Kapitel 17
Das Zusammentreffen

Die Lichter im Haus der Gamboas waren gelöscht. Nur im Küchenherd züngelte an ein paar Scheiten ein Feuer, um das sich fast alle Sklaven drängten, die die wenigen Stunden von Mitternacht bis zum Morgengrauen zum Schlafen nutzten.

Wer das Haus von Weitem betrachtete, konnte glauben, dass alle, einschließlich der Dienerschaft, nach einem so bewegten Tag in tiefstem Schlummer versunken wären. Doch kaum hatten die Sklaven die großen Leuchter von der Decke herabgelassen und die Kerzen gelöscht, hatte in den Schlafzimmern fast sämtlicher Bewohner eine rege Geschäftigkeit angehoben.

Antonia, Adela und Carmen trippelten auf Zehenspitzen von ihren Alkoven zu den Balkonen, wo drei junge spanische Militärs ungeduldig, aber still auf sie warteten. Es entspann sich ein Gespräch, das sich, obschon voller Höflichkeitsbezeugungen, in Kichern und gedämpftem Wispern auflöste, unhörbar für der Rest der Familie.

Isabel für ihren Teil nutzte das Mondlicht (so an der Zimmerkerze sparend, die sie auf ihre Kaffeepflanzung mitzunehmen gedachte), um die Buchführung der letzten Ernte durchzugehen, ernsthaft alarmiert durch das Defizit mehrerer Kaffeebohnen.

Doña Rosa, die ihren Mann schon im Schlaf wähnte, huschte auf leisen Sohlen aufgeregt aus ihrem Zimmer und trat behutsam in die Kammer ihres Sohns. Sie wollte ihm die Repetieruhr unter das Kopfkissen schieben. Dann hätte der Junge am nächsten Morgen, dachte seine Mutter, beim Aufwachen eine kleine Freude.

Don Cándido allerdings, aufgebracht durch die Flucht seines Kochs, schlief keineswegs. Er war längst hinausgegangen in die Kutschenvorhalle, wo er sich heimlich mit Doña Josefa verabredet hatte, die schon auf ihn wartete. Rasch berichtete ihm Cecilias Großmutter in allen Einzelheiten von der Beziehung ihrer Enkelin mit Leonardo, von der Liebesbeziehung der beiden Geschwister also. Eine Tatsache, die Don Cándido noch stärker alarmierte als von Josefa erwartet.

Auch Don Pedro hatte die Dunkelheit genutzt und sich über die Hintertreppe in die Küche hinuntergeschlichen, wo er mit Versprechungen und Drohungen versuchte, eine frisch aus Afrika gekommene schwarze Sklavin zu besteigen, die kein Wort Spanisch verstand.

Während fast alle handelnden Personen in angeregter, wennschon nahezu lautloser Zwiesprache vertieft waren, stand Doña Rosa verzückt vor ihrem Sohn Leonardo und betrachtete ihn, der völlig nackt tief zu schlafen schien.

Dabei schlief Leonardo Gamboa noch längst nicht, ganz im Gegenteil: In dem Moment, als seine Mutter ins Zimmer trat, hatte er gerade sein Nachthemd abgestreift, um sich einen Straßenanzug anzuziehen. Er war zu Punkt fünf Uhr, wenn Doña Josefa zusammen mit Doña Federica zur Frühmesse gehen würde, zu einem Stelldichein mit Cecilia Valdés verabredet. Friedlich schnarchend ließ er das Liebesgeflüster seiner Mutter über sich ergehen, die, wie zu ihrer Ehre gesagt sei, sich ungehört glaubte.

»Kind meiner Seele! Mein bester Freund! Mein Liebling! Du bist meine einzige Liebe! Ja, du verstehst mich, du liebst mich. Du bist der einzige Mensch, mit dem ich leben möchte. Niemand wird uns je trennen, niemals!«

Dieses letzte Wort allerdings versetzte den jungen Mann in Alarmstimmung, denn wenn Leonardo Gamboa eines wollte in diesem Moment, dann nicht nur, sich von seiner Mutter trennen, sondern weit ausfliegen und unverzüglich seine Geliebte umarmen.

»Niemand wird uns je trennen! Niemand!«, wiederholte Doña Rosa, als hätte sie die Absichten des jungen Mannes erraten. »Hier ist dein Repetierührlein. Dieses und eine Million mehr sollst du haben. Oh, mein Seelenfreund!«

Und sie beugte sich noch weiter über ihren Sohn, der vor lauter Schrecken nicht wusste, ob er sich weiter schlafend stellen oder, um diesem seltsamen und lästigen Monolog ein Ende zu machen, so tun sollte, als erwache er.

Da passierte es, dass die kostbare Repetieruhr, ungewollt ausgelöst womöglich durch die erregte Doña Rosa oder aber kraft eines geheimnisvollen Mechanismus, so tosend zu läuten anfing, dass Doña Rosa erschrocken einen Schrei ausstieß und der Sohn, nackt, die Treppe hinunterrannte, bis er, wie zu erwarten war, auf Don Cándido prallte, der, als er (vor Schreck) die Arme hochriss, ungewollt das Zeichen »Ich will Feuer!« gab, was den jungen Tirso, der niemals schlief, sondern stets über die Wünsche seines Herrn wachte, veranlasste, zu ihm zu stürzen und ihm das große silberne Kohlebecken zu bringen, das überladen war mit prasselnder Glut, wovon ein Stück auf den nackten Körper Leonardos fiel, der mörderisch zu fluchen anfing und eine Maulschelle austeilte, die die arme Doña Josefa niederstreckte.

Kaum entdeckte Doña Rosa die schwarze Sklavin in den Armen Don Cándidos (der ihr half, wieder auf die Beine zu kommen), schrie sie los: »Ehebrecher, Treuloser, Perversling!« Doch Don Cándido, der in der Dunkelheit nicht erkannt hatte, wer der nackte Mann war, der, Rosa hinter ihm her, die Treppe heruntergerannt kam, stieß mit dem Schrei »Hure!« seine Gattin gegen den großen Tisch in der Mitte des Speisezimmers.

Bis ins Mark getroffen von diesem Wort, ließen die drei Schwestern, von denen sich jede einzelne persönlich angesprochen fühlte, ab von ihren Liebhabern und rannten hinunter in die Vorhalle, wo sie auf den Rest der Familie trafen, der dort miteinander im Streit lag, während Doña Josefa und die drei spanischen Militärs das Weite suchten. Diesen Männern jagte – so, wie er auf die Welt gekommen war – wutentbrannt Leonardo Gamboa hinterher.

»Wer ist der nackte Mann!«, schrie Don Cándido immer lauter werdend. »Haltet diesen dreisten Kerl, diesen Verbrecher!«

Was zur Folge hatte, dass alle Schwarzen, die in der Küche die Töpfe durchstöberten, dachten, sie wären gemeint, und unter höllischem Pfannengeschepper ebenfalls die Flucht ergriffen, doch nur bis zur Kutschenvorhalle kamen, wo sie im Gewühl der Leute stecken blieben. Und auch Don Pedro glaubte sich beim Schrei »Haltet den Verbrecher!« entdeckt und versuchte (er hatte schon die Hose heruntergelassen), durch die Vorhalle zu fliehen, gefolgt von der frisch angekommenen schwarzen Sklavin (die dies für ihre Pflicht hielt), und beide gesellten sich dem Getümmel hinzu, einem einzigen Tohuwabohu.

Da griff Isabel Ilincheta, die auf ihren Vater eifersüchtig war wie auf einen heiß begehrten Geliebten, nach ihrer riesigen Peitsche und fing an, blindlings auf diesen unförmigen Menschenberg einzuschlagen, war es doch bei dem Durcheinander und der Dunkelheit sehr schwer, ins Schwarze (oder Weiße) zu treffen.

Es wimmerten um Vergebung flehend die drei Töchter Don Cándidos, die sich vom Vater gestraft glaubten; es wimmerte und protestierte der Vater, der sich von Doña Rosa geschlagen glaubte; es wimmerte Doña Rosa, die sich von ihrem Ehemann entehrt und geschlagen glaubte; es stöhnten das diebische schwarze Küchengesinde sowie die Unschuld aus Afrika, die nicht den Grund der Schläge verstand und Don Pedro umarmte, der ebenfalls wimmerte und seine erzürnte Tochter um Erbarmen anflehte. Und es wimmerte, während sie mit der Peitsche um sich schlug, Isabel, die nie gedacht hätte, dass ihr Vater, ihr innigst geliebter Vater sie mit einer noch halbwilden Negerin betrügen würde … Da war es Doña Rosa, die inmitten der Schläge, von denen sie meinte, dass ihr Gatte sie austeilte, einen Satz sagen konnte:

»Gamboa, der nackte Mann, der da weggerannt ist, ist dein Sohn Leonardo!«

Worte, die anstatt Don Cándidos Wut zu besänftigen, sie noch weiter anheizten.

»Mein Sohn! Mein Sohn!«, schrie er, während Isabel weiter unparteiisch ihre Peitschenhiebe niederregnen ließ. »Man muss ihn zurückholen! Los! Ruf ihn! Halte ihn auf! Nun lauf schon, oder hast du Blei in den Füßen! Alle Sklaven her zu mir! Weck die Dienerschaft auf! Lauf hin zu Cecilias Haus! Er will zu seiner Geliebten, seiner … Nein, nein, das darf nicht sein! Und sie ist allein im Haus! Das ist die Situation, die der Teufel beim Schopfe packt! Auch ich habe nicht aufgepasst! Ich hätte es ahnen müssen! Es verhindern müssen! Ja, etwas dagegen tun, aber was? Der soll mir nur unter die Augen kommen! Ich breche ihm das Genick! Ich schicke ihn auf ein Kriegsschiff! Lauft! Lauft! Man muss ihn festhalten, bevor es zu spät ist, wenn nicht, bringe ich ihn um … Du! Du bist schuld!«, fiel er jetzt über Doña Rosa her, die der Rede Sinn nicht verstand. »Du, so, wie du ihn erzogen hast!«

In diesem Moment tauchte der Haushofmeister auf.

»Señor«, sagte er, nahm zeremoniös seinen Palmhut ab und machte vor dem Menschenknäuel, in dem Don Cándido steckte, eine Verbeugung, »ich bringe schlechte Neuigkeiten: Die Engländer haben die Brigantine La Veloz gekapert und geleiten sie in den Hafen.«

»Wie ist das möglich!«, riefen wie aus einem Munde Don Cándido, seine Gattin, seine drei Töchter, Don Pedro und Isabel aus, alle wie gelähmt von der Nachricht, die für die Familie einen empfindlichen Verlust bedeutete.

Augenblicklich war die Schlacht vorbei. Die Damen und Herren brachten ihre Kleider in Ordnung, strichen sich das Haar glatt, gingen ins Speisezimmer, setzten sich und fingen an, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was zu tun sei, um wenigstens einen Teil der beschlagnahmten Ladung zurückzubekommen.

»Diese Engländer! Diese Engländer!«, keifte Doña Rosa. »Man sieht ja, dass das keine Christen sind!«

»Wenn wir diese Ladung Neger verlieren, ist das für die ganze Familie eine Katastrophe«, entschied Don Cándido.

»Ach, Papa!«, rief das Fräulein Carmen aus.

Und sank untröstlich weinend in Don Cándidos Schoß.

»Es muss eine Lösung geben«, sagte Isabel Ilincheta mit klarem Kopf.

»Das Erste ist«, knurrte Gamboa und schob sich den Hut tief ins Gesicht, »zum Generalkapitän zu gehen. Er ist selber Negerhändler und muss auf unserer Seite sein.«

Und rasch trat Cándido Gamboa einmal mehr wütend auf die Straße, vergaß seinen Sohn und dessen Abenteuer mit der eigenen Schwester.