KAPITEL ACHT
Mack checkte mit seinem Jeffery-Simpson-Pass ein. Die Aer-Lingus-Angestellte in ihrer ordentlichen smaragdgrünen Uniform warf einen kurzen Blick auf das Dokument und gab ihm einen Platz ganz vorn in der Maschine, die, wie sie sagte, nicht voll sein würde.
Mack dankte ihr, ging nach oben zur Sicherheitskontrolle und stellte seine Tasche auf das Laufband für das Röntgengerät. Die Anzeigen auf dem Angriffsboard sahen auf dem Bildschirm wie kleine Reisewecker aus. Der übrige Inhalt bestand vorwiegend aus Papier und Gummi, sodass die alte Ledertasche unbeanstandet durchging.
Kein Alarm wurde ausgelöst, als Mack den Metalldetektor passierte, und drei Minuten später war er in einem Zeitungsladen und kaufte sich eine Ausgabe von Le Monde.
Er trat in die First-Class-Lounge und ließ sich in einem Armsessel am Tisch in der Ecke nieder, ganz in der Nähe des Fernsehers. Die irische Angestellte bot an, ihm einen Kaffee und, falls er es wünsche, ein Sandwich zu bringen, auch müsse er nicht auf die Durchsagen achten. Sie würde ihn zur angemessenen Zeit zum Flugzeug begleiten.
Es war nicht viel los in der Lounge, die Maschine nach Dublin war der einzige Aer-Lingus-Flug an diesem Abend. Sechs andere Personen hatten es sich bequem gemacht, Mack allerdings war der Einzige, der das Baseball-Spiel im Fenway Park verfolgte.
Das Sandwich mit Räucherlachs, echtem irischem Wildlachs, war wahrscheinlich die beste Mahlzeit, die er seit Annes Abreise in die Schweiz zu sich genommen hatte. Als die Red Sox ihre Läufer auf der ersten, zweiten und dritten Base hatten und anschließend mit 3 zu 0 in Führung gingen, kam er zu dem Schluss, dass das Leben, alles in allem, gar nicht so schlecht war. Die Red Sox hatten eine 5 : 3-Führung herausgearbeitet, als Mack an Bord der Maschine musste. Drinnen nahm er auf seinem komfortablen Sitz Platz. Er zog die Jacke aus, denn es war ziemlich warm, und die Stewardess fragte ihn, ob er vor dem Abflug einen Black Velvet haben wolle.
»Black Velvet?«, fragte er.
»Guinness mit Champagner«, antwortete sie. »Irisches Lebensblut.«
Mack lehnte ab. Bevor Henri Foche nicht tot und er unbeschadet zu Hause war, würde er keinen Tropfen anrühren.
Sie starteten pünktlich. Zum Abendessen verspeiste Mack ein irisches Filetsteak, medium, las die Zeitung und frischte mit Le Monde sein Französisch auf. Auf Seite acht fiel ihm ein Foto von Foche auf. »Schweinepriester«, murmelte er und bemühte sich, den Inhalt des Artikels zu erfassen. Es wurde nicht viel über den französischen Politiker gesagt, nur dass er am darauffolgenden Tag in seiner Heimatstadt Rennes eine Rede halten wollte. Die Zeitung war auf mercredi datiert, der Auftritt dürfte daher schon stattgefunden haben. Aber Mack war zufrieden. Die Auftritte des Gesuchten schienen den landesweiten Medien mittlerweile eine Meldung wert zu sein – der hinterhältige Dreckskerl kann sich nicht mehr vor mir verstecken.
Mack verschlief den Großteil des Fluges. Fünf Stunden später – er schlief noch immer – weckte ihn die Flugbegleiterin und bot Rührei mit irischem Schinken und Sodabrot zum Frühstück an. In 35 Minuten würde man in Dublin landen.
Erfrischt von einem großen Glas Orangensaft, rückte »Jeffery Simpson« seine Perücke zurecht und genoss das großartige Frühstück. Zum Teufel mit Joghurt und Frühstücksflocken, dachte er. Das ist ganz nach meinem Geschmack.
Am Sonntagmorgen um 9.30 Uhr Ortszeit landeten sie in Dublin. Mack griff sich seine Tasche und unterzog sich am Immigrationsschalter dem ersten ernsthaften Test. Er stellte sich an und legte seinen US-Pass vor. Der Beamte hinter dem Schalter lächelte ihn an, schlug den Pass auf, verglich das Foto mit Macks Gesicht und fragte: »Wie lange werden Sie in Irland bleiben, Mr. Simpson?«
»Eine Woche vielleicht.«
Der Beamte stempelte den Pass, bestätigte Dublin als Ort der Einreise und sagte: »Willkommen, Sir. Haben Sie einen angenehmen Aufenthalt.«
Mack ging nach draußen, nachdem er vorher in einer Toilette die Jeffery-Simpson-Verkleidung abgelegt hatte, und stellte sich in die kurze Schlange für die Taxis. Es herrschte kaum Verkehr, und nach 20 Minuten fuhren sie durch die Vororte der irischen Hauptstadt. Sie überquerten den Liffey, bogen nach links und folgten dem Südufer zu den Außenbezirken von Balalsbridge. Vor sich entdeckte Mack genau das, wonach er Ausschau gehalten hatte – einen großen Gebrauchtwagenhändler, bei dem einiges los zu sein schien.
Er ließ den Taxifahrer 400 Meter weiterfahren und sagte dann in seinem besten irischen Akzent, zu dem er fähig war: »Könnten Sie gleich hier anhalten, Sir. Ich denke, ich werde kurz mal bei meiner Tante auf einen Kaffee vorbeischauen.«
»Kein Problem. Das macht 24 Euro.«
Mack zog ein paar Scheine aus der Tasche und reichte dem Fahrer 30 Euro. Er stieg aus, ging zu dem Gebrauchtwagenhändler zurück und schlenderte langsam zwischen den Wagen herum, um nicht die Aufmerksamkeit eines übereifrigen Verkäufers zu wecken. Doch kaum hatte er ein paar Schritte getan, stürzte sich auch schon der Besitzer, ein gewisser Michael McArdle, auf ihn und versicherte, dass der Ford Fiesta, den er sich gerade ansah, wahrscheinlich das beste Schnäppchen in der ganzen langen Geschichte des Autohandels sei. »Ich will Ihnen mal was sagen. Der Wagen ist vier Jahre alt und hat einer Dame aus der Gegend hier gehört. Er hat nur 25 000 Kilometer drauf und ist von uns eigenhändig gewartet worden. Das ist das beste Angebot, das ich in meinem ganzen Leben gemacht habe.
Und verlange ich dafür 20 000? Nein, Sir, das tue ich nicht. Verlange ich 15 000? Nein, Sir. Ich will Ihnen was sagen, für 12 000 können Sie ihn haben. Na, das ist doch ein fairer Preis?«
»Hängt davon ab«, sagte Mack. »Wie wär’s mit 10 000 in bar?«
»Na ja, ich müsste erst den Scheck überprüfen lassen.«
»Ich sagte in bar. Zehntausend Euro, auf die Hand«, sagte Mack.
»Einverstanden«, erwiderte Michael McArdle. »Abgemacht, auch wenn Sie mir einen Dolch ins Herz stoßen, wenn ich mich für eine so lumpige Summe von diesem Wagen trennen muss. Wann brauchen Sie ihn?«
»Jetzt.«
»Jetzt! Großer Gott! Ich muss den Papierkram erledigen, die Formulare ausfüllen. Morgen können Sie ihn haben.«
»Dann bin ich hier wohl falsch. Auf Wiedersehen«, erwiderte Mack.
»Na, nicht so eilig, junger Mann. Mal sehen, was sich machen lässt. Aber ich muss die Zulassungspapiere ausfüllen. Haben Sie Ihren Ausweis dabei?«
»Kein Problem. Pass und Führerschein. Die brauchen doch nicht auch noch ein Foto von mir, oder?«, fragte Mack.
»Nein, nein. Nicht nötig. Es reicht, wenn Sie mir Ihre Personalien und die Passnummer nennen.«
»Und Sie können mir zusichern, dass die Karre läuft?«
»Das kann ich Ihnen zusichern, ich geb Ihnen darauf sogar die zweijährige McArdle-Garantie. Uns gibt es schon ein halbes Jahrhundert. Wenn der Wagen auf den ersten 7000 Kilometern schlappmacht, erstatten wir Ihnen den Kaufpreis, und Sie können den Wagen behalten.«
Mack lachte. »Dann mal los, Michael, bringen wir die Sache hinter uns.«
Eine halbe Stunde später verließ ein Ford Fiesta in Moondust Silver mit Klimaanlage das Gelände des Gebrauchtwagenhändlers und bog nach links in die Lansdowne Road ein. Er war auf jemanden mit dem Namen Patrick O’Grady zugelassen, den es (a) überhaupt nicht gab, der (b) eine Adresse hatte, die es ebenfalls nicht gab, und (c) im Besitz eines Führerscheins war, der niemals ausgestellt worden war.
Mack war es gelungen, Michael McArdle noch eine Straßenkarte von Irland abzuschwatzen. Der Gebrauchtwagenhändler betonte bei dieser Gelegenheit nochmals, dass so großzügige Verträge wie dieser ihn sicherlich noch ins Grab bringen würden. Dennoch wünschte er Mr. O’Grady alles Gute.
Mack trat aufs Gas und konnte zufrieden feststellen, dass der Motor wirklich hielt, was Michael versprochen hatte. Er fuhr zur Merrion Road, bog, nachdem er Ballsbridge gekreuzt hatte, rechts ab zur nach Südosten führenden Hauptverkehrsstraße und nahm Kurs auf die Wicklow Mountains.
In ganz Irland hatte er nur einen einzigen Kontakt, einen Mann namens Liam O’Brien in der kleinen Wicklow-Stadt Gorey. Er hatte durch schieren Zufall von ihm erfahren. In den letzten Tagen seines Lebens, bevor er im Panzer ums Leben gekommen war, hatte Charlie O’Brien erwähnt, dass er und seine Frau nach Irland in den Urlaub wollten. Mack hatte ihn gefragt, wo sie übernachten würden, worauf Charlie ihm erzählte, er habe in Gorey einen Cousin, den er noch nie gesehen habe. »Er hat einen Haushaltswarenladen. Aber mein Vater schwört bei Gott, dass er ein hochrangiges Mitglied der IRA war. Liams Vater, der vor ein paar Jahren gestorben ist, war der Bruder meines Dads.«
Daran hatte sich Mack erinnert, und an den langen Tagen nach Annes Abreise war er zu dem Schluss gekommen, dass der Cousin jemand sein könnte, der einen Büchsenmacher in England kannte. Denn es stand völlig außer Frage, die Waffe woanders zu erwerben und sie durch den wachsamen britischen Zoll schmuggeln zu wollen.
Zu seiner Freude stellte er fest, dass Gorey an der N11 lag, der Hauptverkehrsverbindung von Dublin in den Süden, worauf er kurzerhand beschloss, statt der England-Fähre von Dun Loaghaire, südlich von Dublin, die von Rosslare im County Wexford zu nehmen. Gorey lag 55 Kilometer nördlich von Rosslare Harbour.
Es gab nur ein Problem: O’Briens Haushaltswarenladen würde sicherlich geschlossen haben. Mack beschloss, in die Stadt zu fahren, den Laden ausfindig zu machen und anschließend zu versuchen, die Telefonnummer von Charlies Cousin herauszufinden. Dabei wollte er keinesfalls sein Wunderhandy benutzen; bereits jetzt dachte und handelte er, als wäre er auf der Flucht. Es fiel ihm sogar schwer zu glauben, dass bislang kein Verbrechen begangen worden war, sah man von der falschen Autozulassung ab – was aber ja nicht wirklich zählte.
Er fuhr durch die Wicklows, westlich von ihm erhob sich der Great Sugarloaf Mountain, kurz darauf surrte der Ford Fiesta an den Hügeln vorbei, die sich zum Devil’s Glen hinaufzogen. Die Straße war neu und führte in einem Bogen an der historischen Hafenstadt Arklow vorbei, der geschäftigsten Stadt im County Wicklow, deren Ursprünge bis ins 2. Jahrhundert zurückreichen.
Mack überquerte den Fluss Bann und traf gegen zwei Uhr im ruhigen, kleinen Gorey ein. »Ruhig und klein« trifft es allerdings nicht unbedingt, denn in dieser Stadt schlägt des Herz des irischen Republikanismus. Jahrelang war sie eine Hochburg der IRA gewesen; als vor vielen Jahren ein Doppeldeckerbus in London in die Luft gesprengt wurde, stammte der Täter aus Gorey.
Natürlich wusste Mack Bedford das nicht, sonst hätte er etwas mehr Vorsicht walten lassen. Einige wenige Geschäfte und mehrere Bars hatten geöffnet – selbst hier war der Einfluss der katholischen Kirche in den letzten Jahren etwas zurückgedrängt worden –, doch der Haushaltswarenladen, den er schließlich in einer kleinen Nebenstraße fand, etwa 40 Meter von der Hauptstraße entfernt, war leider geschlossen.
Die einzige vom Laden ablesbare Information war der Name, L. O’Brien und Söhne, Haushaltswaren und Farben. Mack fuhr in Richtung Kirche und entdeckte dort eine Telefonzelle, in der ein Telefonbuch auslag. Er ging die Einträge durch und fand den Laden und darunter einen weiteren L. O’Brien mit der gleichen Anschrift. Es musste die Privatnummer sein; anscheinend wohnte die Familie über dem Laden. Ein Glückstreffer, nachdem im Telefonbuch mehrere Tausend O’Briens verzeichnet zu sein schienen.
Kurz entschlossen wählte er die Nummer eines der ehemals gefährlichsten IRA-Mitglieder des Landes. Eine mürrische Stimme meldete sich. »Ja?«
Mack beschloss, seinen gewöhnlichen amerikanischen Akzent beizubehalten.
Spreche ich mit Mr. O’Brien?
Wer sind Sie?
Ich war ein enger Freund Ihres amerikanischen Cousins Charlie O’Brien.
Ach, tatsächlich?
Ja. Ich war mit ihm im Irak, kurz vor seinem Tod, und ich hab ihm erzählt, dass ich nach Irland und nach England kommen würde.
Und was kann ich für Sie tun?
Na ja, Sir, ich will im Herbst auf die Jagd gehen und bräuchte einen Büchsenmacher in London. Charlie meinte, Sie könnten mir dabei vielleicht helfen.
Was wollen Sie denn jagen? Liam O’Brien lachte.
Nur ein paar Fasane und Moorhühner.
Klar. Warum versuchen Sie es dann nicht bei den üblichen Londoner Adressen, bei Holland and Martin? Vielleicht sogar bei Purdey’s?
Das könnte ich tun. Aber eigentlich suche ich jemanden, der etwas weniger … auffällig ist.
Also, wenn ich Sie recht verstehe, wollen Sie ein etwas anderes Gewehr. Es verstößt ja kaum gegen das Gesetz, wenn ich Sie in die richtige Richtung lenke.
Ich will nicht gegen irgendwelche Gesetze verstoßen, Mr. O’Brien.
Nein, natürlich nicht. Das wollte ich auch nie. Gut, Folgendes, ich komme zu einem festgelegten Zeitpunkt runter und gebe Ihnen einen Zettel mit dem Namen, der Adresse und Telefonnummer des Mannes, den Sie brauchen. Ich muss ihn vorher anrufen und ihm einen Namen nennen. Das wird Sie 2000 Euro kosten, und ich will dabei weder Ihr Gesicht sehen noch Ihren richtigen Namen hören. Nehmen Sie an, oder lassen Sie es bleiben.
Ich nehme an. Und was den Zeitpunkt betrifft – wie wäre es mit jetzt? Zufällig bin ich in Gorey.
Parken Sie in fünf Minuten vor dem Laden. Und schauen Sie mir nicht ins Gesicht. Haben Sie das Geld, in bar?
Ja.
Wer illegale Waffen will, hat immer Kohle dabei, was? Erneut lachte Mr. O’Brien.
Es gefiel Mack Bedford, wie man in Irland Geschäfte machte. Kein Drumherumgerede, offen und ehrlich.
Er fuhr zu O’Briens Laden und parkte davor. Eine Minute später trat ein Mann aus einer Seitentür und stellte sich neben den Fiesta. Mack Bedford wurde ein Zettel überreicht, den er schnell las. Die Hand, die ihm den Zettel gegeben hatte, verharrte leicht geöffnet an der Seitenscheibe. Mack drückte ihm 20 100-Euro-Scheine hinein.
»Sehr vertrauensvoll von Ihnen, Sir. Vor allem, weil Sie gar nicht wissen, ob meine Informationen was taugen.«
»Wäre besser, wenn sie was taugen«, sagte Mack.
»Ach ja?«
»Ja, O’Brien. Falls nicht, komme ich zurück und töte Sie vielleicht.«
»Die Informationen sind gut«, erwiderte der Ire. »Unter Gaunern gibt es noch so was wie Ehrgefühl.« Wieder sein glucksendes Lachen, das Mack auch schon am Telefon gehört hatte.
»Und welchen Namen soll ich ihm nennen, wenn Sie bei ihm auftauchen?«
Mack, den Blick starr nach vorn gerichtet, antwortete, ohne zu zögern. »McArdle, Tommy McArdle.«
»Ich werde anrufen. Ihr Mann befindet sich etwa eine halbe Stunde westlich von London. Er ist der beste private Büchsenmacher in England … Alles Gute, Tommy, und zielen Sie um Gottes willen gut.«
»Bis dann, Liam«, sagte Mack lächelnd, während er losfuhr, ohne auch nur einmal den Kopf gewendet zu haben oder von Liam O’Brien angesehen worden zu sein.
Er setzte die Fahrt nach Süden fort in Richtung der alten Stadt Enniscorthy mit ihrer mächtigen normannischen Burg und einer außergewöhnlichen römisch-katholischen Kathedrale, die von Augustus Pugin entworfen worden war, demselben Architekten, von dem auch das Londoner Parlamentsgebäude stammt.
Er fuhr durch Enniscorthy, in dem sich sehr viel mehr Touristen herumtrieben als in Gorey, überquerte auf der neuen einspurigen Brücke den Slaney, bog rechts ab und folgte auf einer neuen breiten Straße dem gewundenen Flusslauf nach Wexford. Über die Umgehungsstraße dort kam er auf einer zweispurigen Schnellstraße bald zum Hafen von Rosslare.
Er hielt auf einem Hügel über dem Hafen an einer Tankstelle, tankte und besorgte sich einen Becher Kaffee, den er langsam auf dem Vorplatz trank, während er den Blick über die Straße hinaus auf die ruhigen Gewässer des St. George’s Channel schweifen ließ.
Um etwa halb fünf fuhr er den steilen Hang zum Fährhafen hinunter, stellte den Wagen ab, ging zum Stena-Line-Schalter und erkundigte sich nach einer Fähre nach England.
»Eigentlich geht sie nach Wales, Sir«, sagte der Angestellte, ein junger Mann, dessen Namensschild ihn als Seamus auswies. »Und sie läuft auch erst um 22.15 Uhr aus. Sie können gegen halb acht an Bord.«
»Vorher nicht?«
»Na ja, vorher ist sie noch mitten auf der Irischen See«, sagte Seamus. »Das geht also schlecht.«
»Wann ist sie in Wales?«
»Gegen drei Uhr morgens. Fishguard, Südwales, Sie können dann sofort abfahren. Aber wenn Sie eine Kabine buchen und noch bis halb sieben im Bett bleiben wollen, ist das auch in Ordnung. Sie müssen uns nur sagen, wann Sie loswollen, damit wir den Wagen an der richtigen Stelle unterbringen.«
»Okay, Seamus. Dann hätte ich gern ein Erste-Klasse-Ticket, hin und zurück, für eine Kabine und einen Ford Fiesta.«
»Sie sind allein?«
»Ja.«
»Und wann wollen Sie zurück?«
»Das weiß ich noch nicht – können Sie das offenlassen?«
»Es kostet 20 Euro mehr, Sir, wenn Sie kein festes Datum angeben, meine ich.«
»Das ist tragbar«, erwiderte Mack.
»Name?«
»Patrick O’Grady.«
»Irischer Staatsbürger?«
»Ja.«
Als Seamus nach der Farbe und dem Nummernschild des Wagens fragte, gab Mack die Farbe mit Dunkelblau an und änderte drei der Ziffern, in der Hoffnung, es würde niemandem auffallen – dem dann auch so war.
»Mit welcher Karte wollen Sie zahlen?«
»Keine Karte. In bar.«
»Kein Problem.«
Mack reichte ihm über 300 Euro, nahm die Tickets in Empfang und ging. Alles in allem war es ein gelungener Arbeitstag. Er ließ den Amerikaner Jeffery Simpson in Irland zurück und bestieg die Fähre nach England mit einem Ticket, das auf den Iren Patrick O’Grady ausgestellt war, den es nie gegeben hatte. Der falsche irische Pass war nun registriert, und das Rückfahrticket würde nie benutzt werden.
Der Wagen war im Büro der Schifffahrtslinie unter einer falschen Farbe und einem stark abgeänderten Kennzeichen angegeben worden, sodass er samt seinem Fahrer von der Polizei kaum aufgespürt werden konnte. Falls denn überhaupt jemals nach ihm gesucht würde.
Mack zog sich auf den Parkplatz zurück, auf dem einiges los war, klemmte sich hinters Steuer, kurbelte das Seitenfenster herunter und las die Irish Sunday Times, die er in der Tankstelle gekauft hatte. Er wollte sich für die 22.15-Uhr-Fähre erst anstellen, wenn es eine Schlange gab und er Autos vor und hinter sich hatte. Im Moment wäre er der einzige Wagen.
Die zweieinhalbstündige Wartezeit zog sich hin. Mack schlief eine halbe Stunde, ansonsten hatte er viel Zeit zum Nachdenken. Ein beunruhigender Gedanke wollte ihm dabei nicht aus den Kopf. Bei jedem Einsatz, ganz egal wo, ob in den afghanischen Bergen oder in Bagdader Seitenstraßen, musste man mit Überraschungen rechnen, mit unerwarteten Problemen oder damit, dass man schlicht und einfach Pech – oder großes Glück – hatte. Etwas ging immer mal schief. Bei diesem Einsatz nun hatte er sein Glückskontingent, das auf den Namen Liam O’Brien lautete, bereits ausgeschöpft – das war der Gedanke, der ihm Sorgen bereitete. Von jetzt an, ging ihm durch den Kopf, würde es vielleicht nicht mehr so glatt laufen … Pass mal lieber auf, sonst bist du eher tot, als dir lieb ist.
Kurz vor acht Uhr reihte er sich in die mittlerweile lange Autoschlange vor der Fähre ein. Er kam pünktlich an Bord, keiner verlangte nach Ausweispapieren, und er stellte seinen Wagen zwischen den wenigen Autos der ersten Klasse ab. Er begutachtete seine Kabine, die klein, aber tadellos sauber war. Der Steward wies ihn daraufhin, dass ihm die Lounge der ersten Klasse freistand, wo er einen Drink und ein Abendessen zu sich nehmen könne, falls er es wünschte.
Er nahm seine Tasche und stieg die Stufen zum Oberdeck hinauf, fand die Lounge und schenkte sich Kaffee ein. Auf Anraten des Stewards bestellte er Seezunge, frisch aus der Bucht von Dublin, dazu Pommes und Spinat. Er trank Orangensaft und beschloss das Essen mit einem Teller Apfel-Crumble mit Sahne.
Das riesige Schiff legte pünktlich ab, glitt langsam an den Anlegestellen und der hohen, geschwungenen Hafenmauer vorbei und hielt auf das Leuchtfeuer zu, das, auf einem Felsvorsprung gelegen, die Einfahrt zum Hafen von Rosslare markierte.
Mack nahm seine Tasche, ging hinaus und lehnte sich an die Reling. Er sah die Hafenlichter in der Ferne verschwinden und spürte das vertraute Heben und Senken des Meeres, das zunehmen würde, sobald sie sich vom Land entfernt hatten und in die raue Irische See hinaussteuerten, in die von Südwesten der Atlantik hereindrückte. Er sah das blinkende Leuchtfeuer auf dem Felsen, als sie daran vorbeifuhren, und schätzte, dass sie 15 Knoten machten. Er musste an zu Hause und an den Leuchtturm auf Sequin Island denken.
Vor ihm lag nur Dunkelheit. So beschloss er, ins Bett zu gehen. In seiner Kabine zog er Jacke und Schuhe aus, verschloss die Tür, legte sich hin und zog einige Decken über sich. Fast augenblicklich schlief er ein und wachte dreieinhalb Stunden später, gegen 2.30 Uhr, wieder auf.
Noch immer war es finster, das Schiff aber rollte weit weniger als beim Auslaufen aus Rosslare. Mack stand auf und sah aus dem Steuerbordfenster. Etwa eine Seemeile querab konnte er das Leuchtfeuer von Strumble Head erkennen, diesen berühmten alten Leuchtturm, der dort auf einer felsigen Landzunge des britischen Festlands stand. Viermal hintereinander blinkte er jeweils auf, worauf eine Pause von sieben Sekunden folgte.
Mack wusste, das Schiff würde in einer halben Stunde anlegen, trotzdem musste er einen Blick auf die Karte der walisischen Küste werfen, die in allen Kabinen der ersten Klasse auslag. Egal auf welchem Schiff er sich befand, insgeheim hatte Mack Bedford immer das Gefühl, als stünde er selbst am Steuer oder müsste navigieren. Den Lieutenant Commander wurde er nie los.
Danach legte er sich wieder hin, er wollte wenigstens bis zum Einbruch der Morgendämmerung schlafen. Er hörte noch das Schiff anlegen und schlief dann bis sechs Uhr durch.
Als er später von der Fähre über die breite Stahlbrücke auf das britische Festland fuhr, sah er nur noch einen einzigen Wagen. Alle anderen mussten bereits in der Morgendämmerung abgefahren sein. Der Zollbeamte sah aufs Nummernschild. »Den Pass, Sir. Ire?«
»Ja«, sagte Mack und hielt ihm Patrick O’Gradys Pass hin.
»Geradeaus weiter, Sir«, erwiderte der Beamte, ohne überhaupt einen Blick auf das Dokument zu werfen. So reiste Mack Bedford völlig anonym und problemlos in das Vereinigte Königreich ein. Und in wenigen Tagen, so sein Plan, würde er auf dem gleichen Weg auch wieder ausreisen. Zuerst jedoch musste er nach London zu dem Büchsenmacher, so schnell, wie der irische Wagen mit der McArdle-Garantie ihn dorthin bringen würde.
Er fuhr auf die steile Klippe von Fishguard Harbour hinauf und bog dann nach rechts vom Meer weg auf die A40. Er kam zu dieser Morgenstunde auf der kurvenreichen Straße gut voran, es herrschte in seiner Richtung kaum Verkehr, anders als in der Gegenrichtung, wo ihm die Autos, die zur Fähre wollten, entgegenkamen. Er fuhr durch das wunderschöne Westwales mit seinen Ortschaften, deren alte gälische Namen aus mindestens 300 Buchstaben und kaum Vokalen bestanden.
Um sieben Uhr kam er an Wolf’s Castle vorbei, einer hoch auf einem Berg gelegenen Festung, die sich vor dem Himmel abzeichnete. Er brauchte eine weitere Stunde, bis er den M4-Motorway erreichte, der durch südwalisische Täler mit alten Kohlenminen führte und weiter nach London; eine Fahrt von drei Stunden auf einer der verkehrsreichsten Autobahnen Großbritanniens.
Um neun Uhr überquerte er die Severn Bridge und hielt an der ersten Raststätte an, die er fand. Er tankte, ging hinein und bestellte ein britisches Frühstück mit Würstchen, Toast und Rührei. Er blieb zu einer zweiten Tasse Kaffee und beschäftigte sich mit einem Londoner Stadtplan, machte die Straße ausfindig, in der der Büchsenmacher wohnte, und setzte sich dann wieder auf dem M4 in Richtung Osten, zur Hauptstadt, in Bewegung.
Die Karte hatte sich als äußerst hilfreich erwiesen, denn es stellte sich heraus, dass er nicht ins Londoner Zentrum musste. Er konnte außerhalb bleiben, vielleicht in einem der vielen Hotels übernachten, die in der Nähe des Flughafens und des M4 lagen. Von dort konnte er die Sache mit dem Büchsenmacher regeln, einem Mr. Kumar, der in Southall wohnte, keine acht Kilometer vom Flughafen entfernt.
Sehr gute Nachrichten also, denn Hotels in der Nähe großer internationaler Flughäfen waren die unpersönlichsten Einrichtungen, die man sich denken konnte. Jeder war lediglich auf der Durchreise, jeder war in Eile, keiner hatte viel Zeit für den anderen. Perfekt für jeden, dem eine gewisse Anonymität notwendig erschien. Mack musste sich nur eines der Hotels dort heraussuchen.
Er nahm die Ausfahrt London Heathrow, bog allerdings nicht zu den Terminals, sondern nach links ab. Nach nicht einmal einem Kilometer fand er genau das, was er gesucht hatte, ein großes Hotel einer amerikanischen Kette mit Shuttle-Service zum Flughafen.
Ein Portier öffnete ihm die Wagentür. »Sie bleiben hier, Sir?«, fragte er.
Mack nickte. Er betrat die Lobby, buchte ein großes Einzelzimmer für eine Woche und zahlte in bar, 2000 britische Pfund.
Der Empfangschef zählte die Scheine und teilte ihm unnötigerweise mit: »Kein Problem, Sir.« Er reichte Mack die Schlüsselkarte für Zimmer 543 und fragte, ob er Hilfe mit der Tasche benötige.
Mack verneinte und erfuhr, dass der Boy die Autoschlüssel auf sein Zimmer bringen würde, sobald der Türsteher den Wagen geparkt hätte.
Es stellte sich heraus, dass der Junge schneller war als Mack. Er gab ihm fünf Pfund und nahm die Schlüssel entgegen. Im Zimmer packte er Rasierzeug und andere Toilettenartikel aus, verstaute alles im Badezimmer, schlüpfte dann erneut in seine Jeffery-Simpson-Verkleidung und machte sich sofort wieder auf den Weg.
Er folgte der Karte zur Merick Street im nahe gelegenen Southall, einem der westlichen Vororte von London mit indischer und pakistanischer Bevölkerungsmehrheit. Es herrschte ein Treiben wie im Stadtzentrum von Bombay an einem Montagmorgen. Problemlos fand Mack einen Werkzeugladen.
Dort erstand er einen Werkzeugkoffer aus Metall, 55 Zentimeter lang, 30 Zentimeter breit und hoch, mit einem im Deckel versenkbaren Griff. Die zusammenschiebbaren Innenfächer waren für Hammer, Schraubenzieher und Zangen ausgelegt.
»Sehr schöner Werkzeugkasten, Sir«, sagte der indische Verkäufer. »Wirklich sehr schön. Guter Werkzeugkasten für guten Handwerker.«
Mack war sich nicht sicher, ob er in der Jeffery-Simpson-Verkleidung einen guten Handwerker abgab – eher einen arbeitslosen Bankangestellten. Trotzdem lächelte er und zahlte 62 Pfund für den Kasten, was, wie er sich insgeheim dachte, verdammt viel Geld war für dieses Ding. Dann steuerte er den Fiesta in das Nebenstraßenlabyrinth und suchte nach der Adresse auf dem Zettel, den Liam O’Brien ihm gegeben hatte. Schließlich fand er sie, eine breite Wohnstraße, sehr viel gepflegter als die anderen Straßen im Viertel. Die Nummer 16 stellte sich als großes viktorianisches Haus mit eigenem Grundstück heraus.
Der Garten war verwildert, die ehemals breite Einfahrt war durch überhängende Bäume zu einem schmalen Weg geworden. Das Haus selbst aber befand sich in ausgezeichnetem Zustand, die Fenster waren weiß umrandet, die glänzend schwarze Eingangstür war wohl erst vor kurzem neu gestrichen worden.
Mack klingelte und wurde von einem uniformierten indischen Butler hineingeführt. »Wen darf ich melden?«, fragte er.
»Tommy McArdle«, erwiderte Mack.
Wenige Minuten später kam der Butler zurück und verkündete, Mr. Kumar wolle seinen Besucher unten im Arbeitsraum empfangen. Er wurde durch einen kurzen Flur zu einer mit Leder gepolsterten Tür geführt, die der Butler öffnete, um ihn anschließend in eine helle Werkstatt zu weisen.
In der Mitte des Raums stand ein großer Tisch, an drei Wänden befand sich jeweils eine mit dunkelrotem Fries bezogene Arbeitsbank mit einer tief hängenden Lampe. Das alles glich eher der Werkstatt eines Juweliers als der eines Büchsenmachers.
Ein großer, schlanker Inder kam auf Mack zu und streckte ihm die Hand hin. »Prenjit Kumar«, sagte er. »Ich hoffe, ich kann Ihnen zu Diensten sein. Sie wurden mir von jemandem empfohlen, der früher zu meinen besten Kunden gehörte.«
Mack Bedford musterte ihn. Mr. Kumar trug dunkelblaue Hosen und einen dunkelblauen Pullunder über einem weißen Hemd. Er hatte sich einen grünen Schurz übergestreift, in der linken Hand hielt er ein kleines Juwelierglas. Seine Augen waren pechschwarz. Mack schätzte ihn auf Mitte vierzig.
»Ich nehme an, Sie sind gekommen, um eine Feuerwaffe zu erwerben, Mr. McArdle«, sagte der Inder. »Bevor wir uns weiter unterhalten, muss ich Sie fragen, wie Sie zu zahlen gedenken. Schecks oder Kreditkarten kann ich nicht akzeptieren. Ich hinterlasse auf den von mir gefertigten Produkten auch keinerlei Spuren. Die Gewehre und Handfeuerwaffen, die diesen Raum verlassen, tragen keinerlei Identifikationsmerkmale. Das verstößt zwar gegen das Gesetz, aber das Wohlergehen meiner Kunden liegt mir mehr am Herzen als die englische Bürokratie.«
Mack gefiel, was er hörte, es gefiel ihm sogar sehr. Liam O’Brien erwies sich als wirklicher Glückstreffer.
»Mr. Kumar«, sagte Mack. »Es freut mich sehr, das alles von Ihnen zu hören. Natürlich ist mir bewusst, dass Sie in bar bezahlt werden wollen.«
»Dann dürfen Sie mir jetzt sagen, was Sie wollen.«
»Ich benötige ein Scharfschützengewehr, bin mir aber nicht ganz sicher, von welcher Art. Außerdem bin ich in Eile, ich muss mich also auf Ihre Empfehlungen verlassen.«
»Schussentfernung?«
»Etwa 100 Meter, nicht mehr als 150.«
»Repetierer oder Kammermagazin mit fünf Patronen?«
»Repetierer reicht. Ich habe nicht vor, mehr als zweimal zu feuern.«
»Schalldämpfer?«
»Wenn möglich. Und Teleskopvisier.«
»Sechs-mal-vierundzwanzig ZFM?«
»Perfekt.«
»Ich kann Ihnen einen Streukreis von weniger als 40 Zentimetern auf 800 Meter garantieren, 7,62-Millimeter-Kaliber mit einer Mündungsgeschwindigkeit von 860 Metern pro Sekunde.«
»Das ist hervorragend. Um welche Waffe handelt es sich?«
»Ich denke an ein österreichisches SSG 69. Viele haben versucht, ein besseres Scharfschützengewehr zu bauen, meiner Meinung nach ist das niemandem geglückt. Der britische SAS hat es jahrelang benutzt; manche setzen es immer noch ein.«
»Wird es lange dauern?«
»Mr. McArdle, ich nehme an, Sie wollen die Waffe exakt auf Ihre Maße zugeschnitten, vielleicht auch noch in der Länge gekürzt, ohne dass die Präzision verloren geht.«
»Exakt.«
»Zeit spielt für Sie eine Rolle, ich weiß. Aber bei Präzisionsinstrumenten wie diesem dauert es eben.«
Mack Bedford zeigte ihm nun seinen wunderbaren Werkzeugkasten. »Mein größtes Problem ist vielleicht, dass die Waffe hier reinpassen sollte«, sagte er.
Mr. Kumar war keineswegs erstaunt. Er öffnete den Kasten, zog ein Maßband aus der Tasche und bestimmte die Maße.
»Das SSG 69 ist lang genug, aber Sie werden einen kalt geschmiedeten 33-Zentimeter-Lauf nehmen müssen. Bei einem Gewehr wie diesem eine vollkommen ausreichende Länge.«
Mack nickte.
»Ich habe zwei dieser Gewehre hier, ich könnte mich also sofort an die Arbeit machen. Lassen Sie mich mal Maß nehmen.« Er reichte dem ehemaligen SEAL einen schwarzen Stock.
Mack ging in Schussstellung, die rechte Hand lag dort, wo sich der Abzug befinden würde. Der Büchsenmacher maß die Länge des linken Arms, dann die Entfernung zwischen rechter Schulter und dem Abzugsfinger über die Hypotenuse aus Ellbogen und Unterarm.
»Ja, sollte kein allzu großes Problem sein«, sagte er. »Der Schaft besteht aus Cycolac, den werde ich entfernen und durch einen aus Aluminium ersetzen, zwei Streben mit einer breiten, gepolsterten Schulterstütze. Ich nehme an, Sie bevorzugen das linke Auge?«
»Richtig.«
»Gut, Mr. McArdle. Den Rest können Sie jetzt mir überlassen. Sie werden vermutlich Hochgeschwindigkeitsgeschosse vorziehen, die beim Einschlag detonieren – Chrom, schmale Eintrittswunde. Sie zielen auf den Kopf?«
»Zweimal, wenn möglich, falls das Gewehr leise genug ist.«
»Ihr Werkzeugkasten bietet genügend Platz. Ich denke, wir können Ihren Wünschen in allem gerecht werden.«
»Und der Preis?«
»Hängt davon ab, wie schnell Sie es haben wollen – ob ich dafür alles andere liegen lassen muss.«
»Heute ist Montag. Wie wäre es mit Samstag?«
»Samstag! Das ist sehr kurz. Das wird Sie 30 000 Pfund kosten. 25 000, wenn Sie mir eine weitere Woche Zeit geben. In jedem Fall aber die Hälfte des Betrags sofort, den Rest bei Abholung.«
»Samstag. Ich zahle Ihnen 15 000 sofort.«
Mr. Kumar sah ihn beeindruckt, aber keineswegs erstaunt an. »Sie werden es nicht bedauern, Mr. McArdle. Es handelt sich um ein ausgezeichnetes Scharfschützengewehr, mit dem man, wenn es sich in den richtigen Händen befindet, nichts verfehlen kann. Ich werde es so konstruieren, dass Sie es sehr schnell zusammensetzen können.«
»Lässt es sich auch genauso schnell zerlegen?«
»Kein Problem. Innerhalb weniger Sekunden.«
Mack wandte sich ab und kramte in seiner Tasche nach den englischen Geldscheinen, von denen er fünf Packen mit jeweils sechzig 50-Pfund-Noten herauszog. Er reichte sie Mr. Kumar und hatte dann noch zwei Bitten.
»Könnten Sie mir auch einen Dräger-Rebreather besorgen?«
»Natürlich. Direkt aus Deutschland. Wie lang ist denn die Strecke, die Sie unter Wasser zurücklegen wollen?«
»Lang wahrscheinlich. Zwei Stunden.«
»Dann brauchen Sie den Dolphin. Wird auch von der US-Marine eingesetzt.«
»Ach, wirklich?«, sagte Mack. »So gut ist das?«
»Das Beste. Ich lasse es per FedEx kommen. Dauert zwei Tage. Aber es ist nicht billig. Wollen Sie es bereits gefüllt und einsatzbereit?«
»Natürlich.«
»Ich frage nur, weil manche Leute ziemlich nervös werden, wenn sie mit einem kleinen Tank voll komprimiertem Sauerstoff rumlaufen müssen. Sie wollen es doch nicht durch einen Flughafen schleusen?«
»Großer Gott, nein!«
Mr. Kumar lächelte. »Ich werde es Ihnen besorgen, verlange aber 20 Prozent Kommission auf den Einzelhandelspreis.«
»Abgemacht.«
»Zahlen Sie es, wenn Sie am Samstag das Gewehr abholen.«
Die beiden Männer gingen zur Treppe und weiter zum Eingang.
»Sie kommen ursprünglich aus Indien?«, fragte Mack noch.
»O ja, aber ich kann mich kaum noch daran erinnern. Meine Familie stammt aus einer Kleinstadt am Nordufer des Ganges, nicht weit von Bangladesch. Der Ort heißt Manihari.«
»Westbengalen?«
»Woher wissen Sie das?«, erwiderte Mr. Kumar lächelnd.
Mack, der wie viele Marineoffiziere ein enzyklopädisches Gedächtnis für geografische Fakten hatte, antwortete: »Na ja, ich kenne die Stadt nicht, aber ich weiß, dass Westbengalen die Grenze zu Bangladesch bildet, und ich weiß, dass der Ganges in den Golf von Bengalen fließt.«
»Ha, ha, ha. Sie sind wie Sahib Sherlock aus der Baker Street. Ein sehr guter Detektiv.«
Mack war sich nicht sicher, was er davon halten sollte, aber er fiel in das Lachen des großen Bengalen mit ein.
»Und wie sind Sie hierhergekommen?«, fragte er.
»Ach, mein Vater ist emigriert, als ich vier war. Er war Mechaniker in der Armee und hat dann hier in Southall eine Tankstelle aufgemacht. Die hat er noch immer, nur mit meinem Gewerbe will er sich nicht recht anfreunden. Aber er fährt einen kleinen Ford und ich einen großen BMW. Ein großer Unterschied. Ha, ha, ha!«
Mack gab dem indischen Büchsenmacher die Hand. »Wer größere Risiken auf sich nimmt, verdient gewöhnlich auch mehr Geld. Aber seien Sie vorsichtig. Um wie viel Uhr am Samstag?«
»Kommen Sie um Mittag. Ha, ha.«
Raul Declerc saß in seinem Marseiller Hauptquartier und war noch immer sauer, dass er den großen Fisch, den er bereits an der Leine hatte, nicht hatte an Land ziehen können. Dieser verdammte Morrison.
Es war das zweite Mal in seinem Leben, dass ihm seine Gier einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Beim ersten Mal hatte er fliehen müssen, als die Wachhunde des MI-6 sich wunderten, wohin ihre zwei Millionen Pfund verschwunden waren. Der frühere Colonel Reggie Fortescue hatte daher überstürzt von London nach Dover abreisen und eine Fähre über den Ärmelkanal nehmen müssen, um außer Landes zu fliehen. Er hatte einige wenige 100 000 Pfund mitnehmen können, war erst 40 Jahre alt und musste jetzt mit der Schmach und der Schande leben, die er über sich, seine Familie und sein Regiment gebracht hatte.
Er würde nie mehr in seine Heimat nach Schottland zurückkehren können. In den drei Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte er Ausschau gehalten nach einem zweiten großen Coup, um eine Million zu machen. Der mysteriöse Morrison schien genau die Gelegenheit dazu gewesen zu sein. Aber jetzt war er verschwunden, und Colonel Reggie bedauerte den Tag, an dem er die weitere Million gefordert hatte.
Er wusste es, und Morrison wusste es sicherlich auch. Wieder war ihm seine Gier in die Quere gekommen. Und jetzt, nach der vierten Tasse türkischen Kaffee an diesem Morgen, zermarterte er sich das Gehirn, wie er aus dieser misslichen Sache noch das Beste machen konnte.
Ihm fiel nur eines ein. Er hatte Informationen, die in gewissem Sinn unschätzbar waren. Jedenfalls für eine Person in Frankreich. Er wies die Sekretärin an, die Nummer für das Wahlkampfbüro der Gaullisten in Rennes ausfindig zu machen.
Es dauerte fünf Minuten, dann war die Verbindung hergestellt, und er hörte eine automatische Ansage: »Stimmen Sie für Henri Foche, pour la Bretagne, pour la France.« Fast gleichzeitig schaltete sich eine zweite, weibliche Stimme dazwischen und bestätigte, dass er tatsächlich mit Henri Foches Wahlkampfbüro verbunden war. Ob sie ihm behilflich sein könne?
Raul bat, zu Henri Foche durchgestellt zu werden. Man sagte ihm, dass Monsieur Foche erst in etwa einer Stunde im Büro sein würde – um was es denn ginge?
Da er hier nicht weiterkam, sagte er leise: »Ich habe für ihn einige sehr wertvolle Informationen. Es geht um eine äußerst gefährliche Angelegenheit, es ist so wichtig, dass ich mit ihm persönlich reden muss. Ich werde mich in einer Stunde wieder melden.« Bevor Foches Assistentin ihn nach Namen und Telefonnummer fragen konnte, legte er auf.
Nach einer Stunde rief er erneut an, erneut sprach er mit derselben Frau, die ihn bat, dranzubleiben. Zwei Minuten später meldete sich eine Stimme. »Hier Henri Foche.«
Raul, der es nicht lassen konnte, sich seinen alten Rang aus besseren Zeiten zu verleihen, erwiderte: »Hier ist Colonel Raul Declerc. Ich bin der Leiter eines französischen Sicherheitsunternehmens in Marseille. Ich rufe an, weil wir Grund zu der Annahme haben, dass in sehr naher Zukunft ein Anschlag auf Sie stattfinden könnte.«
Henri Foche schwieg eine Weile, dann sagte er mit dem praktischen Realismus eines Mannes, dem die dunklen Seiten des Lebens nicht gänzlich unbekannt waren: »Rufen Sie an, weil Sie mir diese Informationen verkaufen wollen, oder weil Sie einfach nur ein guter Gaullist sind, dem wirklich etwas an meiner Zukunft liegt?«
»Ich will verkaufen.«
»Verstehe. Und das tun Sie, weil Sie meinen, Sie könnten Maßnahmen ergreifen, um das zu verhindern? Oder wollen Sie nur schnelles Geld machen?«
»Monsieur Foche, uns wurden zwei Millionen US-Dollar geboten, um den Anschlag auszuführen. Natürlich haben wir abgelehnt. Ich rufe Sie an, teils weil es mir der Anstand gebietet, teils aber auch, weil uns diese Informationen nicht billig gekommen sind. Gelegentlich erreichen uns solche Informationen eher zufällig, in diesem Fall aber waren sie ziemlich kostspielig. Und wir lassen uns unsere Dienste immer bezahlen.«
»Ich verstehe. Und warum sollte ich das glauben, was Sie mir erzählen? Woher soll ich wissen, dass Sie sich nicht einfach irgendwas ausdenken? Dass das nicht alles nur erlogen ist, um mich um mein Geld zu bringen?«
»Wie Sie wollen, Monsieur Foche. Tut mir leid, dass ich Sie gestört haben. Einen schönen Tag noch.«
Raul legte auf. Er hatte bewusst auf jegliche Vorsichtsmaßnahmen verzichtet, hatte weder seine Identität noch die Nummer des Telefons unterdrückt, das an einem gewöhnlichen Festnetzanschluss in Marseille hing.
Vier Minuten später klingelte das Telefon. Er nahm ab, bevor der Anrufbeantworter sich dazwischenschalten konnte. »Ja, Colonel Declerc.«
»Colonel, hier ist Henri Foche. Ich muss alles erfahren, was Sie wissen. Nennen Sie mir Ihren Preis.«
»Zwei Bedingungen, damit ich Ihnen sämtliche Informationen überlasse. Erstens, die Summe von 100 000 Euro. Zweitens, falls sich ein solcher Anschlag abzeichnet, wovon ich fest ausgehe, stellen Sie mich oder meine Leute ein, um Sie zu schützen, bis die Bedrohung aus der Welt geschafft ist.«
»Ich habe mit beiden Bedingungen keinerlei Problem«, antwortete Foche. »Ich schicke Ihnen entweder einen Scheck oder lasse das Geld überweisen, je nachdem, was schneller geht. Ich nehme an, Sie werden sich von Ihren Informationen erst trennen, wenn das Geld auf Ihrem Konto ist?«
»Keineswegs, Monsieur Foche. Vorausgesetzt, ich irre mich nicht, haben wir eine Abmachung. Vielleicht sogar eine langfristige Geschäftsbeziehung. Und ich denke, die Sache ist von einiger Dringlichkeit. Ich werde Ihnen alles mitteilen, was ich weiß, und zwar sofort. Denn ich halte Sie für jemanden, der zu seinem Wort steht. Ich nehme Ihren Scheck sehr gern an, aber es ist in unser beider Interesse, schnell zu handeln.«
»Ich weiß es zu würdigen. Bitte fahren Sie fort.«
»Den ersten Anruf erhielt ich vor zwei Wochen. Ein Typ, der sich Morrison nannte. Er sagte, er rufe aus London an, sprach aber mit amerikanischem Akzent. Zunächst bot er eine Million Dollar. Ich versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, um den Anruf nachzuverfolgen. Am Ende stimmte er zwei Millionen zu. Er wollte, dass wir umgehend mit den Recherchen über Sie beginnen. Er hinterlegte 50 000 US-Dollar bei einem Anwalt in Genf, als Anzahlung für unsere Bemühungen. Dort konnten wir sie abholen.«
»Das haben Sie getan?«
»Ähm … ja. Wir haben das Geld abgeholt. Es war für unsere Recherchen gedacht. Also erzählte ich ihm einige völlig offensichtliche Fakten – dass Sie in Rennes leben, sich für die Schiffbauindustrie einsetzen –, nichts, was er nicht auch den Zeitungen hätte entnehmen können. Monsieur Foche, damit Sie sich keinen falschen Vorstellungen hingeben: Dieser Typ meint es ernst.«
»Sie sind sich sicher, dass er nicht aus Frankreich angerufen hat?«
»Ja. Wir haben immer einen Zeitpunkt ausgemacht, zu dem er anrufen sollte. Einmal sagte er was von einem Zeitunterschied. Er saß im Ausland, ganz bestimmt. Und er erzählte, er würde sich in London aufhalten. Wenn wir uns also um Ihren Schutz kümmern sollen, würden wir davon ausgehen, dass die Bedrohung aus Großbritannien kommt.«
»Aber er war kein Brite? Und Sie konnten den Anruf nicht zurückverfolgen?«
»Nein. Ich halte ihn für einen Amerikaner. Aber ich denke, er hat aus London angerufen.«
»Irgendeine Idee, wie er auf Sie gestoßen sein könnte?«
»Ja. Er erreichte uns über unser Büro in Zentralafrika, in Kinshasa. Wahrscheinlich hat er sich seine militärischen Kontakte zunutze gemacht. Das einzig Positive ist, er scheint nicht das Geringste über Frankreich zu wissen. Er kennt sich hier nicht aus. Das Einzige, was Sie im Moment tun können, ist, Ihre Sicherheitsvorkehrungen zu erhöhen. Und uns über weitere Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Ich muss Sie warnen, dieser Morrison wollte, dass wir sofort in Aktion treten – Sie sollten also größte Vorsicht walten lassen.«
»Aber was kann ich denn tun?«
»Benutzen Sie unterschiedliche Strecken zu und von Ihrem Büro. Gehen Sie nie allein zu Ihrem Wagen. Lassen Sie nachts Ihr Wahlkampfbüro von einem bewaffneten Posten bewachen, für den Fall, dass dort ein ferngesteuerter Sprengsatz deponiert werden soll. Rufen Sie für Ihre persönlichen Leibwächter höchste Alarmstufe aus. Ich gehe davon aus, dass Sie bei öffentlichen Auftritten umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen ergreifen.«
»Ja. Trotzdem hätte ich gern, dass Sie sich auf Abruf bereithalten, falls eine definitive Bedrohung vorliegt.«
»Immer zu Ihren Diensten«, erwiderte Raul Declerc. »Für die Bretagne und für Frankreich.«
Die Ironie kam bei Monsieur Henri Foche nicht recht an.
Mack Bedford waren mehr oder weniger die Hände gebunden. Er konnte nichts anderes tun, als allein in seinem Hotelzimmer zu warten; er plante, ging seine Strategie durch, las Zeitungen, studierte Karten, schlief, machte alle vier Stunden 100 Liegestütze. Er trug ständig seine Jeffery-Simpson-Verkleidung – der Jeffery Simpson, der noch immer in Irland war.
Er bestellte den Zimmerservice nur, um sich die Mahlzeiten bringen zu lassen, und hielt sich stets im Badezimmer auf, wenn der Kellner kam und das Essen servierte. Er besuchte keinerlei öffentliche Einrichtungen des Hotels, führte keine Telefonate, bat den Portier nie, den Ford Fiesta aus der Parkgarage zu holen.
Die Tage vergingen in quälender Eintönigkeit. Als endlich der Samstag anbrach, war es draußen düster und bewölkt. Er bestellte sich ein üppiges Frühstück – Rühreier, Speck, einige Würstchen, Pilze und Toast –, denn er wusste nicht, wann er wieder etwas zu essen bekommen würde.
Er packte seine Tasche, um halb zwölf ging er nach unten, um die Hotelrechnung zu begleichen. Er zahlte allein 60 Pfund für den Zimmerservice und bat den Portier, den Wagen vorfahren zu lassen.
Er warf einen schnellen Blick auf die Karte und prägte sich den Weg nach Southall ein. Es ging knapp einen Kilometer nach Süden und dann auf die alte A4, eine verkehrsreiche zweispurige Straße, die schließlich zum Motorway M4 wurde. Zehn Minuten später hielt er in Prenjit Kumars Einfahrt an. Es regnete unablässig.
Derselbe Inder wie beim letzten Mal führte ihn in den Arbeitsraum im Keller, wo ihn der Büchsenmacher bereits erwartete. Dort, auf dem dunkelroten Fries der ersten Werkbank, lag schimmernd das SSG 69. Mr. Kumar inspizierte mit einer Uhrmacherlupe, die er sich ins Auge geklemmt hatte, die Stelle, an der das Teleskopvisier angebracht werden würde, und legte mit einer kleinen Feile den letzten Feinschliff an. Als er seinen Kunden erblickte, erhob er sich und begrüßte ihn untertänigst: »Willkommen in meiner bescheidenen Werkstatt. Ich habe Ihnen ein vorzügliches Scharfschützengewehr gebaut, höchste Präzisionsarbeit, und von einer Zielgenauigkeit, wie Sie sie kaum finden werden.«
»Und ich habe Ihnen weitere 15 000 Pfund mitgebracht, dazu das Geld für das Atemgerät. Ist es angekommen?«
»Natürlich, Mr. McArdle. In meinem Gewerbe geben wir keine leeren Versprechungen. Ich habe es seit Mittwoch hier und für Sie getestet. Eines der Ventile war sehr steif, ich habe es repariert. Daneben habe ich ganz unten in Ihrem Werkzeugkasten ein Fach für das Dräger-Gerät eingepasst. Kein Problem.«
»Kann ich das Gewehr testen?«
»Natürlich. Das machen wir als Erstes. Und wenn Sie damit zufrieden sind, werden wir es einige Male zerlegen, damit Sie sich damit vertraut machen können.«
Er überreichte Mack das Gewehr. Es war leicht, wunderbar ausbalanciert. Der Schaft sah mit seinen beiden Streben und dem daran angebrachten Schulterpolster seltsam aus, wie ein Skelett. Der ehemalige SEAL ging in Schussstellung, und das Gewehr fühlte sich an wie eine Verlängerung seines rechten Arms, es lag gut, sicher, maßgefertigt in der Hand.
Sie gingen in einen anderen Raum, in dem sich ein gut 40 Meter langer, hell beleuchteter Tunnel vor ihnen erstreckte. In der Ferne war eine gewöhnliche, etwa 45 Zentimeter große Zielscheibe angebracht, vorn stand ein Holzgestell, auf das man sich zum Feuern lehnen konnte.
Mr. Kumar wies Mack darauf hin, dass sich eine Patrone im Verschluss befand plus fünf weitere im Magazin. Aber es war offensichtlich, dass er dieses Gewehr einem Experten verkaufte. Mack stützte sich auf, sah durchs Visier, bis das Fadenkreuz mit dem Zentrum der Zielscheibe übereinstimmte. Sein Körper blieb vollkommen reglos, als er den Abzug durchdrückte. Das mit einem Schalldämpfer versehene SSG 69 gab nur einen leisen, dumpfen Laut von sich, als das Geschoss mit 860 Metern pro Sekunde den Lauf verließ.
Mack zog das Schloss zurück, lud die Patrone und feuerte erneut. Dann noch einmal. Dann richtete er sich auf und sagte: »Sehen wir uns doch mal die Streuung an.«
Mr. Kumar zog über eine Seilwinde die Zielscheibe heran und reichte sie Mack. Es war lediglich ein Loch mitten im Zentrum zu sehen.
»Sehr schön, Mr. McArdle, wirklich sehr schön«, sagte der Büchsenmacher mit einem Lächeln. »Sie haben mit so einem Gewehr vielleicht schon mal geschossen?«
»Vielleicht«, sagte Mack. »Aber ich hatte noch nie ein besseres in der Hand als dieses.«
»Wollen Sie noch mal drei Schuss abgeben?«
»Ja. Aber es wird schwer werden, die ersten drei zu überbieten.«
Diesmal feuerte er ein wenig schneller, und als die neue Zielscheibe herangezogen wurde, war auf der rechten Seite des Lochs in der Mitte eine kleine Ausbuchtung zu erkennen.
»Ich möchte nicht sagen, dass Sie nachgelassen hätten«, grinste Mr. Kumar. »Sie sind ein wunderbarer Schütze.«
»Ich habe den zweiten Schuss leicht variiert, nur ein ganz klein wenig nach rechts gehalten, um die Fehlertoleranz erkennbar zu machen. Mr. Kumar, Sie haben hier vorzügliche Arbeit geleistet. Ganz hervorragend.«
Die nächsten Stunden verbrachten sie damit, das Gewehr zu zerlegen und zusammenzubauen, den breiten Chrombolzen des Aluminiumschafts anzuschrauben, das Teleskopvisier russischer Bauart in die Doppelnut zu schieben, die Prenjit angebracht hatte. Der auf 33 Zentimeter verkürzte Lauf besaß eine Vorrichtung für den Schalldämpfer, und zerlegt fand das Gewehr perfekt Platz im Werkzeugkasten und seinen mit Samt ausgeschlagenen Fächern, in denen Klammern die Einzelteile fixierten. Wertvolle Diamanten waren schon weniger hingebungsvoll transportiert worden. Mack betrachtete die Einzelteile der Waffe, die in ihren schwarzen Samtfächern, unter denen auch noch das Tauchgerät lag, hell schimmerten. In einem eigenen Fach waren der Reihe nach die sechs Chrom-Geschosse untergebracht, von denen jedes einzelne Henri Foche ein melonengroßes Loch in den Kopf reißen konnte.
Mack Bedford schüttelte Mr. Kumar die Hand. Dann reichte er ihm einen Umschlag mit 15 000 Pfund sowie 400 für das Dräger. Sie verabschiedeten sich, und Mack trug den Werkzeugkasten zum Wagen.
Bevor er losfuhr, erinnerte ihn der Bengali noch: »Sie sollten noch etwa ein Dutzend Probeschüsse in der von Ihnen beabsichtigten Entfernung abgeben. Es kann zu minimalen Variationen kommen, auch muss das neue Visier justiert werden. Aber ich denke, das wissen Sie bereits. Ich habe Ihnen die Übungsgeschosse daher gleich in den Werkzeugkasten gelegt.«
»Danke, Mr. Kumar«, antwortete Mack. »Und passen Sie auf sich auf.«
Er ließ den Fiesta an. Vor ihm lag eine 300 Kilometer lange Fahrt in den Südwesten, in eine Gegend, die in Englands optimistischen Kreisen gern als die Devon-Riviera bezeichnet wird. Denn an diesem aufsehenerregenden Küstenstrich soll angeblich häufiger die Sonne scheinen und weniger Regen fallen als im Rest des Landes. Es mochte durchaus Zeiten geben, zu denen diese »Touristenweisheit« zutraf, aber Mack Bedford zweifelte, ob sie auch für den heutigen Tag galt.
Immer noch regnete es in Strömen, und die Wassergischt hing über der Straße, als er auf den M4 auffuhr. Obwohl Samstag, schienen so viele Laster wie immer unterwegs zu sein. Sie zogen ihre sprühenden Wasserfontänen mit sich, während sie durch den grauen Julinachmittag donnerten.
Mack kannte die Strecke noch von der Fahrt von Fishguard nach Southall. Er würde lediglich eine Stunde auf dem Motorway bleiben und dann noch vor der großen Brücke über den Severn nach Süden abbiegen und auf dem M5 Somerset und Devon ansteuern.
Ihm ging eine Menge durch den Kopf. 700 Kilometer entfernt unterzog sich Tommy der Operation in der Klinik am Nordufer des Genfer Sees. Er hatte Anne gesagt, er würde an diesem Tag kaum zu erreichen sein, weil er einen Termin bei der Pensionsstelle der Navy in Norfolk habe. Anne hatte ihm nicht geglaubt, aber als Frau eines SEAL-Commander wusste sie, dass es besser war, ihn nicht zu fragen, was er wirklich trieb.
Mack hatte Bilder von der Klinik gesehen, die zwischen den Hügeln am Seeufer lag. Die Szenerie war traumhaft, wichtiger aber war es, dass sie an dieser Klinik überzeugt waren, eine Heilmethode für ALD gefunden zu haben. Der Chirurg Carl Spitzbergen galt als renommierter Arzt, und Mack konnte nur hoffen, dass alles gut ging. Sein einziger Trost war, dass sich Tommy in ausgezeichneten Händen befand.
Er selbst gab auf dem regennassen M4 ebenfalls sein Bestes, um seinen Teil der Vereinbarung mit Harry Remson zu erfüllen. Was, wie er zugeben musste, auch auf den Ford Fiesta mit der McArdle-Garantie zutraf, der sich mit auf Hochtouren laufenden Scheibenwischern über den Motorway kämpfte, ein zäher kleiner Wagen, nur etwa halb so groß wie der Buick, aber verdammt ausdauernd, genau wie Mack gehofft hatte.
Er ließ den Flughafenverkehr hinter sich und steuerte nach Westen in Richtung der ansteigenden Hügelketten der Berkshire Downs. Der Regen wurde immer schlimmer, nahezu waagrecht blies er über die Fahrbahn und ließ erst wieder nach, als das Gelände abfiel und er sich Wiltshire näherte.
Von hier aus waren es 50 Kilometer über offenes, flaches Farmland bis zur Kreuzung mit dem M5 nördlich von Bristol. Mack bog nach Südwesten ab und folgte nun der Küste von North Somerset, wobei der Mündungstrichter des Severn immer zu seiner Rechten lag. Dann führte der M5 ins Landesinnere, nördlich der Black Down Hills vorbei ins Herz von Devonshire, bevor er südlich von Exeter endete, der wichtigsten Stadt des südwestlichen Englands, die von den Römern mit einer Stadtmauer befestigt und 1000 Jahre später von den Normannen erobert wurde.
Es hatte aufgehört zu regnen, als Mack das Ende des Motorway erreichte und auf der A380, einer zweispurigen Schnellstraße, weiterfuhr. Sie brachte ihn zu seinem Ziel, dem alten Fischerhafen Brixham, im Schatten des Berry Head gelegen, der die in den Ärmelkanal hinausragende Südspitze der Torbay markierte.
Mack erreichte kurz vor fünf Uhr den alten Teil des Ortes und kurvte eine halbe Stunde herum, bis er sich für ein kleines, unauffälliges Hotel mit Blick aufs Meer entschied. Mack hatte Glück, dass in diesem Teil des Landes traditionell am Samstag die Gäste wechselten.
Das Hotel war ausgebucht, allerdings hatte es eine Absage gegeben. Ja, man hätte für ihn ein Einzelzimmer mit Bad, nur für eine Nacht, danach sei man wieder voll. Mack nahm das Angebot an und ging hinaus, um den Wagen im schmalen Hof hinter dem Hotel abzustellen.
Er griff sich seine Tasche und den Werkzeugkasten, schloss den Wagen ab und checkte ein. Er trug noch immer seine Jeffery-Simpson-Verkleidung, unterzeichnete aber mit dem Namen Patrick O’Grady. Das Mädchen fragte nicht nach seinem Pass.
Er sagte ihr, er wolle bar bezahlen, im Voraus. Die Zimmer mit Blick aufs Meer würden 95 Pfund die Nacht kosten, sagte das Mädchen, plus Steuer, darin enthalten sei das Frühstück, das ab sieben Uhr serviert werde. Mack gab ihr zwei 50-Pfund-Noten und teilte ihr mit, dass er möglicherweise bereits vor dem Frühstück fort wäre.
Das Mädchen reichte ihm den Schlüssel für Zimmer zwölf im ersten Stock, einfach die Treppe hinauf. Sie hoffe, dass er sich wohl fühle, und falls er noch etwas brauche, solle er ihr Bescheid geben. Abendessen würde nicht serviert, aber es gebe ausgezeichnete Restaurants in der Stadt, die allesamt leicht zu Fuß zu erreichen seien.
Mack dankte ihr und trug seinen Werkzeugkasten und die Tasche nach oben. Müde von der langen Fahrt, fiel er für eine Stunde aufs Bett. Als er aufwachte, rief er in der Rezeption an und bestellte einen Kaffee, der 20 Minuten später gebracht wurde. Sein Zimmer hatte einen kleinen Balkon, der seitlich zum Hafen hinausging. Er lehnte am Geländer und nippte an seinem Kaffee.
Am Nordende des Hafens wurde gebaut. Über den Piers erhob sich ein etwa 30 Meter hoher Baukran. Mack starrte zu ihm hinauf, ging dann ins Zimmer zurück und baute sein Gewehr zusammen, montierte alle Komponenten bis auf den Aluminiumschaft, der am leichtesten anzuschrauben war.
Er lud das Gewehr mit den sechs Übungspatronen, packte Gewehr und Schaft in seine Ledertasche und entnahm ihr ein Bündel britischer Pfund. Als Jeffery Simpson verkleidet ging er nach unten.
Die Rezeption war verwaist. Mack verließ das Hotel, ging nach hinten zum Parkplatz und warf die Tasche in den Kofferraum. Dann nahm er im Wagen Platz und verwandelte sich sorgfältig in Gunther Marc Roche, einen Schweizer mit Wohnsitz Rue de Bâle 18, Genf.
Er löste die blonde Perücke, das dünne Bärtchen, nahm die randlose Brille ab und setzte die schwarz gelockte Perücke auf, befestigte den buschigen schwarzen Vollbart, kämmte alles so gut es ging, stieg aus und schloss den Wagen ab.
Als er sich selbst im warmen sommerlichen Abendlicht im Rückspiegel betrachtete, war er überrascht über die Verwandlung. Niemand hätte ihn wiedererkannt. Er schlenderte zum Hafen hinunter, wofür er 20 Minuten brauchte, und inspizierte die an den Piers festgemachten Fischerboote. Er zählte 14 Schleppnetzboote. Es waren die Fischer aus Brixham gewesen, die im 18. Jahrhundert den Trawler und die Schleppnetzfischerei erfunden hatten. Soweit Mack es beurteilen konnte, hatte sich seitdem nicht viel verändert.
Mehr als eine Stunde beobachtete er die Boote und ihre Kapitäne. Es war noch nicht viel los, aber Mack schien, dass mindestens drei von ihnen heute Nacht auslaufen würden. Das mutmaßte er aufgrund der Boote, die an der Tankstelle Diesel aufnahmen.
Mack ging an ihnen vorbei und blieb bei einem stehen, um seinen Schweizer Akzent zu testen. »Hübsche Nacht zum Fischen«, sagte er zu einem der Skipper. »Ruhige See und gute Wettervorhersage.« In Wahrheit klang sein Akzent wahrscheinlich eher wie der von Trinidad, nicht von Genf. Trotzdem drehte sich der Angesprochene um und grinste ihn an.
»Das hoffe ich doch«, erwiderte er. »Hab die Woche über nicht viel Glück gehabt. Ich brauch schon eine Tonne, nur um den verdammten Diesel bezahlen zu können.«
Mack lächelte. »Wann laufen Sie aus?«
»Wir drei, wir fahren im Sommer immer so gegen zehn. Es dauert etwa eine Stunde bis zu den besten Plätzen. Der alte Charlie meint, es müsste einen Haufen Schellfische geben. Hoffen wir mal.«
»Na, dann alles Gute«, sagte Mack und ging langsam den Pier zurück. Er trieb sich eine weitere halbe Stunde am Hafen herum, beobachtete die Boote und das Büro des Hafenmeisters; auch die behäbige Stille, die in diesem berühmten alten Hafen herrschte, entging ihm nicht.
Gegen halb neun stattete er der All-Saints-Kirche in Lower Brixham einen Besuch ab, wo Henry Francis Lyte Ende des 18. Jahrhunderts als erster Vikar gewirkt hatte. Eine Informationstafel teilte den Touristen mit, dass Reverend Lyte das bittersüße Kirchenlied »Abide with me« geschrieben hatte.
Da Mack das Lied bislang nur auf Beerdigungen gehört hatte, war er sich nicht ganz sicher, ob er es als gutes Omen werten sollte. Er eilte den langen Hügel hinauf und ging in ein Pub, das Steak, Huhn und Fisch servierte. Es war einiges los. Er bestellte sich ein großen Glas Mineralwasser und Filet vom Angus-Steak, medium-rare. Er saß an einem Tisch mitten in dem mit Deckenbalken versehenen Raum, wo ihn so viele Gäste wie nur möglich sehen konnten.
Das Steak war köstlich, und Tommy hätte definitiv Gefallen an den Pommes gefunden. Er bestellte sich ein weiteres Mineralwasser und zum Abschluss französischen Weichkäse und Cracker. Er war versucht, ein großes Glas Port zum Käse zu ordern, wie Harry Remson es immer tat. Aber er erinnerte sich an seinen Vorsatz – keinen Tropfen Alkohol, bis Henri Foche tot ist.
Er blieb sitzen, bis es draußen dunkel geworden war, dann zahlte er und gab der Bedienung ein großzügiges Trinkgeld. »Vielen Dank, Sir, vielen Dank«, sagte sie. »Kommen Sie mal wieder vorbei. Gute Nacht, Mr. … ähm …«
»Roche«, sagte Mack. »Gunther Roche. Ich komme aus Genf, aber ich werde Sie wieder besuchen.«
Die Bedienung, eine dunkelhaarige junge Frau, offensichtlich eine Studentin, erwiderte: »Aber noch vor dem September – dann muss ich nämlich wieder an die Uni. Ich heiße Diana.«
Es war nur ein kurzer Wortwechsel, aber beide Seiten hatten ein paar wichtige Punkte deutlich gemacht. Die junge Frau hatte sich als Studentin zu erkennen gegeben, die nur im Sommer hier arbeitete. Und Mack Bedford hatte dem großen, vollbärtigen Schweizer Besucher eine eindeutige Identität verliehen.
Er schob sich durch die Menge nach draußen und schlenderte die letzten 200 Meter zu seinem Hotel hinauf. Aber er trat nicht ein, sondern ging nach hinten auf den Parkplatz, setzte sich in seinen Fiesta und ließ den Motor an.
Er fuhr zur Straße hinaus, bog nach rechts und kämpfte sich auf einer einsamen Straße über die Kleinstadt hinauf zum höchsten Punkt der Klippe. Von dort ging es gut eineinhalb Kilometer weiter, bis er sich genau über dem Hafen befand. Weit draußen auf dem Meer erkannte er die Lichter eines Schiffes, das den Ärmelkanal passierte.
Aber diese Lichter interessierten ihn nicht. Die Lichter, derentwegen er gekommen war, befanden sich oben auf dem Kran, der die Piers überragte. Er hatte vermutet, dass er zwei Warnlichter haben musste, tatsächlich waren es sogar drei: zwei direkt über der Kabine, ein weiteres am äußeren Ende des Arms. Von Macks Standort aus befand sich die Kranspitze mehr oder weniger auf gleicher Augenhöhe, Luftlinie etwa 600 Meter.
Auf der Straße war sonst niemand zu sehen. Er fuhr ab und holperte etwa 15 Meter weiter über das leicht abschüssige, grasbewachsene Gelände. Dann schaltete er die Scheinwerfer aus und öffnete den Kofferraum, zog den Reißverschluss der Tasche auf und nahm das Gewehr heraus. Sorgfältig schraubte er den Schaft an und überprüfte die Waffe, lehnte sich gegen den Wagen, stützte sich auf dem Dach auf und zielte auf das rote Licht am Ende des Kranarms.
Als das Licht im Fadenkreuz schwebte, drückte er ab. Augenblicklich hatte der Kran nur noch zwei statt drei Lichter. Mack zielte und feuerte erneut. Und das kleine rot glühende Licht über der Kabine erlosch und ließ Scherben auf das Kabinendach regnen. Mack nahm das letzte Ziel ins Visier, das rote Licht am Gestänge, etwa drei Meter oberhalb der Kabine, dem höchsten Punkt des Krans. Wieder feuerte er und zerstörte die Birne. Es war ein großartiges Zeugnis seiner Treffsicherheit, olympiawürdig, aber nichts Besonderes für einen Scharfschützen der US Navy SEALs. Schon gar nicht für einen, der bei der Scharfschützenausbildung im rauen Wüstengelände des Camp Pendleton, der 50 000 Hektar großen Kaserne des US Marine Corps südlich von Los Angeles, als Bester abgeschnitten hatte.
Am meisten freute sich Mack aber über die Lautlosigkeit. Der von Prenjit Kumar so exakt an den Lauf angepasste Schalldämpfer war der beste, den Mack jemals benutzt hatte.
»Ich sag dir eins«, murmelte er, als er die Tasche wieder in den Kofferraum stellte, »der Halunke weiß, wie man ein Gewehr baut.«