KAPITEL DREIZEHN
Um 18.30 war Gezeitenwechsel, ein zweimal am Tag stattfindendes Wunder. Die Strömung vom Fluss hinaus ins Meer wurde immer schwächer, bis sie allmählich ganz zum Erliegen kam und draußen vor Pointe de Saint-Gildas sich die mächtigen, schaumgekrönten Atlantikbrecher darauf vorbereiteten, gegen die Loire-Mündung anzubranden.
Wie immer dauerte es eine halbe Stunde, bis es so weit war. In dieser Zeit war dem müden Mack Bedford die erste Ruhepause vergönnt. Die Strömung ließ nach, und bald darauf floss sie weder in die eine noch in die andere Richtung. In den darauffolgenden 20 Minuten würde die Flussmitte direkt unter der Brücke dem BUD-Pool in Coronado gleichen. Es würde nur 20 Minuten anhalten, Mack wusste es so gut wie die Flussgötter. Mit aller Kraft schwamm er weiter, drehte dann volle 90 Grad nach rechts, Richtung Süden, quer über den jetzt ruhigen, gemächlichen Strom hin zum entfernten Ufer.
Er befand sich mittlerweile mehr als 400 Meter südlich der Flussmitte, sodass ihm noch 1200 Meter bevorstanden. Wenn er Zeit gutmachen wollte, dann war jetzt die Chance dafür. Er mobilisierte alle noch verfügbaren Kräfte, glitt, Beinschlag für Beinschlag, dahin und zählte bis zum nächsten Beinschlag, bis er glaubte, er müsse aufgeben und ertrinken. Aber wie sein BUD-Ausbilder einst gesagt hatte: Aufgeben, das steckt nicht in dir, Junge. Mack machte weiter, ohne zu wissen, ob der nächste Beinschlag, der große Doppelschlag, Bamm! Bamm!, sein letzter wäre. Die übersäuerten Muskeln pochten, die Oberschenkel fühlten sich an, als wären sie aus Stein, sie waren hart und schmerzten, aber er quälte sich durch die Schmerzgrenze.
Er erinnerte sich an seine »Bibel«, das Buch über den America’s Cup von 1983 und das atemberaubende Duell, das sich die Australier bei der letzten Wettfahrt mit den Amerikanern geliefert hatten. Die Männer an den Winschen sprachen in diesem Zusammenhang vom »roten Bereich«, einem Zustand, in dem einem alles so wehtut, dass man kurz davor steht, das Bewusstsein zu verlieren, aber dennoch irgendwie weitermacht. Er erinnerte sich an die Anfeuerungsrufe der australischen »Grinder«, die sich lauthals anschrien und jedes mörderische Wendemanöver einem ihrer Teammitglieder widmeten, um so den Qualen etwas Persönliches zu verleihen und noch das Letzte aus sich herauszuholen – »Die hier ist für dich, John!« – »Und jetzt für Hughie!« Damit hielten sie Dennis Conners großes rotes Boot auf Abstand – sie kniffen die Augen zu und kurbelten mit ihren muskelstrotzenden Armen, die sich wie Gelee anfühlten, an den Winschen. Dazu die Anweisungen des Taktikers, das Rauschen der Schoten, die über die Rollen jagten; die ganze verdammte Qual des Wettkampfs.
Mack hatte das Buch des legendären australischen Steuermanns John Bertrand vor langer Zeit gelesen. Jetzt erlebte er zum ersten Mal in seinem Leben diesen totalen, allumfassenden Schmerz am eigenen Leib. Endlich verstand er. Und auch er begann damit, nicht die Wendemanöver, sondern die Minuten anderen Personen zu widmen. Dazu brauchte er keine vielköpfige Crew. Viel zu gut wusste er, wie man körperlichen Schmerzen etwas Persönliches verleihen konnte. So steuerte er die flacheren Bereiche des Flusses an und hatte dabei die Worte im Kopf, die sein Leben lang in ihm sein würden: Anne und Tommy. Nur Anne und Tommy.
Und irgendwann spürte er, wie das Angriffsboard gegen den Flussgrund stieß. Die Uhr zeigte 18.50. Verdammt noch mal, er musste aus dem Wasser. Zum ersten Mal seit fast zwei Stunden reckte er den Kopf in die frische Luft, spie den Dräger-Schlauch aus und atmete tief ein. Zum Aufstehen war er viel zu erschöpft, eine Weile lang ließ er sich nur im Wasser treiben und spürte, wie die Müdigkeit langsam von ihm abfiel und die Kräfte zurückkehrten – so wie es sein musste, wenn jemand über eine eiserne Konstitution verfügte, jemand, der soeben Unmögliches geleistet hatte. Womit nicht das Attentat, sondern die Flussdurchquerung gemeint war.
Mack sah sich um. Der Uferabschnitt, an dem er sich befand, einige Kilometer von Saint Brevins entfernt, war verlassen. Urlauber, die nach einem Strand aus sind, fahren weiter nach Süden zur Atlantikküste. Wenn es einen Zeitpunkt gab, sich aus dem Wasser zu schleppen, dann jetzt. Mack hievte sich hoch und taumelte über das Ufer.
Kaum war er auf den Beinen, hörte er auf der Saint-Nazaire-Brücke das Heulen von zwei Polizeisirenen. Er drehte sich um und sah die Blaulichter, die zum südlichen Brückenende kamen. Wenn ihn hier jemand entdeckte, war er so gut wie tot. Mack riss Flossen und Taucherbrille ab, drückte das Angriffsboard an sich und lief um sein Leben über das Ufer und über die Straße in den Wald. Dort brach er unter dem dichten Laub zusammen und hatte nicht die leiseste Ahnung, wo sein Basiscamp lag.
Ein weiteres Geräusch zerriss die sommerliche Abendluft, das charakteristische Knattern zweier Hubschrauber, die tief über den Fluss kamen.
Lieutenant Commander Bedford war sofort klar, dass die Suche aufs andere Ufer ausgeweitet worden war. Jetzt durchkämmten sie auch das Südufer – obwohl es doch ein hoffnungsloses Unterfangen, obwohl es völlig unmöglich war, dass jemand durch die Loire-Mündung schwimmen konnte. Die Polizei musste ziemlich verzweifelt sein, vielleicht hielten sie das alles ja auch für reine Zeitverschwendung. Was sie allerdings nicht davon abhalten würde, ihn aufzuspüren, wenn er nicht verdammt vorsichtig war.
Er robbte sich vor zur Straße und anschließend am Waldrand entlang. Noch schien sich am Ufer kein Polizist aufzuhalten, dann sah er, noch immer flach am Boden liegend, nach rechts und hielt nach der Bushaltestelle Ausschau, die, wie er entdeckte, nur 200 Meter weiter lag.
Er erhob sich, ging zurück in den Wald, wandte sich nach links und joggte zwischen den Bäumen zu seinem kleinen Camp, das er in der Abenddämmerung des vergangenen Tages verlassen hatte. Es lag 100 Meter von der Straße entfernt, direkt hinter der Bushaltestelle. Es war unberührt, die beiden buschigen Äste steckten noch immer in der Erde.
Hastig zertrümmerte er an einem Baumstamm das Angriffsboard, schleuderte das zerstörte GPS-Gerät so weit wie möglich in den Wald, ließ den Kompass gegen einen Baum knallen und trat ihn im Boden fest. Das Kunststoffmaterial des Boards zerstreute er im Laufen, nur die Uhr nahm er mit.
Mack tauchte unter die überhängenden Zweige seines Lagers und riss die beiden Äste heraus. Mit dem Messer kratzte er die oberste Erdschicht weg, grub nach den Griffen seiner Ledertasche und zog an. Die Tasche kam mühelos heraus. Mack schüttelte die Erde ab, streifte das Oberteil des Taucheranzugs ab und nahm Jeffery Simpsons Perücke, dessen Bärtchen und Brille aus der wasserdichten Innentasche.
Er zog die Hose aus und legte sie sorgfältig zusammen. Dann packte er den Taucheranzug, die Taucherbrille und das Dräger mit der Taschenlampe und dem Taschenrechner in die ausgehobene Grube. Schließlich entfernte er mit dem Fischermesser die BUD-Nummern an seinen Flossen, bevor er die drei Gegenstände oben auf den Taucheranzug legte. Er bedeckte alles mit Erde, bis nichts mehr davon zu sehen war. Schließlich legte er noch Steine und Laub darauf, rammte die beiden von ihm abgeschnittenen Äste wieder in den Boden und begutachtete sein Werk. Es würden Jahre vergehen, bis jemand dieses Waldversteck – wenn überhaupt – finden würde. Und wenn schon? Nichts war auf irgendjemanden zurückzuführen. Alles war nagelneu, mit Ausnahme des in Taiwan hergestellten Taucheranzugs, der unmarkierten Flossen und der Brille.
Es war zwei Minuten nach sieben. Er holte seine Kleidung heraus und zog sich an – dunkle Hose, sauberes weißes T-Shirt, Blazer, Socken und Freizeitschuhe. Er steckte sich den Jeffery-Simpson-Pass in die Innentasche, stopfte einen Packen Euro-Scheine dazu, legte Perücke, Bärtchen und Brille an und warf die Uhr in die Ledertasche.
Dann ging er die 100 Meter durch den Wald und trat auf die Uferstraße. Ungezwungen schlenderte er zur Bushaltestelle, an der bereits ein etwa 18-jähriges Mädchen wartete. Es war 19.08 Uhr, am Fluss selbst war mittlerweile die Hölle los. Ein Hubschrauber flog in niedriger Höhe direkt vor ihnen östlich der Brücke das Ufer ab. Ein zweiter überflog auf der anderen Brückenseite das flussabwärts gelegene Ufer. Zwei Barkassen der Küstenwache überquerten vom Nordufer her kommend den Fluss und richteten ihre grellen Suchscheinwerfer aufs Wasser. Der Abendhimmel hatte sich bewölkt. Mitten auf der Brücke standen vier Streifenwagen mit blinkendem Blaulicht, Beamte richteten Radarpistolen, mit denen sonst Raser erfasst wurden, auf die Wasseroberfläche. Am Ende der Brücke befanden sich weitere Streifenwagen. Mack erkannte rote Blinklichter; wahrscheinlich waren Straßensperren errichtet worden, und alle, die die Brücke überqueren wollten, wurden angehalten und durchsucht.
All das interessierte Mack nicht besonders. Was ihn interessierte, war der Streifenwagen, der auf der Uferstraße langsam in seine Richtung kam. An der Bushaltestelle fuhr er rechts heran, der Fahrer sprang heraus und öffnete die hintere rechte Fondtür. Chef d’Escadron Paul Ravel stieg aus. Der Polizeichef Pierre Savary blieb sitzen.
»Guten Abend, Mademoiselle, Monsieur«, begrüßte Ravel sie. »Nur eine Routinekontrolle – haben Sie zufällig jemanden gesehen, der aussah, als wäre er soeben durch den Fluss geschwommen?«
Mack zog die Augenbrauen nach oben und sah ihn völlig perplex an. Das Mädchen giggelte. »Durch den Fluss geschwommen? Ich glaube nicht, dass das schon mal jemand gemacht hat.«
»Monsieur«, sagte Mack, »könnten Sie uns sagen, was dort drüben los ist?«
»Auf Monsieur Henri Foche ist ein Anschlag verübt worden«, erwiderte Ravel. »Wir suchen die Gegend ab.«
»Wow!«, entfuhr es dem Mädchen. »Mein Vater wollte ihn wählen. Ist ihm was passiert?«
»Das wissen wir noch nicht. Aber ich würde gern Ihre Ausweispapiere sehen.«
Das Mädchen zeigte ihm ihren Personalausweis, Mack holte seinen Pass heraus, reichte ihn dem Beamten und fragte: »Wieder El-Kaida?«
»Das weiß noch keiner. Aber es würde uns nicht überraschen.«
Sorgfältig betrachtete Ravel den Pass, dann sagte er: »Amerikaner?«
»Ja.«
»Wie lange sind Sie schon in Frankreich?«
»Seit zwei Wochen.«
Ravel blätterte den Pass durch. »Ich sehe keinen Einreisestempel. Wo sind Sie ins Land gekommen?«
»Auf einer Ärmelkanalfähre nach Calais. Die Beamten haben nur durchs Autofenster einen Blick auf den Pass geworfen.«
»Haben Sie ein Rückreiseticket für die Fähre?«
»Nein. Ich fahre weiter nach Rom zu Freunden. Von dort fliege ich über Dublin nach Hause.«
»Sie haben ein Rückflugticket?«
»Ein E-Ticket.«
»Darfich es sehen?«
Mack wühlte im Seitenfach seiner Ledertasche, fand es und gab es Paul Ravel.
Nach einem schnellen Blick darauf gab er es Mack zurück. »Danke, Mr. Simpson. Entschuldigen Sie die Störung. Aber wenn Sie jemanden sehen sollten, der aussieht, als käme er gerade aus dem Fluss, dann lassen Sie es uns bitte wissen.« Er reichte beiden eine Karte mit einer Reihe von Telefonnummern.
»Klar«, erwiderte Mack. »Hoffentlich erwischen Sie ihn. Nach allem, was ich gelesen habe, ist Henri Foche ein sehr fähiger Mann.«
Paul Ravel stieg in den Streifenwagen.
»Und?«, fragte Savary.
»Na ja, die Größe hätte gestimmt, und sein Pass hatte keinen Einreisestempel. Aber es passte nicht alles zusammen.«
»Zum Beispiel?«
»Sie wissen doch selbst, jeden Tag passieren Hunderte die Fährhäfen, ohne dass ihr Pass gestempelt wird, vor allem, wenn viel los ist. Wie in Calais, dort ist er eingereist. Ansonsten nur kleinere Unstimmigkeiten wie Aussehen, Name, Adresse, Nationalität, vor allem aber die Tatsache, dass er trocken war. Recht ungewöhnlich für jemanden, der von einem 20 Meter hohen Gebäude in den Hafen springt und dann voll bekleidet irgendwie die Loire durchschwimmt. Es gibt keine andere Möglichkeit, wie er sonst auf die andere Seite hätte kommen sollen.«
»Hmmmm«, erwiderte Savary vielsagend. »War er Franzose?«
»Nein. Amerikaner. Amerikanischer Pass mit einer Adresse irgendwo in Massachusetts. Er hat mir sein Rückflugticket gezeigt.«
»Na, die Wahrscheinlichkeit, dass es unser Mann sein könnte, lag vermutlich bei eins zu einer Milliarde.«
»Gehen Sie mit sich nicht zu hart ins Gericht, Monsieur. In Frankreich leben nur 60 Millionen Menschen. Die Hälfte davon sind Frauen, von der anderen Hälfte sind wiederum die Hälfte Kleinkinder und Rentner. Die Wahrscheinlichkeit muss also so bei eins zu 15 Millionen liegen.«
»Da geht es mir gleich viel besser«, erwiderte Savary.
Der Streifenwagen fuhr weiter und blieb dann neben zwei Fußgängern stehen. In diesem Moment kam auch der Bus nach Nantes, der soeben die Brücke verließ, in Sichtweite. An Fahrgästen waren nur zwei ältere Damen an Bord.
Das Mädchen und Mack stiegen in den Bus; die Türen gingen zu. Mack ließ sich in der Ecke der leeren Rückbank nieder. Als er nach draußen sah, bemerkte er, wie der Streifenwagen umdrehte und zur Brücke zurückfuhr.
Pierre Savary hatte endlich eingesehen, dass es sinnlos war, die Suche auf dieser Uferseite fortzusetzen. Sie hatten nicht nur nichts gefunden und nichts gesehen, sondern jeder, den sie ansprachen, sah sie an, als wären sie völlig verrückt geworden, wenn sie glaubten, irgendein Bekloppter wäre in die Loire gesprungen und durch die Mündung geschwommen.
Paul Ravel wusste, wie sehr das alles seinen Chef mitgenommen hatte – der Anschlag, die Ermordung seines Freundes Henri direkt vor seinen Augen, der aus dem Fenster geschleuderte und dabei getötete neue Sicherheitschef Declerc, dann das spurlose Verschwinden des Täters.
Nur 24 Stunden zuvor hatte es den Anschein gehabt, als hätten sie alles unter Kontrolle. Sie hatten den Namen, die Adresse und die von mehreren Zeugen bestätigte Beschreibung des Mörders. Sie hatten sogar dessen Passnummer und Führerschein. In der Werft waren genügend Sicherheitskräfte versammelt, die ausgereicht hätten, um 1944 die Strände der Normandie zu verteidigen. Und sie hatten gewusst, dass sich der Attentäter in Saint-Nazaire aufhielt. Sein Wagen war im Parkhaus an der Place des Martyrs gefunden worden. Und jetzt war er wie vom Erdboden verschluckt. Paul Ravel kam nur zu einer logischen Schlussfolgerung: Er musste tot sein, wahrscheinlich ertrunken, und seine Leiche würde in den nächsten fünf oder sechs Tagen irgendwo an Land gespült werden.
Pierre Savary kam zum gleichen Schluss: Der Mann musste in der mächtigen Mündungsströmung umgekommen sein, vielleicht würden sie von ihm nie mehr hören und ihn nie wieder zu Gesicht bekommen. Dennoch kam er sich wie ein Versager vor. Alles war so unerklärlich, und aus irgendeinem Grund war er sich verdammt noch mal sicher, dass der Täter irgendwie noch am Leben war. Außerdem durfte er nicht den Eindruck erwecken, als wollte er aufgeben. »Die Polizeisperren um die Stadt sollten wir aufrechterhalten«, sagte er. »Alle Fahrzeuge werden angehalten und die Insassen befragt. Und verstärken Sie die Durchsuchung der Werft. Wenn er sich irgendwo aufhält, dann dort. Er kann nicht mehr im Wasser sein.«
»Monsieur, wir haben in der Werft bereits alles auf den Kopf gestellt.«
»Ich weiß«, erwiderte Savary. »Aber irgendwann muss er sich in Bewegung setzen. Er könnte sich zwischen den Anlegestellen versteckt haben und vielleicht eine Stunde lang im Wasser bleiben, dann kriecht er irgendwo an Land und findet ein Versteck. Vielleicht hat er einen Komplizen. Aber wenn er noch am Leben ist, muss er irgendwann, irgendwo aus dem verdammten Fluss gekommen sein.«
Um 19.15 Uhr trat der Direktor des Zentralkrankenhauses von Saint-Nazaire auf den Eingangsstufen des Gebäudes vor die wartenden Journalisten und verkündete den Tod von Monsieur Henri Foche. Er sei an zwei Schusswunden gestorben, einer im Kopf und einer im Brustbereich. Man habe Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet, im offiziellen Krankenhausbericht würde aber vermerkt sein, dass er bereits bei der Einlieferung tot war. »Es gab von vornherein keine realistische Möglichkeit, ihn noch zu retten«, sagte er. »Aber jeder in der Notaufnahme wollte es versuchen.«
Begleitet wurde er dabei von Claudette Foche, die noch immer ihr blutüberströmtes Kleid trug. Ihr Anblick erinnerte unweigerlich an die Bilder jenes Novembertages in Dallas, Texas, 1963, als eine verzweifelte Jacqueline Kennedy das Flugzeug bestieg, das den Leichnam ihres ermordeten Mannes JFK fortbrachte.
Der Krankenhausdirektor hatte keinerlei Absicht, eine Pressekonferenz abzuhalten. Als nach der förmlichen Bekanntgabe von allen Seiten die Fragen der Journalisten auf ihn einprasselten, drehte er sich nur um und begleitete Madame Foche zurück ins Gebäude.
Unter den Reportern befand sich auch Étienne Brix, der zum neuen Leiter des bretonischen Le-Monde-Büros befördert worden war. Er war lediglich seiner Intuition gefolgt und zusammen mit einer dreiköpfigen Fernsehcrew von France 3, dem französischen Regionalsender, von Rennes nach Saint-Nazaire gefahren.
Étienne, der die Geschichte über den Mörder in Val André erst ins Rollen gebracht hatte, wusste mehr über den Hintergrund des Anschlags als jeder andere Journalist. Den meisten war lediglich bekannt, was in der Morgenausgabe von Le Monde stand. Keiner von ihnen wusste vom Peugeot und der landesweiten Fahndung, die so schiefgelaufen war.
Als die Schreiberlinge hastig ihre Artikel für die französischen Medien verfassten, war Étienne ihnen erneut um Längen voraus. Dank Inspector Varonne in Rennes war ihm allein das katastrophale Scheitern der Sicherheitskräfte bewusst. Und jetzt fühlte er sich auch an keinerlei Einschränkungen mehr gebunden, was er davon veröffentlichen durfte und was nicht.
Er meldete sich sofort bei seinem Nachrichtenredakteur in Paris und kündigte seine Story schon mal an. Wahrscheinlich würden die Nachrichtenagenturen ausführlich zum Fall berichten, aber man solle sich darauf gefasst machen, dass er in einer Stunde seinen Artikel vorlegen werde. Er müsse dazu nur noch drei weitere Telefonate führen. Schließlich ging bei der Nachrichtenredaktion der Le Monde folgender Artikel ein:
Henri Foche, Führer der gaullistischen Partei und designierter Sieger der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen, ist gestern Nachmittag auf einer Werft in Saint-Nazaire einem Mordanschlag zum Opfer gefallen.
Monsieur Foche war bei der Einlieferung ins städtische Zentralkrankenhaus bereits tot. Die Kugeln des Attentäters hatten ihn im Kopf und in der Brust getroffen. Seine Frau Claudette, die ihn bei der Wahlkampfveranstaltung begleitet hatte, blieb die ganze Zeit über bei ihm und war auch im Operationssaal anwesend, wo Chirurgen Wiederbelebungsmaßnahmen einleiteten. Tapfer zeigte sie sich später auf den Eingangsstufen des Krankenhauses, wo der Tod ihres Mannes offiziell verkündet wurde.
Henri Foche hatte keine Chance gehabt. Die erste Kugel traf ihn im Zentralbereich der Stirn. Laut Aussage der Polizei handelte es sich um ein tödliches Hochgeschwindigkeitsgeschoss, das den Kopf in Stücke riss. Die zweite Kugel traf das Herz. Henri Foche war mit Sicherheit bereits tot, bevor er überhaupt auf dem Boden aufschlug.
Bereits seit einiger Zeit ist der Polizei bekannt, dass der Gaullistenführer von einem Attentäter verfolgt wurde. Vor zwei Tagen wurden Foches persönliche Leibwächter, Marcel Joffre und Raymond Dunant, am Strand in Val André ermordet. Die Polizei geht davon aus, dass es der Mörder eigentlich auf Foche abgesehen hatte. Nun kann auch enthüllt werden, dass in den vergangenen 24 Stunden eine landesweite Fahndung nach dem Täter lief.
Immer verzweifelter wurde die Suche, während die Stunden verrannen und der schicksalhafte Augenblick immer näher rückte, an dem der gaullistische Politiker auf das Podium der Werft trat, um, wie viele meinen, die vielleicht beste Rede seiner Laufbahn zu halten. Man hatte die Beschreibung des Täters: groß, schwarzes Haar, schwarzer Vollbart. Man hatte seinen Namen und seine Adresse: Gunther Marc Roche, Rue de Bâle 18, Genf, Schweiz. Man hatte seine Passnummer, die Nummer seines Führerscheins. Man hatte das Kennzeichen des Wagens, den er in Val André für die Flucht erworben hatte. Man fand sogar den Wagen in einem Parkhaus in Saint-Nazaire.
Laut Fox News in den USA habe der französische Präsident persönlich zusätzlich 1000 Sicherheitskräfte nach Saint-Nazaire beordert, um Henri Foche zu schützen. Die Stadt war von bewaffneten Polizisten und Sicherheitskräften förmlich belagert.
Daneben lagen den Behörden weitere Informationen vor. Französische Militärexperten, die zu den ursprünglichen Ermittlungen hinzugezogen wurden, waren davon überzeugt, dass der Täter – er hatte den beiden Leibwächtern das Genick gebrochen – ein ehemaliges Mitglied von Spezialkräfteeinheiten wie der französischen Fremdenlegion, dem britischen SAS oder den US-SEALs sein musste.
Die Morde weisen sämtliche Kennzeichen eines Täters auf, der laut den Behörden in der brutalsten Form des unbewaffneten Nahkampfs ausgebildet worden war. Nach Ausführung des Anschlags soll der Täter hoch oben von einem Lagerhaus auf dem Werftgelände in die Loire gesprungen sein, was neben seinen Fähigkeiten als Scharfschütze ebenfalls auf einen Angehörigen von Spezialtruppen hinweist.
Alles spricht für diese Sichtweise. Henri Foche fiel einem kaltblütigen Täter zum Opfer, der mit höchster Präzision handelte. Im leeren fünften Stock des Lagerhauses, aus dem der Täter die tödlichen Kugeln abgefeuert hatte, wurden drei Sicherheitskräfte tot aufgefunden. Zwei von ihnen wiesen schwere Schädelverletzungen auf, dem dritten war die Kehle durchtrennt worden.
Kurz nach dem Mord an Foche wurde dessen neuer Sicherheitschef Raul Declerc aus Marseille vermutlich vom selben Täter durch das fragliche Fenster geschleudert, in Sichtweite der zahllosen dort versammelten Werftarbeiter, die Henri Foches Rede hören wollten. Er war nach dem Sturz aus 20 Metern Höhe sofort tot.
Der Rest des Artikels beschäftigte sich mit Hintergrundinformationen, nachdem Étienne Brix den Großteil der Nacht damit verbracht hatte, Einheimische und Polizisten zu interviewen.
Der Le-Monde-Aufmacher schloss mit den Worten:
Der große, vollbärtige Killer aus Genf ist noch immer auf freiem Fuß. Die Polizei warnt eindringlich davor, sich ihm zu nähern.
Die Schlagzeile der Le Monde lautete:
HENRI FOCHE BEI ATTENTAT GETÖTET
Polizeikordon kann den Gaullistenführer vor dem »vorhersehbaren« Mord nicht schützen.
Die Nachrichtenagenturen, die um 19.20 Uhr unter enormem Druck arbeiteten, kabelten:
Saint-Nazaire, Bretagne. Mittwoch. Henri Foche um 16.45 auf Saint-Nazaire-Maritime-Werft einem Attentat zum Opfer gefallen. Zwei tödliche Schüsse in Kopf und Brust. Gaullistenführer bei Einlieferung ins Krankenhaus bereits tot. Ehefrau Claudette bis zum Ende an seiner Seite. Attentäter noch flüchtig.
Um 19.30 Uhr hatte jede Nachrichtenredaktion weltweit die Geschichte aufgegriffen. Fox News in New York kam schnell in die Gänge und verwies CNN einmal mehr auf die Plätze, deren Mitarbeiter ein weiteres Dutzend Gründe suchten, um den republikanischen Präsidenten kritisieren zu können.
Fox unterbrach jede Sendung für die sensationelle und tragische Neuigkeit. Norman Dixon brüllte seine Anweisungen, Laxton war in der Leitung aus Paris mit den schnellsten Storys, die jemals geschrieben wurden und in denen er mit unheimlicher Prägnanz und großem Gespür Einzelheiten aus allen möglichen Quellen einarbeitete.
Die Ereignisse überschlugen sich derart, dass Dixon das »Talent« abzog und die junge Frau, die aussah, als käme sie vom Cover der Vogue, aus dem Geschehen nahm. Stattdessen stellte er einen jungen, äußerst aufgeweckten ehemaligen Sportjournalisten aus London namens John Morgan vor die Kameras.
»Wir brauchen einen, der das alles auf die Reihe kriegt«, grummelte Norman. »Wir brauchen einen mit schneller Auffassungsgabe, der Neues aufnehmen, erfassen, redigieren und eigene Kommentare anfügen kann, und das am besten alles gleichzeitig. Sporttypen können so was – rein mit dir, Morgan, los geht’s.«
Fox war um Längen voraus. Es war 13.30 Uhr an der amerikanischen Ostküste, kurz vor Ende des Mittagsbulletins. Neueste Meldungen!, blinkte auf dem Bildschirm, und dann kam John Morgan ins Bild und verkündete den Mord am vermeintlich zukünftigen französischen Präsidenten.
Eddie Laxtons Story strotzte vor Details, die sich zum größten Teil aus Étiennes zahllosen Anspielungen rekrutierten und bei denen der alte Fleet-Street-Profi zwei und zwei zusammengezählt hatte und schließlich auf 390 kam. Aber Eddie wusste, was er tat. Er hielt zwar nicht das Tempo von Étienne Brix mit, der immerhin vor Ort war, aber er lag auch nicht allzu weit zurück und holte stetig auf.
Der Hauptteil der Ermittlungen war nun der Préfecture de Police in Paris übertragen worden. Um 19.38 Uhr fand Eddie Laxton sich dort ein, sprach mit Beamten, plauderte mit alten Kontakten und schickte seine Erkenntnis gleich per Handy zu Norman Dixons Assistenten in New York.
Unter allen Reportern der Welt, die an dieser Geschichte arbeiteten, war Eddie der Erste, der aus den gewundenen, abwiegelnden Aussagen der Polizei die richtigen Schlüsse zog. »Die haben nicht einen Anhaltspunkt, wer der Attentäter sein könnte. Sie haben keinen Namen, keine Adresse, keine Nationalität. Sie wissen nicht, wer ihn angeheuert hat oder warum. Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob dieser Käse mit dem großen Typen und dem schwarzen Vollbart überhaupt stimmt.«
Er bat den Reporter in New York, ihn direkt zu Norman Dixon durchzustellen, dem er seine Zweifel mitteilte. Norman zögerte keine Sekunde. Auf ein Blatt Kopierpapier schrieb er: »Gestern räumte die französische Polizei ein, dass sie keinerlei Anhaltspunkte zur Identität des Attentäters hat. Sie war bislang einer völlig falschen Spur gefolgt, auch von El-Kaida kam bislang kein Bekennerschreiben. Der Täter, der Henri Foche getötet hat, ist spurlos verschwunden.«
Der Redakteur, der die Kopie davon an John Morgan weiterreichen sollte, riskierte es, leichte Bedenken anzumelden. »Was, wenn die Gendarmerie das dementiert?«
»Blödsinn, mach dir mal darum keine Sorgen«, erwiderte Norman. »Das würden sie nur dementieren, wenn sie Antworten hätten. Aber die haben sie eben nicht, sagt Eddie. Gib es John.«
Jane Remson saß auf der Terrasse, las eine Zeitschrift und wartete darauf, dass Harry zum Mittagessen nach draußen kam. Auf ihn wartete sein Lieblingsessen – Räucherlachs-Sandwich mit einem Spritzer Zitrone auf dem angebräunten, gebutterten Brot, und dazu ein Glas gekühlten Weißwein.
Dieses scheinbar bescheidene Menü für den Herrscher über Remson’s Shipbuilding musste jedoch mehrere Bedingungen erfüllen. Zum einen musste der Wein aus Frankreich kommen, es musste ein Weißburgunder sein aus dem legendären Montrachet an der Côte de Beaune, noch dazu ein Puligny vom herausragenden Weingut Olivier Leflaive. Beim Lachs hatte er noch höhere Ansprüche. Als Erstes musste es schottischer Lachs, es musste Wildlachs sein, der in einem schottischen Fluss gefangen worden war. Nicht genug damit, bei dem schottischen Fluss musste es sich um den Tay handeln, und der Fisch musste in einem der herrlichsten, einsamsten Abschnitte südöstlich des Loch Tay, in Kinross, zu Hause gewesen sein.
Sein Vater hatte ihn in dem Sommer, als er 15 Jahre alt gewesen war, dorthin zum Angeln mitgenommen, und der Zauber dieses Flusses hatte sich dem späteren Werftchef für sein Leben eingeprägt. Er würde niemals vergessen, wie er seinen ersten Lachs erlegt hatte, den größten Fisch, den man in Süßwasser mit einer Fliege angeln konnte – das prickelnde Gefühl, den Fisch an der 3,5 Meter langen schottischen Fliegenrute zu überlisten, seine Geschwindigkeit und die Strömung miteinzuberechnen, all das zu tun, was diese stille, okkulte Kunst ausmachte. Harry würde nie vergessen, wie sein Vater ihm von der langen und mysteriösen Reise der Lachse erzählt hatte, die aus den Tiefen des Atlantiks in die Gewässer zurückkehrten, in denen sie geboren wurden, in diesem Fall den Tay. Vor allem würde er niemals den Geschmack der Sandwiches vergessen, die man ihnen damals in dem kleinen Hotel einpackte, in dem er und sein Vater übernachtet hatten.
Harry war seitdem mehrmals zum Angeln an den Tay zurückgekehrt, eines aber versäumte er nie. Jedes Jahr bestellte er bei einer kleinen schottischen Räucherei, keine zehn Kilometer von dem damaligen Hotel entfernt, zwölf ganze Lachsfilets, eines für jeden Monat im Jahr. Heute hatte Jane den Butler gebeten, einen der wertvollen Fische für Harry zum Mittagessen aufzuschneiden.
Der Remson-Boss war auf dem Weg durch das Haus. Das Problem war nur, er entdeckte die Sandwiches genau zu dem Zeitpunkt, als John Morgan auf Fox mitteilte, dass Henri Foche ermordet worden war. »Großer Gott!«, entfuhr es Harry unwillkürlich.
Jane kam hereingeeilt und sah, wie er völlig gebannt auf den Fernseher starrte, als vom Tod des Gaullistenführers berichtet wurde – die Erfüllung seines einzigen ernsthaften Wunsches, für den er jemals in seinem Leben gebetet hatte.
Harry sagte nichts. Er lauschte nur dem Bericht über das Chaos, das Lieutenant Commander Mack Bedford in Frankreich ganz offensichtlich hinterlassen hatte. Weder er noch Jane sagten ein Wort, bis der Eröffnungsteil der Nachrichten zu Ende war.
Beide waren in ihre Gedanken versunken – Harry dankte Gott, dass anscheinend niemand wusste, wer dem Gaullisten den Garaus gemacht hatte, und jubelte innerlich über Eddie Laxtons Einschätzung, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach auch keiner jemals herausfinden würde. Jane war wie vom Donner gerührt. Sie hatte die Unterhaltung damals mit angehört. Sie wusste, dass ihr Mann einen Auftragskiller auf diesen Henri Foche angesetzt hatte, um die Werft zu retten; dass eine große Summe Geld mit im Spiel und Mack Bedford daran beteiligt war. Was immer sich in Frankreich an schrecklichen Dingen ereignet haben mochte, es hatte mit ziemlicher Sicherheit hier in Dartford und auf Betreiben ihres eigenen Mannes seinen Ausgang genommen.
Jane ergriff als Erste das Wort. »Harry, ich denke, du schuldest mir eine Erklärung, ein Wort darüber, wie tief wir darin verstrickt sind.«
Harry lächelte sie nur an, in seiner Miene spiegelte sich Freude und Dankbarkeit. »Ich habe dir schon einmal gesagt, wir wollen dieses Thema nie mehr zur Sprache bringen. Henri Foche hat viele Feinde gehabt, vor allem im Militär. Ich kann nicht so tun, als würde ich es bedauern, dass er tot ist, ich kann aber auch kein Licht darauf werfen, was geschehen ist.« Er ging hinaus auf die Terrasse. Seine Frau folgte ihm. »Lass uns diesen Tag wie jeden anderen begehen«, sagte er. »Es könnte höchstens sein, dass ich zu meinem Sandwich ein zweites Glas von diesem herrlichen Weißburgunder trinke.«
Der Attentäter auf der Rückbank des Busses, den linken Arm auf der Ledertasche, schlief noch. Sie hatten die Vororte der einstigen bretonischen Hauptstadt Nantes erreicht, und der Bus war mittlerweile sehr viel voller geworden. Er wachte beim ersten Halt innerhalb der Stadtgrenze auf, als mehrere Fahrgäste aus-und noch mehr zustiegen. Er sah auf seine Uhr. Es war fünf nach acht, damit blieben ihm 25 Minuten, um den letzten Zug von Nantes nach Bordeaux zu erwischen.
Mack verließ den Bus am Bahnhof und eilte die knapp 800 Meter zu den Bahnsteigen. In einem verlassenen Ladeneingang entfernte er Perücke, Bärtchen und Brille und verstaute sie in seiner Tasche, bevor er ein Einfachticket erster Klasse zu der Stadt löste, die inmitten der herausragendsten Weinbaugebiete Frankreichs lag. Zum ersten Mal seit fast zwei Wochen, als er die USA verlassen hatte, sah er wieder wie Mack Bedford aus.
Seine Prämisse war es, keine kontinuierliche Spur zu hinterlassen. So wie Gunther Marc Roche fünf Kilometer nach Monsieur Laportes Tankstelle vom Angesicht der Erde verschwunden war, so verschwand nun Jeffery Simpson, bevor Mack zur vierstündigen Fahrt ins knapp 400 Kilometer entfernte Bordeaux in den Zug stieg.
Im Zug war nicht viel los. So schlief er den größten Teil der Strecke in dem sicheren Wissen, dass keiner nach ihm suchte. Niemand in Frankreich wusste überhaupt, dass es ihn gab. Niemand kannte seinen Namen. Und nirgendwo war verzeichnet, dass er das Land überhaupt betreten hatte. Er wachte auf, als der Zug in La Rochelle hielt, der alten Hafenstadt am Atlantik, deren Ursprünge auf das 14. Jahrhundert zurückgehen. Es war mittlerweile dunkel, fast halb elf, und Mack schlief bereits wieder, als der Zug den Bahnhof verließ.
Der Schaffner weckte ihn: »Bordeaux – cinq minutes. Gare de Saint Jean – cinq minutes.«
Mack griff sich die Tasche und hoffte, um diese Zeit noch ein Hotel zu finden. Er verließ den Zug und war angenehm überrascht, wie warm es draußen war. Ein Gepäckträger, der noch im Dienst war, sagte Mack fröhlich, er solle es doch mit dem Hotel California direkt gegenüber dem Bahnhof versuchen.
Der Bahnhof in Bordeaux lag nicht unbedingt in der feinsten Gegend der Stadt. Auf den Straßen trieben sich nicht sehr freundlich aussehende Jugendgangs herum, an denen Mack vorbei musste; einer der Jugendlichen versuchte etwas halbherzig, Mack zum Stolpern zu bringen, zwei andere riefen ihm etwas nach, was bedrohlich klingen sollte.
Mack beachtete sie nicht und ging einfach weiter. Das Hotel hatte noch geöffnet, und er trat an die Rezeption, wo die Hotelangestellte dem Radio lauschte. Mack hörte nur noch einen kleinen Teil der Nachrichten, bevor sie das Gerät ausschaltete … Der Verkehr im nordwestlichen Frankreich ist nach der Ermordung von Henri Foche fast vollständig zum Erliegen gekommen. Alle größeren Straßen nördlich der Loire sind von der Polizei gesperrt. Fährhäfen sind geschlossen und dürften vor morgen nicht wieder öffnen. Alle Flughäfen sind …
»Bonsoir, Monsieur«, sagte die junge Frau.
»Ich bin froh, dass Sie noch geöffnet haben«, erwiderte Mack mit seinem amerikanischen Akzent.
Die Frau sprach auch Englisch. »Wir warten immer auf den letzten Zug aus La Rochelle. Ein Einzelzimmer mit Bad?«
»Perfekt.«
»Darf ich Ihren Pass sehen, Monsieur?«
Mack reichte ihn ihr und sah zu, wie sie die Passnummer notierte. Sie sah ihn an, überprüfte das Foto und sagte: »Merci, Monsieur O’Grady.«
Mack sagte, er würde gern im Voraus und in bar bezahlen, er wolle morgen früh gleich wieder abreisen und habe nicht vor, das Telefon zu benutzen.
»Kein Problem«, kam die Antwort. »Das macht 200 Euro.«
Mack gab ihr vier 50-Euro-Scheine, und sie reichte ihm den Schlüssel für Zimmer 306. Automatisch schaltete sie wieder das Radio an. Noch immer wurde über das Attentat berichtet. Kopfschüttelnd sagte Mack: »Schreckliche Sache, dieser Mord. Haben sie den Täter schon?«
»O non, Monsieur. Im Radio kommt nichts anderes, den ganzen Abend gibt es kein anderes Thema. Einige sagen, er soll ein großer Schweizer mit schwarzem Vollbart sein. Andere wollen ihn im Hafen gesehen haben. Aber ein Polizist hat gesagt, kurz bevor Sie reingekommen sind, dass man nichts bestätigen kann. Sie haben keine Ahnung, wer er ist oder wo er ist.«
Mack unterdrückte ein erleichtertes Grinsen und nickte ernst. »Eine schlimme Sache. Eine ganz schlimme Sache«, sagte er, ging zum Aufzug und beruhigte sein Gewissen, indem er sich dachte: Was hatten Marcel, Raymond, Raul und die drei Sicherheitskräfte gemeinsam? Jeder von ihnen hatte versucht, ihn zu töten, jeder von ihnen hätte ihn getötet. »Reine Selbstverteidigung, Euer Ehren«, murmelte er.
An Henri Foche selbst verschwendete er keinen Gedanken. Es war ein militärischer Einsatz gewesen, die Liquidierung eines Gegners, eines illegalen Kombattanten, der das Feuer auf die US-Streitkräfte im Irak eröffnet und sie umgebracht hatte.
In dieser Nacht schlief er den Schlaf des Gerechten. Aber er wachte früh auf und schaltete den Fernseher an, der aus irgendeinem Grund auf den Satellitensender BBC World aus London eingestellt war. Die ersten Worte, die er hörte, lauteten: »Es war eine lange Nacht, aber wir werden Sie auch heute den ganzen Tag auf dem Laufenden halten.« Der Moderator behandelte dann das Thema, das ebenfalls am Abend zuvor im Radio an der Rezeption den Hauptteil der Berichterstattung ausgemacht hatte – den völlig zum Erliegen gekommenen Verkehr im Nordwesten Frankreichs, nachdem die Polizei in Städten, Dörfern, Häfen und auf den Autobahnen nach dem mysteriösen Attentäter fahndete, der den 48-jährigen Henri Foche ermordet hatte.
Seit acht Stunden war nichts Neues hinzugekommen. Mack Bedford war hocherfreut. Als der Moderator den Aufruf der Polizei erwähnte, sachdienliche Hinweise weiterzuleiten, die zur Ergreifung des angeblichen Gunther Marc Roche führen könnten – des vollbärtigen Schweizer Piraten, der nach wie vor als der einzige Verdächtige galt –, hätte er sich fast selbst gratuliert.
Die gesamte Nacht über waren die Polizeidienststellen mit Anrufen und E-Mails von Bürgern bombardiert worden, die den Mann definitiv gesehen haben wollten, von Paris bis Cherbourg und Saint-Nazaire. Man wollte ihn gesehen haben, wie er am Steuer eines Wagens saß, zu Fuß flüchtete, Passanten überfiel, sich versteckte, andere entführte oder in Schlägereien verwickelt war, an so unterschiedlichen Orten wie in Kneipen bis hin zu der Krypta einer Kathedrale, in den Straßen von Rennes bis zu einem Stripteaselokal in Paris.
»Kein Wunder, dass ich immer noch müde bin«, brummelte Mack in den leeren Raum hinein. Er schaltete den Fernseher aus und öffnete die Tür. Auf dem Teppichboden des Flurs lag die neueste Ausgabe von Le Monde, groß darauf Étiennes Schlagzeile: Henri Foche bei Attentat getötet.
»Ein verteufelt gutes Gewehr«, murmelte er. »Schade, dass ich es im Hafen lassen musste.«
Er rasierte sich, zog sich an und beschloss, das Frühstück erst am Flughafen einzunehmen, der laut der im Zimmer ausliegenden Broschüre draußen in Merignac lag, zehn Kilometer oder 30 Euro entfernt.
Er gab seinen Schlüssel ab, vergewisserte sich, dass nicht noch irgendeine Rechnung offen war, und bat den Portier, ein Taxi zu rufen. Es fuhr im nächsten Moment vor, und Patrick Sean O’Grady aus der Herbert Park Road, Dublin, stieg ein.
In den Morgenstunden herrschte viel Verkehr auf den Straßen, sodass die Fahrt eine halbe Stunde dauerte. Am Ticketschalter ging es ebenfalls kaum schneller voran. Es gab einen Direktflug nach Dublin, der ging jedoch erst gegen Mittag, wodurch er die beiden einzigen Tagesflüge von Aer Lingus nach Boston wunderbar verpassen würde.
Da ihm nichts anderes übrig blieb, erstand er in bar ein Erste-Klasse-Ticket von Bordeaux nach Dublin. Er zeigte der Angestellten seinen Pass. »Danke, Mr. O’Grady«, erwiderte sie. »Genießen Sie den Flug.«
Dann schlenderte er in ein Restaurant und bestellte ein Omelett mit Toast und Kaffee, sein erstes warmes Essen seit dem vorletzten Abend, als er im Arbeitercafé in der Nähe der Werft gegrillten Fisch gegessen hatte.
An der Ankunftstafel bemerkte er, dass um zehn Uhr eine Maschine aus London landen würde. Vielleicht brachte sie die Morgenausgaben der britischen Zeitungen mit. Aus irgendeinem Grund lagen im Flughafen auf den Verkaufsständern keinerlei englische Publikationen aus, lediglich eine Ausgabe von USA Today, deren gesamte Titelseite der Ermordung von Henri Foche gewidmet war. In einem schwarzen Kasten auf der Mitte der Seite befand sich eine kurze Liste der französischen Flughäfen, auf denen man mit langen Verzögerungen rechnen musste – Rennes, Saint-Malo, Quimper, Lorien, Caen, Cherbourg, Nantes, Saint-Nazaire, Tours, Le Mans, Rouen und Paris.
Auf Seite 4 fand sich ein Artikel, der von den US-Medien normalerweise groß herausgebracht worden wäre, angesichts der Ereignisse in Saint-Nazaire aber völlig untergegangen war:
ERNEUT SECHS US-SPEZIALKRÄFTE DURCH DIAMONDHEAD-RAKETE LEBENDIG VERBRANNT
USA verlangen Erklärungen seitens der französischen Regierung
Mack Bedford war entsetzt. Unter den sechs Toten befanden sich vier SEALs, Jungs, die er mit ziemlicher Sicherheit gekannt hatte. SEAL Team 10, Coronado. Die Rakete war aus einem Fenster im Erdgeschoss eines zerstörten Wohnhauses in den nördlichen Vororten von Bagdad abgefeuert worden, hatte den Rumpf eines Panzers durchschlagen und alle Insassen in Brand gesetzt. Wenn etwas von diesem Ding getroffen wurde, hatte keiner mehr eine Chance, und das hitzesensorische Steuersystem war so gut, dass diese Drecksäcke nie verfehlten. Jedenfalls schien es Mack so.
Der UN-Sicherheitsrat gab sich »zutiefst unzufrieden«, missbilligte den Einsatz der Rakete und rügte sowohl die Islamische Republik Iran als auch die Führer aller schiitischen Milizen im Nahen Osten.
»Als ob das irgendjemanden einen Scheiß interessiert«, murmelte Mack. »Man kann mit diesen verdammten Typen nur auf eine Art umgehen, und die ist in den Aufzeichnungen zu meinem Militärgerichtsverfahren gut dokumentiert worden.«
Die Wut des US-Militärs klang in der Aussage von General Thomas an, des US-Befehlshabers im Irak, der folgendermaßen zitiert wurde: »Diese illegalen Morde gehen zu weit. Es ist uns völlig schleierhaft, warum niemand, ich wiederhole, niemand in der Lage zu sein scheint, den Ursprungsort dieser Raketen, die Fabrik, in der sie hergestellt werden, ausfindig zu machen und die Produktion zu stoppen.
Uns liegen Berichte vor, wonach soeben sechs dieser Raketen auf US-Truppen in Afghanistan abgefeuert wurden, glücklicherweise auf unbemannte gepanzerte Truppentransporter. Wir haben Informationen über mögliche Diamondhead-Vorräte im Iran, und meine Vorgesetzten und ich sind der Meinung, dass wir sie ungeachtet aller Konsequenzen durch Luftschläge zerstören sollten.«
Die abschließenden Worte des amerikanischen Oberbefehlshabers waren die Worte eines sehr wütenden Soldaten. »Jeder weiß, dass diese verdammten Dinger in Frankreich hergestellt werden. Grundsätzlich sollte endlich nach den Sprengstoffen und Chemikalien gesucht werden. Die Diamondhead ist so französisch wie der Eiffelturm, und es ist an der Zeit, dass jemand das mal zugibt. Frankreich gehört doch zu den Gründungsmitgliedern des UN-Sicherheitsrates.«
»Hey«, entfuhr es Mack, »jetzt haben sie den alten Ben Thomas endlich zur Weißglut getrieben. Das heißt, dass der Präsident auf ihn hören wird. Sie waren schließlich zusammen in West Point.«
Er hatte noch immer eine Stunde, bis sein Flug nach Dublin aufgerufen wurde. Er war in Gedanken versunken und konnte sich kaum gegen die lebhaften Bilder der brennenden Panzer am Euphratufer wehren, die ihm wieder deutlich vor Augen standen. Mehr und mehr aber schob sich allmählich ein sehr viel drängenderes Problem in den Vordergrund – wie und wann sollte er Anne und Tommy kontaktieren?
Er hatte sich geschworen, Harrys magisches Astronautenhandy nur dann einzusetzen, wenn es für ihn um Leben und Tod ging. Er wollte keinerlei Spuren in Frankreich hinterlassen, nichts, was beweisen könnte, dass Mackenzie Bedford die Grenzen der USA verlassen hatte. Das Handy war so sicher, wie es nach den Maßstäben der modernen Weltraumforschung nur sein konnte. Er wusste aber auch, dass es keine hundertprozentige Sicherheit gab, für niemanden, nirgends, nie. Mein Gott, man konnte professionell ausgebildete und bis an die Zähne bewaffnete US-Kampftruppen in einen Panzer setzen, dessen Armierung auf dem Papier als undurchdringlich galt, und ein Haufen durchgeknallter, in zerlumpten Laken durch die Gegend laufender Analphabeten fand eine Möglichkeit, alle auszulöschen.
Das Superhandy war ein Superhandy, aber sollte er es riskieren, in dieser Phase eine wenngleich kaum wahrnehmbare Spur in Frankreich zu hinterlassen? Antwort: nein. Er würde anrufen, sobald er in Boston gelandet war, nicht eher. Also blieb er im Restaurant sitzen, trank eine zweite Tasse Kaffee und versuchte nicht daran zu denken, dass er nicht wusste, ob sein Sohn noch am Leben war oder tot.
Nein, er konnte nicht tot sein. Der fähigste Chirurg der Welt würde nicht zulassen, dass er starb. Nein, Tommy war am Leben – er musste am Leben sein. Sehr bald würden sie wieder zum Angeln gehen. Halt durch, Junge. Ich bin bald wieder da.
Senator Rossow war in seinem Büro im Kapitol, als das Telefon klingelte. »Monsieur Jules Barnier in der Leitung«, rief seine Assistentin.
Der Senator hob ab. »Guten Morgen, Jules. Habe ich das Vergnügen, mit dem nächsten französischen Präsidenten zu reden?«
Die unmittelbaren Folgen des Mordes, das landesweite Entsetzen in Frankreich, die Trauer waren in Washington, D. C., noch nicht so richtig angekommen – wahrscheinlich deshalb nicht, weil Frankreich in den USA als Land gesehen wurde, das nur von verdammt unkooperativen Ausländern bevölkert war.
Jules Barnier reagierte leicht verdattert auf Stanford Rossows unverfrorene Bemerkung zu einem Verbrechen, das das ganze Land in Aufruhr versetzt hatte. Die beiden Männer waren allerdings seit Jahren befreundet, und dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Lazard-Bank war nur allzu bewusst, dass es vor allem Amerikanern in Führungspositionen häufig am gewissen savoir faire und einer gewissen Feinfühligkeit mangelte.
Jules Barnier hatte Henri Foche seit geraumer Zeit gekannt. Sie waren nicht sonderlich eng befreundet gewesen, hatten aber gelegentlich zusammen gegessen, und wenn Barnier auch der leidenschaftliche Ehrgeiz abging, der Foche an die Spitze der französischen Politik geführt hätte, so löste dessen gewaltsames Ableben beim Pariser Bankier doch beträchtliche Trauer aus.
»Ach, Stanford«, antwortete er, »immer der Pragmatiker.«
»Na, ich hab doch recht, oder? Jetzt übernehmen Sie Foches Position als gaullistischer Präsidentschaftskandidat, und nichts sollte Ihnen mehr im Weg stehen. Mein Freund, der Weg in den Élysée-Palast ist frei für Sie, und ich freue mich schon darauf, in den Genuss Ihrer dann sicherlich unübertrefflichen Gastfreundschaft kommen zu dürfen.«
Trotz allem musste Jules Barnier nun doch lachen. »Eigentlich habe ich angerufen, um Ihnen mitzuteilen, dass ich von meinem Posten bei der Bank zurückgetreten bin. Es ließ sich mit meiner vorgesehenen politischen Karriere nicht mehr vereinbaren. Alle hatten Verständnis dafür, die anderen Aufsichtsratsmitglieder zeigten sich sehr entgegenkommend.«
»Das will ich doch meinen«, erwiderte Rossow. »Schließlich haben die durch Sie einen Haufen Kohle verdient. Sie werden es vermissen, dieses Spannungsfeld der Weltwirtschaft.«
»Vermutlich, aber es wird wahrscheinlich genügend andere Spannungsfelder geben, wenn ich erst zum Präsidenten gewählt bin.«
»Daran besteht kein Zweifel, oder?«
»Nein, im Grunde nicht. Die Gaullisten werden siegen. In jeder Meinungsumfrage liegen wir weit in Front. Und ich bin jetzt deren Präsidentschaftskandidat.«
»In wenigen Monaten werden Sie an der Macht sein und Ihre Kabinettsminister nur so herumscheuchen. Die Franzosen müssen dann nur Ihren Namen hören, und es werden sich ihnen die Zehennägel in den Stiefeln aufstellen.«
»Franzosen meiner Schicht tragen keine Stiefel, sondern auf Hochglanz polierte Gucci. Und wer solche Schuhe trägt, dem stellen sich die Zehennägel nicht auf.«
Senator Rossow lachte. »Soll ich immer noch nach einem Cottage in Maine Ausschau halten?«
»Unbedingt. In Frankreich wird das ganze Land den Sommer über dichtgemacht – noch mehr als in Amerika. Ich habe die Küste von Maine schon immer geliebt, etwas Schöneres kann ich mir nicht vorstellen. Wie auch immer, ein Grundstück an der Küste wäre eine ausgezeichnete Investition.«
»Den Banker werden Sie nie los, Jules, was?«
»Nein. Aber der Dollar ist gegenüber dem Euro im Moment schwach, heute Morgen stand er bei 1,54.«
Beide lachten. »Na, wäre schön, Sie jedes Jahr für einige Wochen hier zu haben. Sie bringen Ihr Boot mit?«
»Klar. Vielleicht lasse ich es sogar drüben.«
»Nur damit Sie es nicht vergessen, der Sommer in Maine ist kurz. Ende August ist alles vorbei. Im Oktober schneit es manchmal, und richtig warm wird es meistens erst ab Mitte Juni.«
»Da habe ich nichts dagegen. Ich freu mich schon darauf, die vielen Inseln, die Kiefern, die bis ans Ufer stehen, die tiefen Gewässer und der homard! Formidable.«
»Ach, Jules, eines wollte ich noch erwähnen. Werden Sie, wie Foche es vorhatte, den Einkauf sämtlicher Rüstungsgüter im Ausland streichen?«
»Nein. Das widerspricht meinen sämtlichen Prinzipien hinsichtlich internationaler Handelsbeziehungen. Nichts ist heutzutage hirnrissiger als jede Form des Isolationismus. Ich glaube an den internationalen Handel, und um Ihnen die Wahrheit zu sagen, einige von Foches Ideen waren ein wenig altmodisch. Ich vermute, Sie spielen auf diese kleine Werft an, über die wir schon einmal gesprochen haben.«
»Ja, ich wollte über die Remsons reden«, erwiderte der US-Senator. »Ich habe Ihnen erklärt, wie wichtig das für sie ist – dieser Fregattenauftrag der französischen Marine. Es ist auch für mich verdammt wichtig. Sie wissen vielleicht, dass meine Mehrheit in diesem Staat auf wackeligen Beinen steht.«
»Stanford, mein Freund, an dem Fregattenauftrag wird nicht gerüttelt – aus einer Vielzahl von Gründen. Ich weiß meine Beziehungen zu den USA zu schätzen, umso mehr, wenn ich erst Präsident bin. Und ich möchte darauf hinarbeiten, dass sich unsere Rüstungsindustrien gegenseitig … ähm … befruchten, dass wir von Ihnen kaufen und Sie von uns. Kriegsschiffe und Raketen. Ich möchte das sogar ausweiten, nicht einschränken. Stanford, ich werde die Marine anweisen, drei der Schiffe zu ordern, dann hat Mr. Remson für zehn Jahre zu tun, und Sie können sich von den Arbeitern auf den Schultern durch die Stadt tragen und als der große Retter der Werft feiern lassen.«
»Da hätte ich nichts dagegen, Jules. Ihre Einstellung gefällt mir.«
»Hören Sie zu, Stanford. Ich muss jetzt auflegen. Aber machen Sie sich um die Fregatten keine Sorgen. Betrachten Sie das Geschäft als abgeschlossen. Und sagen Sie Mr. Remson, ich werde ihm mal einen Besuch abstatten, um mir mein neues Schiff anzusehen, sobald Sie für mich ein Haus dort gefunden haben.«
»Bye, Jules, und bonne chance.«
Die Passagiermaschine der Air France hob bei leicht südöstlichem Wind ab, drehte hart nach rechts und folgte dem linken Ufer der Gironde-Mündung, hoch über den besten Weinbaugebieten der Welt. Sie passierte die kleine Hafenstadt Pauillac, die umgeben ist von den legendären Appellationen Haut-Médoc, Margaux und Saint-Julien. Insgesamt liegen 18 Cru-Klassifizierungen um Pauillac, darunter die weltberühmten Lafite-Rothschild, Mouton und Château Latour.
Mack Bedford bekam davon nichts mit. Er starrte nach Westen, hinaus in den Atlantik, und spürte die leichten Turbulenzen, als sich das Flugzeug dem Meer näherte. Nur wenige Augenblicke noch, und er würde die französische Küste hinter sich lassen und damit die 10 000 Polizisten und Sicherheitskräfte, die gegenwärtig nach ihm suchten.
Im Nachhinein, überlegte er, war es ein meisterhafter Schachzug gewesen, unverzüglich so weit nach Süden zu fahren. Die Polizei hatte mittlerweile die Möglichkeit ausgeschlossen, dass jemand es zum Südufer der Loire geschafft haben könnte. Alle Rundfunknachrichten, alle Zeitungen berichteten, dass sich die Suche auf den nördlichen Teil des Landes, vor allem auf den Nordwesten konzentrierte, eine Strategie, die zu 100 Prozent falsch war. Henri Foches Attentäter befand sich auf dem Weg ins Ausland, war nunmehr außerhalb der Reichweite der verdammten Gendarmen und auf dem Rückweg nach Irland, nach Hause, ohne eine Spur hinterlassen zu haben. So war es ein entspannter Flug, vorbei an der bretonischen Nordwestküste, über die Irische See und nach Dublin, wo die Maschine pünktlich um 14 Uhr landete.
Mack hielt seinen irischen, auf Patrick O’Grady ausgestellten Pass hoch, und der Immigrationsbeamte winkte ihn durch. Er ging durch den Flughafen zu den Rolltreppen und fuhr in den ersten Stock, und dort, auf einer Toilette, zog er sich zum letzten Mal um und legte die Jeffery-Simpson-Perücke, das Bärtchen und die Brille an. Damit sah er exakt wieder so aus wie jene Person, die vor fast zwei Wochen nach Irland geflogen war.
Er ging zum Aer-Lingus-Schalter, legte sein offenes Rückflugticket erster Klasse vor und fragte, ob es noch einen Platz für den Abendflug nach Boston gebe. Man sagte ihm, die Maschine sei halb leer, und fünf Minuten später hatte er einen Boardingpass und einen Sitz in der ersten Reihe des Flugzeugs, das um 19.30 Uhr starten und in Boston kurz nach 22.00 Uhr Ortszeit landen würde.
Mack zeigte seinen Pass. Die smaragdgrün gekleidete irische Ticketverkäuferin gab ihn lächelnd zurück. »Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug, Mr. Simpson.«
Ihm blieben also vier Stunden, die er totschlagen musste. Der Flughafen in Dublin ist nicht klein und besitzt hervorragende Läden. Und Mack hatte noch einen Packen Euro in seiner Ledertasche. Also passierte er die Sicherheitsschleuse und ging shoppen, wobei er darauf achtete, nichts zu kaufen, was verraten würde, dass er sich in Irland aufgehalten hatte.
Er kaufte für Anne ein Armband mit grünen Turmalin-Steinen, dazu eine passende Goldkette, die ein beträchtliches, 5000 Euro großes Loch in seine Barschaft riss. Niemals in seinem Leben hatte Mack Bedford etwas derart Extravagantes getan; und er fand Gefallen daran. Daher marschierte er in einen atemberaubend teuren Laden für Damenbekleidung und erstand für seine Frau ein dunkelgrünes Christian-Dior-Seidenkleid, das, wie er ihr später erzählte, teurer war als ihr Buick.
Er schlenderte zum Café im Terminal B und warf die Schmuckkästchen in den Müll, steckte sich das Armband und die Kette in die Jacketttasche, wickelte dann das Dior-Kleid aus der Dubliner Verpackung, stopfte auch diese in den Müll, legte das Kleid sorgfältig zusammen und verstaute es in seiner Tasche.
Von Zweifeln geplagt, seine Frau durch das viele Grün zu einem irischen Kobold zu machen, bestellte er sich einen Teller mit irischen Würstchen und Rühreiern und machte es sich in der Ecke bequem, um die Irish Times zu lesen.
Erneut wurde ihm das Ausmaß seiner Tat deutlich vor Augen geführt.
Auf der Titelseite ging es um nichts anderes als den Tod von Henri Foche. Innen fand sich eine zweiseitige Fotostrecke über den gaullistischen Politiker und seine Frau, dazu Bilder von ihrem Haus in Rennes und der Werft an der Loire-Mündung.
Er beendete sein Essen und ging zur First-Class-Lounge von Aer Lingus. Der Fernseher, aus irgendeinem Grund auf den amerikanischen 24-Stunden-Nachrichtensender Fox eingestellt, brachte nichts anderes, nur wurden immer wieder aktuelle Berichte über die Fahndung der Polizei in den diversen Landesteilen eingeblendet, in denen der große Schweizer Attentäter gesichtet worden sein sollte.
Doch dank des unermüdlichen Norman Dixon landete Fox schließlich auch einen Scoop. Sie sendeten ein Interview mit den beiden Fischern aus Brixham, Fred Carter und seinem Ersten Maat Tom, jenen, die im Ärmelkanal baden gewesen waren.
Fred war immer noch völlig außer sich. »Das war Piraterie. Dieser verdammte Halunke hat mich einfach aus dem Ruderhaus gezerrt und über Bord geschmissen. Herrgott, der war vielleicht stark! Ich platsche ins Wasser, da kommt auch schon Tom geflogen und landet etwa 20 Meter weiter.«
Und er fuhr einfach davon und hätte Sie ertrinken lassen?
»Na ja, nicht ganz. Er kam achteraus und warf uns Rettungswesten zu. Die sind ganz nah bei uns gelandet, als wäre er selbst ein Seemann.«
Hatten Sie Angst?
»Ein bisschen. Wir hatten nämlich beide Seemannsstiefel an, die können sich schnell mit Wasser füllen und einen runterziehen. Aber wir haben sie abgestreift und sind dann einfach losgeschwommen.«
Es war dunkel?
»Ja. Aber wir konnten noch die Lichter der Küste sehen. Ich würde sagen, wir waren zwei Seemeilen weit draußen.«
Würden Sie den Angreifer wiedererkennen?
»Den würde ich überall wiedererkennen. Er hatte einen buschigen schwarzen Vollbart, und er hat mit einem seltsamen ausländischen Akzent gesprochen. Angeblich soll er ja aus der Schweiz kommen.«
Irgendeine Vorstellung, warum er Ihr Boot gestohlen hat?
»Gestohlen und verschwinden lassen. Die Eagle ist seitdem nicht mehr gesichtet worden.«
Sie waren versichert?
»Ja, ja, alle Fischerboote sind versichert, gut versichert. Die Beiträge sind nicht hoch, schließlich kommt es nicht oft vor, dass man einen Trawler verliert. Ich hab auch verlangt, dass sie mir den entgangenen Fang entschädigen.«
Haben sie gezahlt?
»Noch nicht. Die meinen, warum sollen sie für einen Fang zahlen, den wir noch gar nicht hatten. Ich hab ihnen gesagt, dass wir den auf jeden Fall bekommen hätten. Da war Schellfisch draußen, riesige Schwärme. Die schulden uns verdammt noch mal das Geld. Dafür zahl ich doch die verdammte Prämie.«
Der Interviewer lächelte und stellte eine letzte Frage: Glauben Sie, dass man den Piraten erwischen wird?
»Würde mich überraschen, wenn sie den nicht erwischen. Er war groß wie ein Scheunentor und zottelig wie ein Bär. So einen übersieht man nicht. Der sieht wie King Kong aus.«
Mack konnte sich das Lachen nicht mehr verkneifen und verschanzte sich hinter seiner Irish Times.
Um 18.45 Uhr wurde sein Flug aufgerufen. Fast die gesamte Strecke über den Atlantik schlief er. Er war noch immer erschöpft von der Flussdurchquerung, die ihm die Freiheit geschenkt und die französische Polizei in Verwirrung gestürzt hatte.
Die Maschine befand sich bereits über der Massachusetts Bay, wenige Kilometer östlich des Boston Logan International Airport, als die Stewardess ihn schließlich weckte und bat, sich anzuschnallen.
Da sein Sitzplatz in den vorderen Reihen lag, gehörte er zu den Ersten, die die Maschine verließen; unverzüglich eilte er zu den Glaskabinen, wo die Beamten der Einwanderungsbehörde die Pässe inspizierten, sie fotografierten, die Visa überprüften und Fingerabdrücke nahmen. Es war Macks letzte Hürde. Er legte Jeffery Simpsons gefälschte Dokumente vor.
Amerikanische Pässe allerdings werden weniger streng kontrolliert. Der Beamte schlug den Pass auf, verglich das Foto mit der Person vor sich, bemerkte, dass das Dokument vor einigen Jahren in Rhode Island ausgestellt worden war, und sagte: »Willkommen zu Hause, Mr. Simpson.«
Mack marschierte durch und ging nach unten in den Gepäckbereich. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es in der Schweiz Viertel nach vier Uhr morgens war, zu spät, um zu telefonieren. Außerdem konnte er zu dieser Zeit nicht mehr nach Maine, weshalb er nach draußen ging und sich in den Bus zum Hilton setzte, das keinen Kilometer vom Terminal entfernt lag.
Er checkte als Lieutenant Commander Mackenzie Bedford ein, so ehrlich war er seit Menschengedenken nicht mehr gewesen, und bat, um vier Uhr morgens geweckt zu werden, damit er die Schweizer Klinik anrufen konnte.
An der Hotelbar war einiges los, er bestellte sich einen Scotch mit Soda, so, wie er ihn mit Harry immer trank. Erstaunt erfuhr er, als er zum über der Theke angebrachten Fernseher sah, dass die französische Polizei im Zusammenhang mit dem Mord an Henri Foche eine Verhaftung vorgenommen hatte. Der Verdächtige war ein Schweizer Staatsbürger aus Lausanne, der in Saint-Malo aufgegriffen worden war, wo er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern an Bord einer gecharterten Jacht einen Kurzurlaub verbracht hatte. Er hieß Gunther, war 1,93 Meter groß und hatte einen Vollbart.
Sein Anwalt behauptete jedoch, er sei Trainer der Schweizer Fußballnationalmannschaft, habe sein Leben lang keine Waffe abgefeuert und zum Zeitpunkt des Attentats mit der Familie auf der Strandpromenade in Saint-Malo Kaffee getrunken. Er fügte noch hinzu, dass er im Namen seines Mandanten die französische Polizei auf finanzielle Entschädigung in nicht genannter Höhe verklagen werde wegen der rechtswidrigen Verhaftung, wegen Verleumdung, Ehrverlust, psychischer Belastungen und weiß Gott noch alles. Trotzdem saß Gunther im Moment im Kittchen und wartete auf seine Anhörung. Der bretonische Polizeichef Pierre Savary verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, den richtigen Mann geschnappt zu haben.
»Dummer Arsch«, murmelte Mack nur.
Nachts schlief er unruhig; er machte sich Sorgen um Tommy. Als er vom Hotel geweckt wurde, wählte er mit zitternden Fingern die Nummer der Klinik. Er wurde sofort zum Büro von Carl Spitzbergen durchgestellt und dann zum großen Chirurgen persönlich.
»Na, Lieutenant Commander, Sie haben einen ganz großartigen Jungen.«
»Danke, Sir«, antwortete Mack. »Eigentlich rufe ich an, um zu erfahren, ob bei ihm alles in Ordnung ist.«
»Bei ihm ist alles in Ordnung, soweit ich das von hier aus sagen kann«, sagte Carl Spitzbergen. »Das heißt, sollte ich vielleicht anfügen, dass er so gesund ist wie nur möglich. Er ist zäh und stark, und er hat die achtstündige Operation weggesteckt, wie man das von einem Jungen nicht besser erwarten konnte.«
»Kann ich mit ihm reden?«
»Sicher, wenn er hier wäre. Seine Genesung verlief so schnell, dass ich ihn schon nach zwölf Tagen entlassen habe. Er und seine Mutter sind gestern mit der Morgenmaschine von Genf aus nach Hause geflogen.«
»Sie meinen, er ist schon wieder in den Staaten?«
»Das hoffe ich doch«, erwiderte der Chirurg.
An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Mack zog sich an, zahlte, nahm ein Taxi zum Busbahnhof und kaufte eine Fahrkarte für den ersten Bus nach Brunswick, Maine, der um sieben Uhr losfuhr.
Er war ganz benommen vor Glück, als er den Boston Globe las. Foche war von der Titelseite verdrängt worden, ein Artikel auf den hinteren Seiten aber informierte darüber, dass der in Saint-Malo verhaftete Schweizer Staatsbürger mangels Beweisen auf freien Fuß gesetzt worden war.
Es war kurz nach zehn, als der Bus Brunswick erreichte; Mack war der einzige Fahrgast, der ausstieg. Er stand an der Bushaltestelle und wartete auf den Lokalbus, der ihn zehn Minuten später nach Hause bringen würde.
Es war ein seltsames Gefühl, nach allem, was geschehen war, nach Maine zurückzukehren. Die Herrlichkeit der Landschaft schien sich seit seiner Abreise noch verstärkt zu haben; bewundernd starrte Mack auf den Kennebec, der in zahllosen Windungen nach Dartford strömte, begleitet von den unermüdlichen Schreien der Möwen und Küstenseeschwalben.
Als der Bus schließlich oben an der Straße hielt und er ausstieg und sich auf den Weg machte, überlegte er, was zum Teufel er Anne erzählen sollte – wo er gewesen war, warum er nicht angerufen hatte und warum er wollte, dass sie wie ein irischer Kobold aussah.
Im Moment aber zählte das alles nicht. Er ging mit seiner Ledertasche mitten auf der einsamen Straße. Vor sich konnte er die Mündung des Kennebec sehen, bald würde das Haus in Sichtweite kommen, in dem Anne und Tommy wahrscheinlich einen Schock erlitten, wenn er einfach aus dem Nichts auftauchte. Aber daran waren sie gewöhnt. Sein ganzes Leben lang war er plötzlich verschwunden und wieder aufgetaucht. So oft war es vorgekommen, dass er nicht hatte anrufen, ihr nicht hatte sagen können, was er tat, wohin er unterwegs war oder wann er zurückkehren würde.
Alle SEAL-Einsätze waren streng vertrauliche Geheimoperationen. Bei jedem Einsatz wurden sie schon Tage vor dem Abmarsch abgeschottet: keine Telefonate von und zur Basis, keinerlei Kontakt zur Außenwelt. Anne kannte das und hatte es als Frau eines Marineoffiziers der Spezialkräfte akzeptiert. Wahrscheinlich würde sie ihn nie danach fragen, was er getrieben oder wo er sich aufgehalten hatte. Sie hatte es noch nie getan.
Er war am Haus angekommen, ging über den großen Garten und trat auf die Veranda. Und dort entdeckte ihn Anne, als sie aus dem Fenster sah. Sie rannte nach draußen, warf sich ihm in die Arme, er ließ die Tasche fallen und hielt sie so fest, dass sie fürchtete, sie könnte ersticken.
Sie spürte seinen mächtigen Herzschlag und flüsterte ihm zu, so leise und verführerisch, wie ihr möglich war: »Willkommen zu Hause, mein Lieber, und schhhh, Tommy schläft. Er wird erst in ein paar Stunden aufwachen. Sind wir nicht Glückspilze.«
Fünf Tage später, Morgendämmerung
Persischer Golf
Eine nach der anderen rauschten sie vom Flugdeck der USS Colin Powell – zwölf F/A 18C Hornets, die von McDonnell Douglas gebauten Todesengel mit Deltaflügeln, die als die gefährlichsten Jagdbomber am Himmel gelten. Im Cockpit saßen die Männer der legendären, in Florida stationierten VMFA-323-Schwadron, die Death Rattlers, Männer, die ihre Maschinen als Snake 200 oder Snake 101 bezeichneten. Top-Gun-Piloten hoch zehn.
Das Deck des riesigen Flugzeugträgers der Nimitz-Klasse vibrierte noch unter den Schallwellen der Hornet-Triebwerke, dem donnernden Lärm des Katapults, das die letzte Maschine in den Himmel geschleudert hatte.
Der Träger schimmerte im frühen Morgenlicht, 15 Seemeilen vor der irakischen Küste. Hoch am Himmel nahmen die Hornets ihre Angriffsformation ein. Lieutenant Commander Buzzy Farrant führte sie mit knapp 1300 Stundenkilometern über das flache, wasserreiche Land des südlichen Schatt-al-Arab.
Im Tiefflug donnerten sie über die uralten Gebiete der Sumpfaraber. Der ohrenbetäubende Lärm der Triebwerke hätte ihre Häuser bis auf die Grundfesten erschüttert, wenn sie denn welche gehabt hätten. Bäume schwankten, die Erde erzitterte, als die US-Maschinen nach Norden rauschten. Am Tigris änderten sie ihren Kurs, drehten hart nach rechts, direkt auf die iranische Grenze zu. Vier Hornets lösten sich von der Formation und flogen die iranische Hafenstadt Khorramshar an. Vier flogen weiter, folgten ihren GPS-Koordinaten, bis sie fast im iranischen Luftraum waren.
Buzzy Farrant feuerte zwei Sidewinder-AIM9L-Raketen direkt auf den Bunker, in dem die Diamondheads gelagert wurden. Die leuchtend blaue Explosion der Chemikalien, die er hinter sich zurückließ, überstrahlte die aufgehende Sonne. Weiter ging es mit ihrem Angriff, Bomben und Raketen fielen auf ein riesiges Lagerhaus in der Ölstadt Ahvaz, bevor sie den Flugplatz ansteuerten, wo sie einen riesigen Iljuschin Il-76-Transporter zerstörten.
Sie bombardierten die Eisenbahnlinie, löschten einen Güterzug aus, vernichteten die Kais in Khorramshar und setzten zwei hochseegängige Frachter auf den Grund des Hafens. Beide Schiffe brannten noch unter Wasser blau schimmernd vor sich hin – so wie alles, was auf ihrem Weg verwüstet worden war.
Die Informationen darüber waren streng vertraulich behandelt worden. Die Genauigkeit der Angriffe jagte dem iranischen Militär einen gehörigen Schrecken ein, einen Schrecken wie damals Gaddafi, nachdem Präsident Reagan 1986 Tripolis erklärt hatte, wie verärgert er mit ihm sei.
Die Amerikaner hätten die Zerstörung der iranischen Diamondheads geheim halten wollen, die Regierung in Teheran allerdings gab eine zerknirschte Erklärung dazu ab und beklagte die Aktion als erneutes Beispiel skrupelloser amerikanischer Aggression. Damit aber war die Katze aus dem Sack.
Time Magazine, das in dieser Region über hervorragende Kontakte verfügte, recherchierte zwei Wochen lang an der Story, bevor es mit »Totengeläut für die Diamondhead« an die Öffentlichkeit ging. Man hatte hervorragende Arbeit geleistet und minutiös den Angriff im Morgengrauen nachgezeichnet, der jede bekannte Lagerstätte der Rakete zum Ziel hatte, vor allem die umfangreiche Schiffsladung in Khorramshar, die kurz davor stand, nach Afghanistan geliefert zu werden. Der Artikel endete mit einem weniger gut dokumentierten, aber offensichtlich ebenso korrekten Bericht über die Reaktionen in Frankreich.
Die Ermordung von Henri Foche, angeblich der Hauptanteilseigner von Montpellier Munitions, schien einigen Druck von der französischen Regierung genommen zu haben, denn zum ersten Mal rang man sich zu dem Eingeständnis durch, dass die Rakete französischen Ursprungs sei.
Unterstützt von UN-Militärvertretern, ließ die französische Regierung die Rüstungsfirma im Wald von Orléans schließen. Unbestätigten Berichten zufolge sollen zwei hochrangige Firmenvertreter das Gelände in Handschellen verlassen haben. Sämtliche Gebäude sind mittlerweile abgerissen, Augenzeugen berichten, dass alle technischen und militärischen Gegenstände vom französischen Militär entfernt wurden.
Das Rätsel um die illegale Rakete, die so viel Leid über die US-Streitkräfte gebracht hat, ist damit endlich gelöst. Ob es jemals so weit gekommen wäre, wenn Henri Foche tatsächlich zum französischen Präsidenten gewählt worden wäre, darf getrost bezweifelt werden. Sein verfrühter und gewaltsamer Tod war Voraussetzung für das Ende der Schreckensherrschaft, die die Diamondhead im Nahen Osten ausgeübt hat.
Lieutenant Commander Mackenzie Bedford las den Artikel mit einem trockenen Grinsen und garnierte die Lektüre mit einem Kommentar direkt aus dem SEAL-Handbuch … der Dreckskerl hat’s doch nicht anders gewollt.