschloss, trotz allem, unverzüglich Don Cándido Gamboa aufzusuchen, um zu sehen, wie sie dieser Angelegenheit, ohne schlimmere Folgen und ohne dass Doña Rosa davon erführe, ein Ende machen könnten.