KAPITEL ZEHN

Mack versuchte eine resignierte Miene aufzusetzen, als hätte er sich mit seinem Schicksal abgefunden. Er sah zu Boden, nickte, als wollte er genau das tun, was ihm gesagt wurde, beugte sich langsam nach vorn und stellte die Tasche und den Werkzeugkoffer ab, als wären sie wertvolle Gegenstände. Als er sich wieder aufrichtete, nahm er die Hände hoch und ließ dabei Raymond nicht aus den Augen.

Und dann schlug er mit irrwitziger Geschwindigkeit zu, umklammerte mit beiden Händen Raymonds rechten Arm, schwang ihn zur Seite und knallte ihn gegen die Kante der Strandmauer. Der Ellbogen splitterte wie ein morscher Ast.

Raymond schrie auf, die Waffe flog über die Mauer auf den Strand, und Mack verpasste ihm einen harten Tritt in den Unterleib, der ihn flach auf den Rücken legte. Er krümmte sich vor Schmerzen.

Marcel hatte keine Zeit mehr, die Waffe zu ziehen. Er sprang Mack von hinten an und rammte dem ehemaligen SEAL den Unterarm gegen den Nacken. Aber Marcel fehlte es dazu schlicht an Kraft. Mack verdrehte nur den Oberkörper und schlug mit dem angewinkelten Ellbogen zu.

Es war mehr als ein Schlag, es war unbewaffneter Nahkampf, ein Leben lang trainiert. Macks Hand bewegte sich mit rasender Geschwindigkeit, als er Marcel zwei Finger in die Augen rammte, so hart, dass er sein Leben lang blind gewesen wäre. Aber das spielte keine Rolle mehr. Marcel versuchte noch, sich von diesem Monstrum zu lösen, hatte aber nicht die geringste Chance. Mack packte ihn an den Ohren, verdrehte ihm blitzschnell den Kopf, erst nach links, dann nach rechts, und brach ihm dabei den Hals.

Marcel war tot, bevor er am Boden aufschlug. Dann zog Mack Raymond an den Ohren hoch und machte mit ihm dasselbe. Er hatte genau 9,7 Sekunden gebraucht, um die beiden zu töten. Darauf warf er sie beide über die Mauer.

Mack hörte noch Marcels Handy klingeln, als der Leichnam dumpf im Sand aufschlug. Diesmal würde niemand mehr auf Pierre Savarys Anruf antworten. Natürlich wusste der Polizist zu diesem Zeitpunkt nicht, dass in Foches Sicherheitsstab soeben zwei Stellen frei geworden waren. Aber das war auch schon egal, schließlich kochte er vor Wut über diesen erbärmlichen Marcel, der es noch nicht einmal schaffte, an sein gottverdammtes Handy zu gehen.

Mack nahm seine Tasche und den Werkzeugkoffer auf, murmelte noch was von »verdammten Amateuren« und warf einen letzten Blick auf die beiden Killer, die man geschickt hatte, um ihn zu töten. Das Bild seines geliebten Tommy stand ihm vor Augen, und leise fügte er hinzu: »Das hab ich wohl für dich gemacht, Junge.«

Er wusste sehr gut, dass er sich über Anne und Tommy nicht den Kopf zerbrechen durfte. Er konnte nichts für sie tun. Die beiden stumpfsinnigen Typen hier waren ihm scheißegal, für seine Frau und ihren gemeinsamen Sohn aber hätte er sich auf der Stelle hinsetzen und hilflose Tränen vergießen können. Tief in seinem Herzen wusste er, dass Carl Spitzbergen Tommy retten würde, sie würden wieder zusammen angeln gehen und Baseball spielen und sich die Red Sox ansehen. Sein Sohn würde nicht sterben. Mack rang um Fassung, damit die Tränen versiegten, die ihm ungehemmt in den Vollbart strömten, während er zum Dorf hinaufschlenderte.

Quer über der sich verengenden Straße waren zwischen den Geschäften Banner gespannt, auf denen zu lesen war: Henri Foche – Pour la Bretagne, pour la France. Ein, zwei frühe Kunden kauften in einer Boulangerie bereits warme Baguettes, aber keiner achtete sonderlich auf den großen Mann mit dem Vollbart, der mit einer Tasche und einem Werkzeugkoffer die Hauptstraße hochkam.

Mack hatte vor, so lange durch die Stadt zu gehen, bis er auf eine Tankstelle oder einen Gebrauchtwagenhändler traf – was sich als ein ziemlich langer Fußmarsch von gut eineinhalb Kilometern herausstellte. Aber dann fand er einen: Laporte-Auto. Auch hier war über dem Vorplatz ein Foche-Banner gespannt. Neben der Tankstelle war ein halbes Dutzend Gebrauchtwagen aufgereiht.

Es gab einen dunkelblauen Peugeot für 14 000 Euro und einen roten Citroën für 19 000. Alles war noch geschlossen, einem Aushang zufolge würde erst um acht Uhr geöffnet werden. Mack setzte Tasche und Werkzeugkoffer ab und drückte auf die Klingel. Drinnen schrillte es laut.

Nichts rührte sich. Also drückte er erneut. Und noch einmal. Zwei Minuten später erschien oben im Fenster ein verschlafener, unrasierter und sehr wütender Franzose, der zu ihm hinunterbrüllte: »Sind Sie verrückt geworden! Es ist Viertel nach sieben, wir machen um acht auf. Hauen Sie ab! Wir haben geschlossen.«

Mack starrte nach oben und brüllte mit einem ganz und gar verwegenen deutschen Akzent, bei dem er sich wie ein Bauer aus dem Punjab anhörte: »Sehen Sie diesen Peugeot da? Ich geb Ihnen 20 000 Euro, in bar. Wenn Sie in 60 Sekunden hier unten sind.«

»Verschwinden Sie. Ich liege mit meiner Frau im Bett. Sie müssen pervers sein! Ich ruf die Polizei.«

Er knallte das Fenster zu. Mack wartete, den Blick zum Fenster gerichtet, das plötzlich wieder aufflog.

»Wie viel?«, schrie Monsieur Laporte.

»20 000.«

»Ich komme.«

Eine Minute später schloss der Tankstellenbesitzer die Eingangstür auf. »Sie wollen den Wagen sofort?«

»Auf der Stelle«, sagte Mack, wühlte in seiner Tasche und holte sieben Packen mit Euro-Scheinen heraus. »Wie viele Kilometer hat er drauf?«

»Elftausend. Ein guter Wagen. Hat einem aus dem Ort gehört. Ich hab ihn selbst gewartet.«

»Ich zahle Ihnen so viel, damit Sie mir sofort die Papiere fertigmachen und ich in zehn Minuten wieder verschwinden kann. Also kommen Sie in die Gänge.«

Monsieur Laporte kam in die Gänge. Er holte ein Formular und sagte, er müsse Macks Pass sehen – »zur Identifizierung, n’est ce pas?«

Mack legte seinen scharlachroten, auf Gunther Marc Roche ausgestellten Schweizer Pass mit dem in Portland aufgenommenen Foto vor. Es war auf das Dokument laminiert, auf der rechten Seite des Gesichts prangte wie bei allen Schweizer Pässen als Hologramm ein kleines weißes Kreuz.

Der Franzose notierte alles sorgfältig – »Passnummer 947274902 … Rue de Bâle 18, Genf – ich muss auch Ihren Führerschein sehen, wenn Sie hier in Frankreich fahren wollen.«

Mack reichte ihm Gunther Marc Roches Führerschein, und Monsieur Laporte notierte auch diese Angaben samt Ausstellungsdatum – Juli 2008 – auf seinem Formular. Mack übergab daraufhin das Geld und unterschrieb das Dokument mit Gunther M. Roche. Monsieur Laporte setzte das Datum darunter und drückte den Stempel von Laporte-Auto darauf.

»Sie verscheißern mich auch nicht?«, fragte Mack, nun auf Englisch.

»Pardon, Monsieur?«

»Bekomme ich eine Garantie?«

»Bei Barzahlung wie in diesem Fall garantiere ich Ihnen persönlich, dass ich in einem Zeitraum von sechs Monaten alle Reparaturen kostenlos ausführen werde.«

»Ein Jahr, Sie knickeriger kleiner Scheißer«, erwiderte Mack erneut auf Englisch, überzeugt, dass der Franzose nichts davon kapieren würde, wenn er noch nicht einmal verscheißern verstand. Jedenfalls ging es ihm besser, nachdem er es ausgesprochen hatte.

»Gut, ein Jahr«, sagte Laporte, und Mack nahm davon Abstand, ihn gleich noch einmal einen knickerigen kleinen Scheißer zu nennen. Stattdessen klopfte er ihm auf den Rücken und sagte ihm, er solle die offiziellen Dokumente an seine Adresse in Genf weiterschicken, wenn sie von der Zulassungsstelle eintrafen. Sie gingen nach draußen, Monsieur Laporte wusch den Preis von der Windschutzscheibe, gab Mack die Schlüssel und fragte, ob er vorher vielleicht noch auftanken wolle.

»Gute Idee«, sagte Mack, blieb im Wagen sitzen, während 45 Liter in den Tank gepumpt wurden.

Als der Tankstellenbesitzer damit fertig war, sagte Mack: »Und vergessen Sie nicht, bei einem Barkauf wie diesem werden Sie niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen davon erzählen.«

»Niemals«, sagte Monsieur Laporte, der die 20 000 Euro bereits in seine Tasche gestopft hatte. »Das macht noch 62 Euro fürs Benzin.«

»Fick dich doch ins Knie«, erwiderte Mack fröhlich, gab Gas und entfernte sich von Val André, von dem knausrigen Drecksack und den Leichen der beiden Kerle, die er gerade umgebracht hatte.

»Scheiße«, sagte Mack. »Was bin ich froh, wenn dieser Mist hier in Frankreich vorbei ist.«

Im Moment konzentrierte er sich darauf, seine Spuren zu verwischen. Er fuhr mit hoher Geschwindigkeit über eine einsame Landstraße, die nach seinem Dafürhalten in Richtung Rennes führte. Rennes, die wichtigste Stadt der Bretagne und seit den Römern ein Verkehrszentrum, wie er auf der Bank in Brixham in seinem Reiseführer gelesen hatte. Verkehrszentrum war nicht schlecht, schließlich wusste er nicht, wo Henri Foche unerwartet auftauchen würde und wohin er als Nächstes musste. In Rennes jedoch, wo Foche wohnte, würde der Politiker ständig für Schlagzeilen sorgen, dort sollte es ein Leichtes sein herauszufinden, wo Foche seine Reden halten wollte.

Davor aber hatte er noch einige Dinge zu erledigen. Als Erstes stand ein weiterer Mord an … nun ja, eher ein Ableben. Lieutenant Commander Mackenzie Bedford freut sich, den Tod von Monsieur Gunther Marc Roche aus der Rue de Bâle, Genf, bekanntgeben zu dürfen.

Auf einem verlassenen Straßenabschnitt bog er in einen zu beiden Seiten dicht von Bäumen bewachsenen Feldweg ein. Hier löste er – zum letzten Mal nun – die schwarze Perücke und den Vollbart, zog sein schwarzes T-Shirt aus, den marineblauen Sweater, und stopfte die Sachen samt rotem Schweizer Pass und Führerschein tief unten in das Geheimfach seiner Tasche.

Er holte ein sauberes weißes T-Shirt und seine leichte Tweedjacke heraus und stülpte sich sorgfältig die blonde Perücke über, befestigte das ordentliche Bärtchen und setzte die randlose Brille aus Fensterglas auf. Völlig unmöglich, ihn auch nur entfernt mit dem vollbärtigen Piraten in Verbindung zu bringen, der im Moment von der englischen Polizei, der britischen und französischen Küstenwache und der Polizei in der Bretagne gejagt wurde.

Mack hatte eine hervorragende Spur gelegt. Aufnahezu jedem Meter, angefangen vom Pub gegenüber seinem Hotel in Brixham bis hin zu Laporte-Auto, das mittlerweile gut 20 Kilometer hinter ihm lag, war er gesehen worden. Bedienungen, Hafenmeister, Parkplatzwächter, Buchhändlerinnen, Trawler-Kapitäne, sogar ein Typ, der mit seinem Schlauchboot zum Angeln hinausgefahren war, hatten ihn gesehen und konnten es bezeugen. Seiner Meinung nach konnte es keine vier oder fünf Stunden mehr dauern, bis Interpol an die Tür der Rue de Bâle 18 klopfte. Weiß Gott, was sie dort vorfinden würden, vor allem, weil er die Adresse erfunden hatte. Er wusste noch nicht einmal, ob es in der gesamten Schweiz eine Straße dieses Namens gab.

In Genf würde man also hektisch den Mörder jagen, in Rennes ebenfalls und vor allem in Val André. In Brixham würden Ermittlungen wegen versuchten Mordes eingeleitet werden, spätestens dann, wenn der Parkplatzwächter über den Vollbartträger mit seinem komischen Akzent auspackte, der seinen Ford Fiesta zurückgelassen hatte – ohne Nummernschilder, ohne Zulassung, ohne Steuermarke und ohne Fingerabdrücke.

Mack musste lächeln. »Und das alles für einen Typen, den es nie gegeben hat und der nie gefunden werden kann – ein Schweizer Gespenst.«

Er nahm an, dass die britische Polizei den Wagen letztlich auseinandernehmen und die Fahrgestellnummer finden würde, die sie dann vielleicht nach Dublin führte. Und dort würden sie auf einen Mr. Michael McArdle treffen, der ihnen alles über einen Iren namens Patrick Sean O’Grady aus der 27 Herbert Park Road, Dublin 4, erzählte, geboren im County Kildare, was er mit Passnummer und Führerschein belegen konnte.

Mack prustete lauthals los bei dem Gedanken, dass es auch diesen Mr. O’Grady nie gegeben hatte. Genauso wenig wie dessen Passnummer und Adresse und Führerschein.

Die ganze Sache aber war zu ernst, um darüber zu lachen. Irgendwann in den nächsten Stunden musste er alles vernichten, was ihn irgendwie mit Gunther Marc Roche in Verbindung bringen konnte. Davor stand noch eine zweite Aufgabe an. Herausgeputzt als Jeffery Simpson, fuhr er auf die Straße zurück und wollte sich so schnell wie möglich ein Café suchen.

Acht Kilometer weiter fand er eines, ein kleines Landrestaurant mit großem Parkplatz, auf dem einige Wagen und zwei riesige Laster standen. Er stellte seinen Peugeot ganz hinten ab, ging um sein Fahrzeug herum und schraubte eilig beide Nummernschilder ab. Er warf sie auf den Rücksitz und ging ins Café zum Frühstücken.

Es war ein helles, sauberes, billiges Lokal, in dem einiges los war. Mack fand einen kleinen Zweier-Tisch am Fenster. Er bestellte Orangensaft und Kaffee und nahm sich vom Zeitungsständer eine Le Monde. Als die Bedienung kam, um die Bestellung aufzunehmen, ließ er den Blick über die Speisekarte schweifen und entschied sich für ein Omelett mit Schinken, ein Croissant und Marmelade.

Er wandte sich der Zeitung zu; auf Seite drei lautete die Schlagzeile:

SICHERHEITSWARNUNG FÜR FOCHES MORGIGE REDE VOR DEN ARBEITERN IN SAINT-NAZAIRE

Mack trank seinen Kaffee, kämpfte mit der französischen Sprache und versuchte den Inhalt des Artikels zu erfassen. In den folgenden zehn Minuten, bis sein Omelett kam, erfuhr er, dass es unter den Arbeitern der Werften in Saint-Nazaire einige Unruhe gegeben hatte. Le Monde vermutete, dass Foche selbst einen großen Anteil an den Industrieunternehmen besaß und nun nervös war, dass die gesamte Arbeiterschaft bei den anstehenden Wahlen gegen ihn stimmen könnte.

Foche reiste im Grunde nach Saint-Nazaire, um einen Brandherd zu löschen, würde es aber als begeisternde Wahlkampfrede verkaufen, die alle davon überzeugen sollte, dass sich das Leben für jeden entscheidend verbessern würde, wenn sie ihn mit großer Mehrheit in den Élysée-Palast wählen würden. Pour la Bretagne, pour la France.

Er wollte kurz nach fünf, nach Schichtende, vor den versammelten Werftarbeitern auftreten. Die Unternehmensleitung hatte zugesagt, den Beginn der nächsten Schicht um eine Stunde nach hinten zu verschieben. Ein Bild zeigte die Holzbühne mit Rednerpult und Mikro, darüber erstreckte sich eine Markise in patriotischem Blau-Weiß-Rot und ein riesiges Foche-Wahlkampfbanner. Die Arbeiter, für die Mack sich interessierte, trugen allesamt marineblaue Overalls.

Erneut ging er zum Zeitungsständer, wo er im unteren Teil eine Auswahl von französischen Straßenkarten entdeckte. Er nahm sich eine mit zu seinem Tisch, als auch schon sein Frühstück kam. Er bat die Bedienung, die Karte sowie die Zeitung mit auf die Rechnung zu setzen.

Selbstverständlich, erwiderte sie, und ob sie ihm noch was bringen könne? Nein, er sei zufrieden im Moment, antwortete er und machte sich über das Frühstück her, die erste Mahlzeit seit dem frittierten Kabeljau und den fetttriefenden Pommes in Brixham dreizehn Stunden zuvor. Schließlich war er die gesamte Nacht auf gewesen, hatte sich mit den Widrigkeiten der Natur herumgeschlagen und gegen einheimische Schurken kämpfen müssen.

Das mit Parmesan, Estragon und Schnittlauch verfeinerte Omelett war hervorragend. Nach Macks vorsichtiger Schätzung hätte er zwölf davon verdrücken können. Aber er wollte nicht zu viel zu sich nehmen – er musste wachsam bleiben. Er aß das köstliche Brot mit Erdbeermarmelade und ließ sich noch Kaffee nachschenken.

Dann bestellte er einen großen schwarzen Kaffee zum Mitnehmen und verlangte die Rechnung. Die Bedienung brachte ihm beides, den Kaffee in einem Plastikbecher mit Deckel, und Mack zahlte, gab Trinkgeld und sagte, er wolle noch ein wenig sitzen bleiben.

Zwei Minuten darauf sah Mack einen kleinen Citroën auf den Parkplatz einbiegen. Zwei Männer stiegen aus, kamen ins Café und nahmen an einem kleinen Tisch auf der gegenüberliegenden Seite Platz. Mack stand auf, nahm seinen Kaffeebecher, schnappte sich an der Theke noch ein Streichholzheftchen und eilte hinaus.

Zwanglos näherte er sich dem Citroën, der von seinen beiden Besitzern im Café nicht einsehbar war. Und machte sich an die Arbeit.

Er ging vor dem Wagen in die Hocke, schraubte schnell vorn und dann hinten die Nummernschilder ab und befestigte sie an seinem dunkelblauen Peugeot. Dann nahm er seine Nummernschilder vom Rücksitz und stattete mit ihnen den Citroën aus. Er schüttete den schwarzen Kaffee in die Hecke, behielt den Becher, sprang hinters Steuer und raste mit dem Peugeot auf die Straße hinaus, dass dem verstorbenen Killer Raymond Hören und Sehen vergangen wäre.

15 Kilometer weiter hielt er an einem ruhigen Alleeabschnitt und warf einen Blick auf die Straßenkarte. Er musste nicht mehr nach Rennes. Saint-Nazaire lag an die 130 Kilometer im Süden, es reichte daher, wenn er quer übers Land Richtung Vannes am Golf von Morbihan fuhr, um dort auf die Autobahn zu kommen, die dann direkt zum Zentrum der französischen Schiffbauindustrie führte.

Mack sah auf die Uhr und überprüfte die Tankanzeige. Es war neun Uhr, ein wunderbarer Julimorgen, und er hatte genügend Benzin. Laporte hatte den Tank nicht ganz voll gemacht, wahrscheinlich hatte er bereits geahnt, dass er von dem Mann, der für den Peugeot soeben 6000 Euro über dem Preis gezahlt hatte, keine Kohle mehr sehen würde.

Wahrscheinlich würden noch 10 bis 15 Liter reinpassen, weshalb Mack bei der nächsten Tankstelle anhielt, volltankte und noch einen halben Liter Super im Kaffeebecher mitnahm.

Fünf Kilometer weiter bog er auf einen Rastplatz ein, zog die schwarze Perücke, den Vollbart und das schwarze T-Shirt aus der Tasche, zerriss Gunthers Pass und Führerschein und wickelte alles in die Le Monde. Dann schob er die Zeitung in einen eisernen Abfalleimer, leerte darüber den Kaffeebecher, entfachte eines der Streichhölzer, warf es hinein und duckte sich. Mit einem dumpfen Wampff schlugen die Flammen hoch, Mack spürte die Hitze, unter der die Überreste von Gunther an einer einsamen französischen Landstraße kremiert wurden.

Er entfernte sich vom rot glühenden Abfallbehälter, stieg in seinen Peugeot und machte sich auf den Weg nach Süden.


Um 9.15 Uhr fanden zwei Schuljungen, die Ferien hatten, die Leichen von Marcel und Raymond. Im Grunde fanden sie nicht die Leichen, sondern Raymonds geladene und entsicherte Pistole, die im Sand lag. Die Leichen wurden erst später entdeckt. Die beiden Jungen dachten nämlich, die Männer würden nur schlafen.

Der Fund der schweren Pistole war so ziemlich das Aufregendste ihrer Ferien, und einer der beiden, Vincent Dupres, elf Jahre alt, griff sich die Waffe, zielte damit auf die Strandmauer, zog zweimal den Abzug durch und zerschoss einem der Anwohner das Fenster im ersten Stock. Der darauffolgende Krawall, den Pistolenschüsse und auf die Straße niederregnende Glassplitter gern nach sich zogen, führte dazu, dass Anwohner auf der Strandpromenade von Val André ausschwärmten und schließlich feststellten, dass die eigentlichen Besitzer der Waffe tot waren.

Umgehend wurde die Polizei alarmiert, und 20 Minuten darauf erschienen zwei weiße Streifenwagen der Gendarmerie Nationale aus Saint-Malo. Capitaine Paul Ravel hatte das Kommando, was für die Polizei ein Glücksfall war.

Ravel war ein ruhiger, besonnener, oft übergangener Beamter, der auf 34 Jahre Polizeizugehörigkeit zurückblicken konnte. Viele seiner Kollegen meinten, er müsste eigentlich auf der Karriereleiter sehr viel höher stehen. Aber Paul Ravel, verheiratet, Vater von zwei Kindern, betrachtete die Welt mit jenem sarkastischen Grinsen, hinter dem häufig ein außergewöhnlicher Verstand steht, was hier definitiv der Fall war.

Er war von sportlicher Statur, mittlerer Größe und stammte ursprünglich aus Toulouse. Dort hatte er die Schule besucht und galt als ein Rugby-Fullback, dem es möglicherweise beschieden war, einmal für eine der großen französischen Mannschaften zu spielen. Toulouse nahm ihn als 17-Jährigen unter Vertrag; man schätzte ihn als den besten und verlässlichsten Jugendspieler, den die Stadt seit Jahren gesehen hatte.

Das alles gab Paul Ravel der Liebe wegen auf. Er verliebte sich in eine dunkelhaarige bretonische Schönheit, die Tochter eines Küstenwachoffiziers, und verließ die geschäftige Stadt im Südwesten Frankreichs zugunsten des weiten Ackerlands und der grandiosen Küste des Nordens. Mit 22 heiratete er Louise. Sie wohnten in einem kleinen Haus am Rand von Saint-Malo und hegten nicht den Wunsch, irgendwann woandershin zu ziehen. Pauls Karriere bei der Gendarmerie Nationale hatte gut begonnen und war dann ins Stocken geraten. Mittlerweile war er nah daran, sich in seine bescheidenen Verhältnisse zu fügen.

Noch war nicht zu ahnen, dass dies die wichtigsten Mordermittlungen in seiner Karriere sein würden. Bis zum Eintreffen eines höherrangigen Beamten würde er die Ermittlungen leiten. Sofort stellte er fest, dass nicht nur einer, sondern beide Toten mit Pistolen der gleichen Marke bewaffnet gewesen waren. Marcel hatte seine Waffe noch im Schulterholster stecken. Der Polizist durchsuchte die Leichen und fand Marcels und Raymonds Führerscheine, in Raymonds Jacke dazu noch Autoschlüssel und ein angeschaltetes Handy.

Die beiden waren den Einheimischen nicht bekannt, folglich musste es sich um Auswärtige handeln. Die Polizisten befragten jeden, ob ihnen am Morgen ein fremder Wagen aufgefallen war, der in der Nähe des Strandes geparkt hatte.

Niemand hatte ihn ankommen sehen, jemandem aber war ein schwarzer Mercedes S-Klasse aufgefallen, der etwa 200 Meter weiter in einer Seitenstraße stand. Der Capitaine und ein weiterer Beamter sahen ihn sich an und stellten fest, dass er sich mit Raymonds Fernbedienung öffnen ließ.

Er stöberte im Wagen, fand aber kaum persönliche Gegenstände, nur eine Straßenkarte und zwei Kaffeebecher. Er notierte sich das Kennzeichen und kehrte zu den beiden Streifenwagen zurück, die nun, diagonal auf der Straße abgestellt, jeglichen Verkehr blockierten.

In einem der Wagen fütterte er den Polizeicomputer mit dem Mercedes-Kennzeichen. Vier Minuten später erschienen Name und Adresse des registrierten Besitzers – Montpellier Munitions im Wald von Orléans. Der Polizist kannte den Namen von irgendwoher, konnte sich aber nicht erinnern, wo und in welchem Zusammenhang er ihn gehört hatte. Wie auch immer, es wäre eine Sache von wenigen Sekunden gewesen, bei Montpellier Munitions anzurufen und nachzufragen, wer den Wagen gefahren hatte.

Daneben hatte er aber noch das Handy, und ohne große Hoffnung auf Erfolg drückte er die Wahlwiederholung und hörte überrascht, wie er verbunden wurde. Beim dritten Klingeln meldete sich eine barsche Stimme. »Marcel, wo zum Teufel haben Sie gesteckt?«

»Hier ist nicht Marcel«, antwortete Paul Ravel kühl. »Darf ich fragen, mit wem ich spreche?«

»Was soll das heißen, Sie sind nicht Marcel? Sie benutzen sein verdammtes Handy. Ich sehe es auf meinem Display. Wo verdammt noch mal steckt er?«

»Monsieur, hier ist Capitaine Paul Ravel von der Polizei in Saint-Malo. Ich frage Sie noch einmal: Mit wem spreche ich?«

»Ravel, das hier ist die Durchwahl zum Polizeichef der Bretagne. Ich heiße Pierre Savary. Ich bin im Polizeihauptquartier in Rennes. Und noch einmal, wo steckt Marcel?«

»Monsieur, ich kann nicht beurteilen, ob ich wirklich mit Monsieur Savary rede. Ich werde jetzt die Polizei in Rennes anrufen und bitten, mich durchzustellen.«

Bevor der Polizeichef protestieren konnte, hatte Paul Ravel aufgelegt und rief über das Telefon im Streifenwagen das bretonische Polizeihauptquartier an. Ravel sagte dem Beamten, der sich dort meldete, dass Monsieur Savary seinen Anruf erwarte. Kurz darauf hatte er die gleiche Stimme wie zuvor in der Leitung.

»Tut mir leid, Monsieur«, sagte der Polizist aus Saint-Malo, »aber ich musste auf Nummer sicher gehen. Marcel und sein Kollege Raymond sind tot. Sie liegen am Strand von Val André. Mehr kann ich leider noch nicht sagen. Wir sind erst seit zehn Minuten hier.«

Pierre Savary wurde kreidebleich. Was der Polizist ihm soeben mitgeteilt hatte, würde solch ungeheuerliche Folgen nach sich ziehen, dass es ihm für einen Moment die Sprache verschlug.

»Monsieur? Sind Sie noch dran?«

»Ja, Capitaine, ich bin noch da. Was können Sie an Einzelheiten mitteilen?«

»Na ja, Monsieur, beide Toten weisen Anzeichen körperlicher Gewaltanwendung auf. Wir haben sie noch nicht eingehend untersucht, aber Raymonds Arm dürfte gebrochen sein, der Körper war in Fötushaltung zusammengerollt, so, als wollte er sich gegen einen Angreifer schützen.«

»Und Marcel?«

»Schreckliche Augenverletzungen, ein Auge muss geblutet haben, beide wurden tief in die Augenhöhlen gedrückt. Die Augäpfel sind nicht mehr sichtbar. Und beide Männer haben auf seltsame Weise den Kopf verdreht. So was habe ich noch nie gesehen.«

»Sind sie dort, wo Sie sie gefunden haben, auch getötet worden?«

»Gewiss nicht, Monsieur. Man hat sie über die Strandmauer geworfen. Im Sand zeichnet sich jeweils ein tiefer Eindruck ab. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Täter allein war. Vielleicht sind sie zu zweit, möglicherweise sogar zu dritt gewesen. Schwer vorstellbar, dass das alles die Tat nur einer Person war. Marcel und Raymond waren schließlich bewaffnet.«

»Haben Sie überprüft, ob eine oder beide Waffen benutzt wurden?«

»Ja, Monsieur. Marcels Pistole steckte noch voll geladen in seinem Holster. Aus Raymonds Waffe wurden zwei Schüsse abgegeben, beide von dem Jungen, der die Leichen gefunden hat.«

»Einem Jungen?«

»Ja. Zwei Elfjährige haben die Leichen gefunden und die Waffe im Sand entdeckt, etwa fünf Meter von den beiden Toten entfernt. Der kleine Scheißer hat auf die Strandmauer gezielt und in einem angrenzenden Haus ein Fenster herausgeschossen.«

»Großer Gott, da hätte ja jemand zu Schaden kommen können!«

»Was Sie nicht sagen! Ich habe einen jungen Beamten angewiesen, den beiden eindringlich ins Gewissen zu reden, wie gefährlich es sein kann, wenn man mit geladenen Waffen hantiert.«

»Gut, Capitaine. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ernst das alles ist. Holen Sie sich aus Saint-Malo alles, was Sie für die Ermittlungen brauchen: die Spurensicherung, Sanitäter, Ärzte, Rechtsmediziner, Fotografen. Und sagen Sie Ihrem Vorgesetzten Bescheid, er soll sofort an den Tatort kommen. Auch wenn Sie selbst sehr gründlich zu sein scheinen.«

»Danke, Monsieur.«

»Ich werde per Hubschrauber nach Val André fliegen. Und übrigens, ich wünsche nicht, dass irgendwas davon an die Medien dringt, zumindest nicht in den nächsten Stunden. Marcel und Raymond waren die beiden persönlichen Leibwächter von Henri Foche.«

»Großer Gott«, sagte Paul Ravel.


Pierre Savary wählte die private Handynummer von Henri Foche und teilte ihm in aller gebotener Ruhe mit: »Henri, lassen Sie alles stehen und liegen, und kommen Sie sofort in mein Büro. Es ist äußerst dringlich.«

Der Gaullistenführer wusste sofort, dass ein ernstes Problem vorliegen musste. Er bat seine Sekretärin Mirabel, ihn zur Polizei zu fahren. Dort in seinem großen, aber schlichten Büro berichtete Pierre Savary, was vorgefallen war. Er sprach vom Schweizer Piraten, der zwei englische Fischer von ihrem eigenen Trawler in den Ärmelkanal bugsiert hatte, von der nachfolgenden Jagd der britischen und französischen Küstenwache nach dem mysteriösen und mit mörderischen Kräften ausgestatteten Verbrecher. Er sprach von der nicht mehr auffindbaren Eagle und von dem Mann, der nun wie vom Erdboden verschluckt zu sein schien. Savarys Meinung nach war der Trawler versenkt worden. Er erzählte Foche, wie er, Savary, in der Nacht mit Marcel hier zusammengesessen und ihm geraten habe, nach Val André zu fahren, wo der rätselhafte Vollbartträger anlanden sollte. Und dann, wie die beiden Leibwächter am Strand tot aufgefunden wurden, ermordet von jemandem »mit der Kraft eines verdammten Grizzlys«.

Henri Foche war sichtlich schockiert. Der Verlust seines Freundes und verlässlichsten Vertrauten Marcel war für ihn ein schwerer Schlag. Er brachte dem Killer höhere Wertschätzung entgegen als seiner eigenen Frau. Er war mit Marcel Tausende von Kilometern in jeden Winkel Frankreichs gereist. Er hatte mit ihm gelacht, mit ihm zu Abend gegessen, vor allem aber hatte er sich auf ihn verlassen können, hundertprozentig. Jetzt war er tot. Und jemand, bei Gott, würde dafür bezahlen.

»Wissen wir, wo dieser komische Schweizer wirklich gelandet ist?«

»Noch nicht. Aber ich habe ein Ermittlungsteam vor Ort, das die ganze Stadt nach Spuren durchkämmt. Es klingt ja ganz danach, als wäre er ein ziemlich auffälliger Bursche. Er muss irgendwo gesehen worden sein.«

»Wenn er jetzt kein Boot mehr hat, dann fehlt es ihm an einem Transportmittel, oder?«

»Nicht, wenn jemand auf ihn gewartet hat«, sagte Pierre.

»Ich möchte Ihnen eine Frage stellen, alter Freund«, sagte Foche. »Glauben Sie wirklich, dass er gekommen ist, um mich umzubringen?«

»Na ja, bislang fehlen uns die Beweise dafür. Aber die Zufälle häufen sich aufrecht unschöne Weise. Wir haben einen Hinweis aus zuverlässiger Quelle, dass für sehr viel Geld ein Attentäter angeheuert werden sollte; einen weiteren Hinweis, dass er vermutlich aus England kommt. Dann haben wir diesen Desperado auf einem Fischerboot, der den Ärmelkanal überquert, illegal in Frankreich landet und kaum zehn Minuten später Ihre beiden persönlichen Leibwächter umbringt.«

»Ich stimme zu, mon ami«, erwiderte Foche. »Das kann einem nicht gefallen.«

»Vor allem, weil der Täter auf freiem Fuß ist«, sagte Pierre, »und zwar hier in Frankreich, wo er die Zeitungen lesen und Sie Schritt für Schritt verfolgen kann.«

»Deutet irgendetwas darauf hin, dass er meine Männer erschossen oder erstochen … dass er eine Waffe benutzt hat?«

»Nein. Die einzigen Waffen waren die Pistolen von Marcel und Raymond. Es ist angeraten, dass Sie die Maßnahmen zu Ihrer persönlichen Sicherheit verstärken.«

»Ist bereits geschehen, seitdem ich von einem möglichen Attentatsversuch weiß.«

»Aber Marcel und Raymond sind jetzt tot.«

»Ich weiß, was ich tun werde. Ich werde ein privates Sicherheitsunternehmen engagieren. Ich kann es mir nicht leisten, meinen Bewegungsradius einzuschränken, nicht, wenn Wahlen anstehen und ich den Menschen in diesem Land persönlich gegenübertreten muss – dabei werde ich mich von einem viertklassigen Killer nicht aufhalten lassen.«

»Henri, ich muss Sie korrigieren. Soweit wir wissen, hatte es unser Mann bislang mit vier Gegnern zu tun. Zwei von ihnen schleuderte er in den Ärmelkanal, die anderen beiden eliminierte er im unbewaffneten Nahkampf. Ich würde ihn nicht viertklassig, sondern eher erstklassig nennen. Wir sollten nicht den Fehler machen, ihn zu unterschätzen.«

Foche nickte. »Was die Sicherheitsmaßnahmen anbelangt – was, meinen Sie, ist dafür nötig?«

»Vier bewaffnete Männer, die Sie Tag und Nacht begleiten. Dazu Männer im Haus, die vor Ihrem Schlafzimmer sowie vor und hinter der Eingangstür postiert sind. Und Ihr Wagen, ist der kugelsicher?«

»Ja. Könnten Sie veranlassen, dass ihn jemand aus Val André zurückfährt?«

»Kein Problem. Ich werde selbst nach Val André fliegen. Wenn ich auf etwas Interessantes stoße, melde ich mich bei Ihnen. Vielleicht fahre ich den Wagen sogar selbst zurück.«

»Danke, Pierre. Ich bin Ihnen wirklich sehr zu Dank verpflichtet.«


Henri Foche wurde in sein Wahlkampfbüro zurückchauffiert. Er zog sich in seinen Privatraum zurück und wählte die Marseiller Nummer des Colonel Raul Declerc.

Der Ex-Offizier der Scots Guards erkannte auf dem Display die Nummer von Foches Wahlkampfbüro und hob sofort ab. Natürlich war er erfreut, die Stimme des gaullistischen Kandidaten zu hören. Es konnte nur eines bedeuten: Geld. Und Geld, das liebte er mehr als alles andere auf der Welt.

Foche teilte ihm mit, dass er Raul und dessen Team für die Dauer des Wahlkampfs an Bord nehmen wolle. Er wollte am Telefon nichts über die beiden Morde erzählen, meinte aber, es sei wichtig, sich so schnell wie möglich zu treffen, damit alles besprochen werden könne.

»Haben Sie auch schon ans Honorar gedacht?«, fragte Raul.

»Ja. Mein polizeilicher Berater meinte, ich bräuchte vier besonders ausgebildete Männer, Ex-Spezialkräfte, bis an die Zähne bewaffnet, die rund um die Uhr Dienst schieben.«

»Dagegen lässt sich nichts einwenden«, erwiderte Raul. »Und als Zeitraum setzen wir drei Monate fest. Das wird mich Minimum 500 000 Euro kosten. Wenn Sie rund um die Uhr bewacht werden wollen, brauchen wir insgesamt zehn Leute im Schichtdienst. Ich komme selbst als Gruppenführer mit, dazu müssen Sie mit beträchtlichen Zusatzkosten rechnen. Mein Preis für die gesamte Operation, alles inklusive, beträgt eineinhalb Millionen Euro. Für weniger mache ich es nicht, vor allem, weil wir damit rechnen müssen, dass jemand stirbt – aber hoffentlich nicht Sie, Monsieur.«

»Ich zahle Ihnen eine Million im Voraus. Sollte ich sterben, werden Sie auf die letzte halbe Million verzichten müssen. Dann haben Sie ja versagt.«

»Sie sehen ein Drittel des Betrags also als Provision an? Das sind unangenehme Bedingungen.«

»Für mich ist es noch unangenehmer, wenn ich umgebracht werde. Vergessen Sie nicht, wenn mir etwas zustößt, sind Sie von Ihren Pflichten entbunden und können mit einer hohen Summe nach Hause gehen, ohne dass Sie weitere Ausgaben haben.«

»Ja, da haben Sie recht«, erwiderte Raul. »Ich akzeptiere die Bedingungen. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um sicherzustellen, dass Ihnen nichts geschieht. Meine Leute sind erstklassig, Ex-Fremdenlegionäre, Ex-SAS und zwei ehemalige Spezialkräfte der Israelis.«

»Können Sie heute Abend hier sein und mit mir morgen nach Saint-Nazaire fahren?«

»Ja, per Flieger, Marseille – Rennes. Wahrscheinlich eine Privatmaschine.«

»Kein Problem. Geht auf meine Rechnung. Aber kommen Sie. Ich lasse Sie vom Flughafen abholen. Rufen Sie mich zurück, und teilen Sie mir Ihre Ankunftszeit mit.«


Savarys Polizeihubschrauber setzte um Viertel nach elf am Strand von Val André auf und landete keine 20 Meter von der Stelle entfernt, an der fünf Stunden zuvor Mack Bedford an Land gegangen war. Bei Macks Ankunft war der Strand an diesem wunderbaren bretonischen Küstenabschnitt leer und verlassen gewesen, Savary allerdings landete inmitten eines lärmenden Tumults. Die gesamte Stadtbevölkerung schien sich versammelt zu haben, und die Polizei aus Saint-Malo hatte alle Hände voll zu tun, um den Tatort abzusperren. Die Menge drängte immer näher, als wollte jeder den besten Blick auf das Geschehen erhaschen, obwohl die Stelle, an der Marcel und Raymond lagen, mit großflächigen Stellwänden abgeschirmt war.

Capitaine Paul Ravel eilte dem bretonischen Polizeichef entgegen, als dieser aus dem Hubschrauber stieg. »Guten Morgen, Monsieur. Ich bin froh, dass Sie hier sind – die ganze Sache sieht doch schlimmer aus, als wir anfangs dachten.«

Pierre Savary wusste genau, wie schlimm es wirklich stand. Außerdem war er sich verdammt noch mal sicher, dass der Täter nur aus einem Grund in Frankreich war – um Henri Foche zu töten. Das alles war kein Zufall mehr.

Er streckte Paul Ravel die Hand hin und rief im Dröhnen der auslaufenden Rotoren, die am Strand einen Sandsturm entfachten: »Gehen wir hinter die Schirme.«

Als sie dort ankamen, wurde Raymond soeben in den Krankenwagen geschoben. Marcel lag noch im Sand und wurde vom Rechtsmediziner untersucht.

»Monsieur«, sagte der Arzt, »so was ist mir noch nicht untergekommen. Beide Männer sind an Genickbruch mit schrecklichen Rückenmarksverletzungen gestorben. Daneben habe ich an der Rückseite der Ohren Abschürfungen gefunden. Bei beiden Toten. Wenn Sie das Tuch zurückschlagen, Monsieur, und einen Blick auf die Leiche werfen wollen, werden Sie sehen, dass diesem Mann mehr oder weniger die Augen ausgedrückt wurden. Jemand muss ihm einen Gegenstand in die Augen gerammt haben, so fest, dass der jeweilige Augapfel weit nach hinten gestoßen und alles Gewebe zerstört wurde.«

»Und dann wurde ihm das Genick gebrochen?«

»So sehe ich es. Man kann ja kaum davon ausgehen, dass der Täter ihm erst das Genick bricht und der Leiche dann die Augen ausdrückt.«

»Einverstanden«, sagte Savary. »Was war mit dem anderen? Was gibt es zu dessen Verletzungen zu sagen?«

»Der hat einen so schlimmen Armbruch, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Und mir sind schon eine Menge Autounfälle untergekommen. Genau am Ellbogen abgeknickt. Um bei einem Mann dieser Größe den Ellbogen so vollständig zu brechen, ist schon eine Menge Kraft nötig. Wahrscheinlich hätte er den Arm nie wieder richtig gebrauchen können.«

»War es der rechte Ellbogen?«

Der Arzt zögerte, nach längerem Nachdenken sagte er: »Tut mir leid, Monsieur, ich musste es mir erst vergegenwärtigen. Ja, es war der rechte Ellbogen.«

»Ich gehe davon aus, dass er die Waffe in der rechten Hand gehalten hat«, sagte Savary. »Paul, wie weit war die Pistole von der Leiche entfernt, als man sie gefunden hat? Haben Sie nicht was von fünf Metern gesagt?«

»Ja, genau, fünf Meter. Ich ließ mir von den Jungen die Stelle zeigen, wo sie sie aufgehoben haben. Der Abdruck war im Sand noch deutlich zu erkennen.«

»Dann nehme ich an, dass sie von dort oben, von der Strandmauer, heruntergefallen ist. Die Leichen und die Waffe haben im Sand ausgeprägte Vertiefungen hinterlassen, richtig?«

»Genau. Die Leichen sind definitiv von dort oben hinuntergeworfen worden. Und die Waffe wahrscheinlich aus ähnlicher Höhe.«

Savary wandte sich an den Rechtsmediziner. »Ich nehme an, man kann nicht herausfinden, welcher der beiden als Erster gestorben ist?«

»Das ist schwierig. Aber beide Leichen haben eng beieinandergelegen, Raymonds linkes Bein befand sich dabei unter Marcels Hand. Das würde darauf hinweisen, dass der Mann, der die Waffe in der Hand hielt, als Erster hinuntergeworfen wurde.«

Mit einem Nicken sprach Savary zu Ravel gewandt. »Vergessen wir nicht, die beiden waren zwei ausgebildete Leibwächter im Dienst von Monsieur Foche. Wir wissen, warum sie hier waren. Entweder, um der Polizei zu helfen, wofür ihnen keiner gedankt hätte, oder um dafür zu sorgen, dass die Person, die das Leben ihres Arbeitgebers bedrohte … äh … eliminiert wurde.«

Paul wirkte sehr nachdenklich. »Monsieur, da wissen Sie sehr viel mehr als ich. Ich gehe davon aus, dass das, was Sie sagen, den Tatsachen entspricht. Sie meinen also, die beiden Leibwächter wurden in eine Art Konfrontation verwickelt, die für sie nicht gut ausgegangen ist?«

»Genau das meine ich«, erwiderte der bretonische Polizeichef. »Ich sehe bereits einen großen Mann mit schwarzem Vollbart vor mir, der in einem französischen Gerichtssaal steht und erklärt, dass diese beiden Männer ihn überraschend angegriffen haben und er sich aus Angst um sein Leben ihrer erwehren musste.«

Fragend sah Capitaine Ravel ihn an. »Schwarzer Vollbart?«

»Entschuldigen Sie. Die Küstenwache sucht jemanden, der ein Fischerboot geklaut und die beiden Besatzungsmitglieder über Bord geworfen hat. Er wird als großer Mann mit schwarzem Vollbart beschrieben.«

»Ich hatte noch keine Zeit, mich ausführlich mit dem Täter zu befassen«, erwiderte Ravel. »Auf dem Computer liegt, glaube ich, eine Meldung dazu vor. Ich werde sie lesen, sobald ich dazu komme.«

»Tun Sie das«, sagte Pierre Savary. »Wenn wir nicht bald in die Gänge kommen, ist dieser Typ nicht mehr in unserem Zuständigkeitsbereich und läuft frei in Frankreich herum auf der Suche nach dem zukünftigen Präsidenten. Paul, wir müssen ihn finden. Sobald die zweite Leiche fortgeschafft ist, werden Sie jeden verfügbaren Beamten dazu verdonnern, Val André abzusuchen. Schließlich nehmen wir an, dass er über keinerlei Transportmittel verfügt, könnte also gut sein, dass er sich noch irgendwo hier versteckt oder von jemandem geschützt wird.«

»Monsieur, ich bin nicht ermächtigt, eine so große Polizeiaktion zu befehlen. Ich bin nur Capitaine.«

»Nein, das sind Sie nicht mehr. Ich ernenne Sie hiermit zum Chef d’Escadron. Ich übertrage Ihnen mit sofortiger Wirkung die Leitung dieses Falls. Von jetzt an sind Sie mir persönlich unterstellt.«

»Nun, danke, Monsieur. Ich werde mein Bestes tun.«

»Überlassen Sie die Formalitäten mir. Ich werde Saint-Malo persönlich darüber in Kenntnis setzen.«

»Jawohl, Monsieur.«

Savary grinste ihn an. »Paul«, sagte er, »ich bin vielleicht nicht der beste Polizeichef, den dieses Land jemals gesehen hat, aber ich verfüge über Menschenkenntnis. Und diesen Morgen habe ich mir über zwei Menschen eine sehr definitive Meinung gebildet. Über Sie und diesen Dreckskerl, der hinter Henri Foche her ist. Wir müssen ihn finden, koste es, was es wolle. Denn meiner Meinung nach ist er äußerst gefährlich, trickreich und zu allem entschlossen.«

»Monsieur«, sagte Paul Ravel, »eines noch, bevor Sie gehen. Mir kommt es vor, als wäre dieser Typ ein professionell ausgebildeter Killer, höchstwahrscheinlich aus dem Militär, vielleicht sogar von den Spezialkräften. Ich würde gern einige Experten kommen lassen, damit sie sich die Leichen anschauen. Vielleicht kommt denen da einiges bekannt vor.«

»Gute Idee. Sie haben meine Erlaubnis dazu. Legen Sie los. Tun Sie alles, damit wir endlich auf eine konkrete Spur stoßen. Wir müssen ihn finden.«

»Gut, Monsieur. Und was soll ich mit Monsieur Foches Wagen machen?«

»Lassen Sie ihn ins Polizeihauptquartier in Rennes zurückfahren. Ich weiß, ich kann mich auf Sie verlassen.«


Nach dem Abflug des Polizeichefs setzte sich der frisch beförderte Chef d’Escadron Paul Ravel in einen der Streifenwagen, rief in Saint-Malo an und bat, zwei Telefonverbindungen herzustellen.

Der erste Anruf galt der Direction Générale de la Securité Exterieure (DGSE), der Nachfolgeorganisation der einst gefürchteten SDECE, der Gegenspionage. Die DGSE hatte ihren Sitz in einem trostlosen zehnstöckigen Gebäude im 20. Arrondissement im Westen von Paris. Der zweite Anruf ging an das Commandement des Opérations Speciales (COS), der gemeinsamen Zentrale für die Spezialeinsätze aller drei Teilstreitkräfte der französischen Armee. COS lag im Vorort Taverny und galt als das französische Gegenstück zum britischen SAS und zu den amerikanischen Navy-SEALs.

Ravel sprach zunächst mit der DGSE. Der diensthabende Offizier wirkte sofort alarmiert. Die Sache war augenscheinlich wichtig. »Wir werden jemanden nach Saint-Malo schicken. Haben Sie schon das COS kontaktiert?«

»Mein nächster Anruf.«

»Gut, sprechen Sie mit den Marinefallschirmjägern. Und sagen Sie ihnen, sie sollen sich bei uns melden. Wir können uns mit den Jungs einen Hubschrauber teilen. Wie weit ist es? An die 350 Kilometer bis nach Saint-Malo?«

»Ja. Ungefähr. Eineinhalb Stunden Flugzeit.«

»Teilen Sie denen in Saint-Malo mit, dass wir um halb zwei dort sind.«

Paul Ravel rief beim COS an und erklärte, was vorgefallen war. Man wolle einen Mediziner schicken, einen Experten, der Näheres zu den Tötungsmethoden sagen könne. Ja, man werde den DGSE-Vertreter mitnehmen und auf dem Dach der Polizeidienststelle in Saint-Malo landen.

»Na, viel Spaß dabei«, sagte Paul Ravel. »Das Dach ist nämlich ziemlich geneigt. Sie sollen es lieber am Strand versuchen.«

Der diensthabende Offizier lachte nur. »Keine Sorge, Monsieur. Wir sind schon an ganz anderen Orten gelandet als am Strand von Saint-Malo! Wir werden schon hinkommen.«

Paul Ravel verließ den Streifenwagen und sah noch, wie der zweite Krankenwagen den Strand verließ. Dann begann er die Hausdurchsuchungen zu organisieren. Er stellte 20 Beamte dafür ab, Straße für Straße zu durchkämmen, ausgehend von jener, in der der Mercedes entdeckt worden war.

Mit zwei Assistenten konzentrierte er sich auf die Frage des Transports. Es gab nur wenige Busse, keine Eisenbahn. Autos waren nicht als gestohlen gemeldet worden, das hieß also, dass der Killer entweder eines erworben oder zur Verfügung gestellt bekommen hatte oder sich noch immer in der Gegend aufhielt. Taxi konnte man wohl ausschließen.

Mit einem der Polizeiwagen fuhr er durch die Stadt und suchte nach Gebrauchtwagenhändlern. Der einzige, den er fand, war Laporte-Auto. Er bat, den Besitzer zu sprechen.

Monsieur Laporte witterte Probleme, die er tunlichst vermeiden wollte. Ja, früh am Morgen, gegen sieben Uhr, sei ein Kunde an seiner Tankstelle aufgetaucht, der einen dunkelblauen Peugeot in bar gekauft habe. Ja, er schien es sehr eilig gehabt zu haben, er wollte den Wagen sofort haben. Ja, die Zulassungspapiere seien ordnungsgemäß ausgefüllt, und ja, er, Monsieur Laporte, habe sowohl Pass als auch Führerschein des Mannes gesehen.

Ob er noch Kopien der Formulare habe? Absolument. Er habe sogar noch die vom Käufer eigenhändig unterzeichneten Originale. Hier. Gunther Marc Roche, Rue de Bâle 18, Genf, Schweiz. Und hier sei auch das Kennzeichen notiert.

»Und wie sah er aus?«, fragte Paul Ravel.

»Groß. Kräftig, muskulös, mit langen, lockigen Haaren und einem schwarzen Vollbart. Er hat mit einem seltsamen Akzent gesprochen. Und die ganze Zeit Handschuhe getragen.«

»Einem europäischen Akzent?«

»Möglich. Eigentlich aber eher so, wie Schwarze reden. Aber er war weiß.«

»Kein Schweizer Akzent – ich meine, kein Schweizerdeutscher?«

»Eigentlich nicht. Aber er hat ja nicht viel gesagt. Er wollte nur den Wagen und dann gleich wieder fort. Er hat mich um 62 Euro fürs Benzin gebracht.«

»Aber er hat den Wagen bar bezahlt, oder?«

»Ja. Ich glaube, der hatte eine ganze Menge Scheine bei sich.«

»Seien Sie vorsichtig, wenn Sie hier so viel Bargeld rumliegen haben«, sagte Ravel. »Falls er zurückkommen sollte, rufen Sie mich sofort an.«

»Gut, Monsieur. Was hat er denn angestellt?«

»Er wird wegen Mordes gesucht.«

Mit weit aufgerissenen Augen sah Monsieur Laporte den beiden Polizisten nach, als sie losfuhren und zu ihren zwei Dutzend Kollegen am Strand zurückkehrten. Dort angekommen, loggte Ravel sich in den Polizeicomputer ein und rief die Informationen zum Schweizer Piraten auf. Zufrieden sah er auf den Bildschirm. Groß. Schwarzes Lockenhaar. Schwarzer Vollbart. Passte mit Laportes Beschreibung überein. Das war gut. Genau wie die nun bekannte Adresse. Die hatte noch keiner.

Insgeheim aber wusste der Polizist, dass das alles gar nicht gut war. Denn der Schweizer Verdächtige war seit 7.30 Uhr in einem hübschen französischen Wagen ausgeflogen. Er hatte also fast sechs Stunden Vorsprung. Und bislang gab es keine landesweite Fahndung nach ihm.

Paul telefonierte mit dem Polizeihauptquartier der Bretagne und gab Fahrzeugtyp und Kennzeichen durch. Bei durchschnittlich 60 Kilometern in der Stunde konnte der Verdächtige mittlerweile fast 300 Kilometer zurückgelegt haben. Er konnte bereits in Paris sein, wo er sich wahrscheinlich ohne Wagen herumtrieb. Das war nicht nur schlecht, das war richtiggehend beängstigend.

Dann fügte er noch hinzu: »Der Verdacht, dass dieser Mann es darauf abgesehen hat, Henri Foche zu ermorden, nimmt immer konkretere Formen an. Sorgen Sie dafür, dass in Saint-Nazaire, wo der Gaullistenführer morgen eine Rede halten will, die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt werden.«

Plötzlich klingelte sein Handy. In der Leitung war der Dienststellenleiter in Saint-Malo. »Monsieur, Rennes hat uns mitgeteilt, dass Sie befördert wurden. Jeder hier möchte Ihnen gratulieren. Ich will hiermit nur bestätigen, dass wir keinen weiteren Chef d’Escadron schicken werden, der Sie bei Ihren Ermittlungen unterstützt. Monsieur Savary ist strikt dagegen.«

»Danke, Freddie«, sagte Paul. »Bis dann.«

Als er sein Handy in die Tasche schob, hielt jede Polizeidienststelle in Frankreich nach einem dunkelblauen Peugeot Ausschau. Aber es war zu spät, viel zu spät.

Die einzige Meldung dazu kam gegen ein Uhr, als auf der N12 nördlich von Dinan ein Citroën mit den Nummernschildern des gesuchten Peugeot angehalten wurde. Da das Kennzeichen mit dem übereinstimmte, das von Monsieur Laporte übermittelt worden war, nahm die Polizei an, dass man sich im Wagentyp geirrt hatte. Und so ging man davon aus, dass die beiden Klempner, die darin saßen, sich eines grässlichen Verbrechens schuldig gemacht hatten.

Es herrschte allgemeine Verwirrung. Man glaubte den Klempnern nicht. Sie wurden verhaftet und zur Polizei in Dinan gebracht, wo man sie befragte, bis jeder einsah, dass irgendjemand ihnen die Nummernschilder gestohlen hatte. Und dass in diesem Moment ein dunkelblauer Peugeot durch Frankreich kurvte, der nicht nur mit den Citroën-Kennzeichen ausgestattet war, sondern hinter dessen Steuer auch ein möglicher Attentäter saß.

»Sacre bleu!«, seufzte Paul Ravel, als er die Neuigkeiten erfuhr. »Darf ich davon ausgehen, dass der landesweiten Fahndung nach dem Wagen die neuen Kennzeichen übermittelt wurden?«

»Ja, ja«, antwortete der Beamte im überdrüssigen Tonfall desjenigen, der wusste, dass es an die 10 000 dunkelblaue Peugeots geben musste.

»Dann sollte man sich also lieber nicht darauf verlassen«, murmelte Paul Ravel. »Ich ruf besser mal Pierre Savary an.«

Savary meldete sich beim ersten Klingeln. »Hallo, Monsieur Chef d’Escadron. Geht es voran?«

»Kaum. Wir haben nördlich von Dinan auf der Autobahn einen Citroën mit den gesuchten Kennzeichen gestoppt. Die Kennzeichen waren richtig, der Wagen war es nicht. Jetzt haben wir zwei ziemlich wütende Klempner in der Polizei in Dinan sitzen. Wie auch immer, wir kennen jetzt jedenfalls das Kennzeichen des Peugeot, ich hoffe also, dass wir noch heute Abend weitere Fortschritte melden können.«

»So wie die Küstenwache den verdammten Trawler verloren hat, haben wir den Wagen verloren. Kein besonders guter Tag für uns, was, Paul?«

»Kann man wahrlich nicht behaupten, Monsieur. Aber noch ist nichts verloren. Jeder Polizist in Frankreich hält nach diesem Peugeot Ausschau.«

»Wie spät ist es jetzt, Paul?«

»Halb zwei.«

»Es ist also sechs Stunden her, dass Monsieur Roche Val André verlassen hat. Er kann mittlerweile überall sein.«

»Ja, kann er. Aber das glaube ich nicht. Ich glaube eher, dass er sich irgendwo auf der Strecke nach Saint-Nazaire befindet, um dort auf Monsieur Foche zu warten, der morgen Nachmittag eintreffen wird.«

»Dem würde ich nicht widersprechen«, erwiderte Savary. »Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

Paul beendete das Handy-Gespräch und rief einen Fahrer, der ihn ins 35 Kilometer entfernte Saint-Malo brachte. Kurz nach zwei traf er dort ein und bat darum, sofort mit den Medizinern der französischen Spezialkräfte zu reden, sobald sie ihre Untersuchung beendet hatten.

Sie hatten nicht lange dazu gebraucht. Beide Männer im Rang eines Colonel waren sich einig: Der tödliche Griff, der sowohl Marcel als auch Raymond zum Verhängnis geworden war, gehörte zu den Praktiken des britischen SAS, der US-Navy-SEALs und der französischen Marinefallschirmjäger.

»Heißt das, der Mann, den wir suchen, muss in einer dieser Einheiten gedient haben?«, fragte Paul.

»Davon können Sie zu 80 Prozent ausgehen«, erwiderte der Arzt.

»Was ist mit den anderen 20 Prozent?«

»Na, ich denke, die Israelis sind auch zu solchen drastischen Vorgehensweisen fähig. Aber im Grunde ist es charakteristisch für den SAS, die SEALs und die Marinefallschirmjäger. Sie werden dafür ausgebildet, sie sind Experten. Ich sollte noch anfügen, dass man dazu über enorme Kraft verfügen muss. Stellen Sie sich vor, wie fest Sie einem Menschen den Hals verdrehen müssen, damit der fast abbricht.«

»Könnte er nicht mit irgendwas darauf eingeschlagen haben – einem Gewehrkolben oder Ähnlichem?«

»Nie und nimmer«, antwortete der Arzt. »Den beiden Männern wurde auf eine Art und Weise der Hals gebrochen, die es erfordert, ihn erst in die eine und dann in die andere Richtung zu drehen. Eine einzige Drehung hätte dafür nicht ausgereicht. Der Mörder ist ein Profi – davon können Sie ausgehen. Die Abschürfungen hinter den Ohren der beiden Toten bestätigen das.«

»Dann war er also wahrscheinlich ein Brite, ein Amerikaner oder ein Franzose?«

»Ja«, erwiderte der Arzt. »Die Israelis habe ich nur erwähnt, weil der Verdacht gehegt wird, der Mörder sei hinter Henri Foche her – der bekanntermaßen über Verbindungen in den Nahen Osten verfügt.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Paul Ravel lächelnd.

»Sie werden in Ihrer neuen Position feststellen, dass wir fast immer mehr wissen als die anderen.«

»Und woher wissen Sie von meinem neuen Dienstrang?«

»Diese Frage habe ich Ihnen gerade beantwortet«, lächelte der Arzt.

»Ich habe noch eine Frage, ich hoffe, Sie können mir dabei weiterhelfen«, sagte Paul Ravel. »Einem der beiden Toten hat unser Mörder die Augen eingedrückt. Warum hat er das getan?«

»Das wäre die klassische Reaktion auf einen Angriff. Es ist die schnellste und tödlichste Reaktion. Der Feind ist auf der Stelle blind, dann kann man ihn ausschalten. Das Gleiche geschah mit dem anderen, Raymond. Es sieht so aus, als hätte der unseren Killer mit der Waffe bedroht, der brach ihm den rechten Arm, entwaffnete ihn damit, dann tötete er ihn.«

»Sie meinen also, Marcel und Raymond haben ihn zuerst angegriffen?«

»Kein Zweifel. Wir haben auch festgestellt, dass der Mann mit dem gebrochenen Arm einen schweren Tritt gegen die Hoden erhielt. Die Schwellung ist noch immer zu sehen.«

»Und was bedeutet das?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber wenn Sie meine Meinung hören wollen: Offensichtlich richtete einer der beiden die Waffe auf den Schweizer, der reagierte, indem er ihm den Arm brach und mit großer Wucht in die Eier trat. Darauf ging der Angreifer zu Boden. In diesem Moment, stelle ich mir vor, griff der zweite ein, weil er dummerweise seinem Freund zu Hilfe eilen wollte. Aber gegen diesen Typen hatte er keine Chance. Er rammte Marcel die Finger in die Augen und brach ihm das Genick, sodass er auf der Stelle tot war.«

»Großer Gott! Und dann?«

»Na, er konnte Raymond ja schlecht am Leben lassen, schließlich hätte der ihn ja identifizieren können. Also tötete er ihn auf die gleiche Weise und warf beide Leichen über die Mauer auf den Strand.«

»Und wer warf die Pistole über die Mauer?«

»Keiner. Die flog Raymond aus der Hand, als der Killer ihm den Arm brach, wahrscheinlich genau dort auf der Mauerkante.«

»Woher zum Teufel wissen Sie das alles – die Verhaltensweisen, die Methoden solcher Leute?«

»Na, Monsieur, ich hab das alles auch mal ziemlich gut gekonnt, bevor ich mit dem Medizinstudium angefangen habe.«

»Sie waren bei den Marinefallschirmjägern?«

»Das waren wir beide. Die rekrutieren nicht irgendwelche x-beliebigen Ärzte, wissen Sie?«

»Offensichtlich nicht«, lachte Paul. »Meine Herren, Sie waren mir eine große Hilfe. Eines noch – könnte eine ganz gewöhnliche Person solche Dinge lernen, vielleicht durch einen Freund, der bei den Spezialkräften gewesen ist?«

»Auf keinen Fall. Dazu braucht man Jahre. So was lernt man nur, wenn man endlos mit solchen Männern trainiert. Normalsterbliche haben weder die Kraft noch die Geschicklichkeit, vor allem aber haben sie nicht die Kaltblütigkeit, die dafür nötig ist.«

Alle drei schwiegen eine Weile. Dann sagte der höherrangige Arzt leise: »Jede Wette, Ihr Mann diente entweder beim SAS, bei den US-Navy-SEALs oder den Marinefallschirmjägern.«

Ravel brachte die beiden zum Ausgang. »Wo sind Sie denn jetzt gelandet?«, erkundigte er sich noch.

»Am Strand, wie Sie gesagt haben. Wenn Sie noch was wissen wollen – in zwei Stunden sind wir wieder in Paris zu erreichen.«

Zehn Minuten später hörte Ravel das Knattern der Alouette III, die tief über die Porte St. Thomas flog, bevor sie nach Osten in Richtung der französischen Hauptstadt abdrehte.

Ravel überlegte, wie ihm die neuen Informationen bei dem doppelten Mordfall weiterhelfen konnten. Nach fünf Minuten Nachdenken kam er zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich eine Sackgasse war.

Er recherchierte in seinem Computer, googelte den SAS und die SEALs und rechnete die Zahl des Dienstpersonals der kämpfenden Truppe zusammen, die zu einer solchen Tat fähig gewesen wäre. Allein in Großbritannien und den USA kam er auf mehr als 3000 Mann. In Frankreich gab es weitere 1000. Wenn er es auf zehn Jahre hochrechnete, war er bei annähernd 10 000 Personen weltweit, von denen im Moment lediglich 4000 im Dienst waren. Der Rest konnte sich überall aufhalten. Und die Chance, dass ein befehlshabender Offizier in einem Geistesblitz einen seiner ehemaligen Untergebenen erkannte, der nach Frankreich gereist war, um den nächsten Präsidenten umzubringen, war verschwindend gering. Außerdem würden die Amerikaner und Briten sich nicht dazu berufen fühlen, solche Einzelheiten zu ihren geheimsten Kampftruppen herauszugeben.

»Hier sind wir aufgeschmissen«, murmelte er. »Aber ich melde mich mal lieber bei Pierre Savary, um ihm mitzuteilen, was die Ärzte gesagt haben.«

Der Anruf dauerte nur wenige Minuten, weil auch dem bretonischen Polizeichef klar war, dass sie auf diesem Weg nicht weiterkamen. Außerdem fehlte ihnen dafür schlicht und einfach die Zeit. »Sie haben doch nicht vor, die Oberbefehlshaber sämtlicher Spezialkräfte ausfindig zu machen und sie zu befragen, oder?«, kam es von Savary.

»Nein, nein«, erwiderte Ravel. »Das wäre reine Zeitverschwendung. Das sind genau die Leute, die vor Gericht alles abstreiten würden, was in diesem Fall gegen den Angeklagten vorgebracht wird. Von denen bekommen wir höchstens zu hören: ›Ja, ja, der hat mal im SAS gedient, der weiß, wie man so was macht‹, aber sie würden den Teufel tun, um uns zu helfen, dass wir ihn finden.«

Je mehr Savary von Paul Ravel hörte, umso besser gefiel er ihm. »Genau das denke ich mir auch«, sagte er. »Konzentrieren wir uns darauf, den gottverdammten Wagen zu finden. Hoffentlich sitzt der Dreckskerl noch drin.«

»Das bezweifle ich, Monsieur. Aber wenn wir ihn finden, ist das für uns der größte Durchbruch bislang. Ich melde mich dann wieder bei Ihnen.«

Pierre Savary gefiel das »wenn« statt eines »falls«. Es gefiel ihm sehr gut. Mit seiner Selbstzufriedenheit war es allerdings schnell vorbei, als das Telefon sofort nach dem Auflegen erneut klingelte. Es war, dachte er sich, ein wütendes Klingeln.

Henri Foche war alles andere als erfreut. »Haben Sie schon diesen Peugeot gefunden?«, fragte er. »Wenn nicht, muss ich mir nämlich die Frage stellen, warum nicht.«

»Wir haben ihn vor allem deshalb noch nicht gefunden, weil keiner der 100 Polizisten, die ich für diesen Fall abgestellt habe, ihn bislang gesehen hat. Wäre das der Fall gewesen, hätten wir diesen Gunther wahrscheinlich schon hinter Schloss und Riegel.«

»Ich weiß nur, dass er auf einem 20 Meter langen, roten Fischerboot in der Falle sitzt, und plötzlich verschwindet er mitsamt seinem Boot. Und dann können wir seinen Wagen nicht finden, obwohl wir eine der größten und modernsten Polizeiorganisationen Europas haben.«

»Na, Hans Blix hat Saddams Atombombe auch nicht gefunden – und hat ihm das jemand vorgeworfen?«

Henri Foche lächelte. Er und Pierre Savary kannten sich schon lange. Wenn also, davon war er überzeugt, die bretonischen Jungs den Wagen nicht finden konnten, dann musste er verdammt gut versteckt sein.

»Sie verstehen, ich werde wegen dieser Sache langsam nervös«, sagte Foche. »Ich meine, schließlich will er ja anscheinend mich umbringen. Und wenn er nicht völlig blind ist, muss er wissen, dass ich morgen Nachmittag in Saint-Nazaire eine Rede halten werde.«

»Er weiß es bestimmt, Henri«, erwiderte der Polizeichef. »Und ich fürchte, ich habe noch schlimmere Neuigkeiten für Sie – dieser Gunther Marc Roche ist mit großer Wahrscheinlichkeit ein ehemaliges Mitglied von Spezialkräften, entweder der Navy-SEALs, des britischen SAS oder unserer Marinefallschirmjäger. Wir haben uns mit Spezialisten aus Paris kurzgeschlossen. Sie sind davon überzeugt, dass Marcel und Raymond von einem solchen Mann getötet wurden. Ein Zivilist wäre zu solchen Morden nicht in der Lage.«

»Na, dann bin ich schon so gut wie tot. Vielleicht können Sie mir ja sagen, ob irgendjemand vorhat, irgendetwas dagegen zu unternehmen?«

»Wir tun, was wir können, Henri, das wissen Sie. Und wir haben Fortschritte erzielt. Wir wissen, wie der Typ heißt, wir haben seine Adresse; wir haben eine Beschreibung. Sein Autokennzeichen.«

»Vielleicht sollte ich Sie daran erinnern, dass sich das mit jeder Minute ändern kann – sein Name, seine Adresse, die Beschreibung, das Autokennzeichen. Wir haben also so gut wie nichts. Haben die Schweizer schon die Adresse überprüft?«

»Noch nicht. Ich halte Sie auf dem Laufenden.«


Noch während dieses Gesprächs herrschte in der Rue de Bâle in Genf das reinste Chaos. Vor allem vor der Hausnummer 18. Die Polizei hatte beschlossen, die verkehrsreiche Straße westlich des Zentrums der größten Schweizer Stadt vollkommen abzuriegeln. An beiden Enden waren Streifenwagen postiert, dahinter Krankenwagen, falls es zum Einsatz von Gewalt kommen sollte. Keiner wusste, ob Gunther Marc Roche ein bis an die Zähne bewaffnetes Mitglied einer internationalen Gruppe von Attentätern war.

Als die Polizei zuschlug, tat sie es mit aller gebotenen Härte. Insgesamt 15 Polizisten stürmten mit gezückten Maschinenpistolen durch den Vordereingang in das Gebäude. Was bei den drei älteren Damen, die in der dort untergebrachten Filiale der Genfer Kreditanstalt soeben ihre Rente abheben wollten, doch für einiges Entsetzen sorgte.

Der Eingang zur Straße hin wirkte sehr bescheiden und unauffällig, und keiner hatte die Zeit gehabt oder sich die Mühe gemacht, zu überprüfen, was eigentlich dahinter lag. Die Schweizer Polizisten steckten verlegen ihre Waffen weg und entschuldigten sich vielmals für die Belästigung. Sie sprachen mit dem Filialleiter, der erklärte, dass die Bank das gesamte Erdgeschoss gemietet habe, in den drei darüberliegenden Stockwerken befänden sich nur Büros, aber keine Wohnungen. Und von einem Gunther Marc Roche hatte noch nie jemand etwas gehört.

Die Polizei führte eine Routinedurchsuchung des Gebäudes durch, man sprach mit verschiedenen Sekretärinnen und Büroangestellten, aber es bestätigte sich nur, was der Filialleiter bereits gesagt hatte. Es handelte sich um ein Bürogebäude, niemand wohnte hier. Innerhalb von 20 Minuten war die fiktive Adresse von Gunther Marc Roche aufgeflogen.

Der Chef der Genfer Polizei musste schwer an sich halten, um der französischen Polizei in der Bretagne nicht gehörig die Leviten zu lesen und sie aufzufordern, in Zukunft doch etwas mehr Sorgfalt walten zu lassen, damit er seine wertvolle Zeit nicht für solche sinnlosen Aktionen vergeuden müsse. Dann aber schickte er noch nicht einmal einen gewöhnlichen Polizeibericht über die »Razzia«, sondern lediglich eine E-Mail an Chef d’Escadron Paul Ravel. Darin bescheinigte er, dass in der Rue de Bâle 18 kein Gunther Marc Roche und auch sonst niemand wohne, sondern lediglich kleinere Büros untergebracht seien.

Die Meldung aus Genf war Paul Ravel kein Trost. Sie bestätigte nur, was er bereits wusste: Dieser ausgebildete Killer des SAS oder Ähnlichem war ein Meister der Täuschung. Monsieur Laporte allerdings war wohl zu trauen; er hatte wirklich diesen Pass und den Führerschein gesehen.

Insgeheim glaubte er, dass sich die Ermittlungen bald nach Saint-Nazaire verlagern würden. Er war sich sogar ziemlich sicher, dass »Gunther« dahin unterwegs war und irgendwann am späten Nachmittag des morgigen Tags versuchen würde, Monsieur Foche zu töten. Ravels Meinung nach sollte der französische Präsident die Armee zu Hilfe rufen, alles andere würde, soweit er seinen Gegner mittlerweile kannte, völlig nutzlos sein.