KAPITEL ZWÖLF
Kurz nach Mitternacht sperrte Mack die Tür ab. Bis dahin hatte er darauf geachtet, die Tür zum fünften Stock offen zu lassen. Aber das ging schlecht, wenn er ein wenig schlafen wollte. Die verriegelte Tür würde ihm einen kleinen Zeitvorteil verschaffen, falls jemand herein wollte. Er zerlegte das Gewehr, um, falls nötig, sofort die Flucht ergreifen zu können, und nahm den Werkzeugkasten mit sich, als er auf das oberste Regalbrett stieg und dort erfolglos versuchte, es sich bequem zu machen.
Schließlich kletterte er hinunter, griff sich die Lebensmitteltüte und breitete sie oben auf dem Regal aus, brach das Baguette in der Mitte entzwei, legte die Salami strategisch gegen die Perrier-Flasche und schuf sich damit ein denkbar unkomfortables Kissen.
Seit 48 Stunden hatte er nicht mehr geschlafen. Er wäre auch auf einem Karussell eingeschlummert. Es dauerte keine zwölf Sekunden, bis er hoch oben auf dem Regal, den Kopf auf die Salami gebettet, in tiefen Schlaf fiel.
Er träumte lebhaft, auch der Traum, der sich jede Nacht in sein Unbewusstes schlich, ließ sich vom harten Regalbrett nicht abhalten. Erneut musste er hilflos mit ansehen, wie die Diamondhead-Raketen in die Panzer schlugen und Billy-Ray und Charlie bei lebendigem Leib verbrannten. Ihre Schreie hallten im Traum wider, erneut hörte er das Röhren der blauen Flammen, ohne dass er zu seinen Jungs konnte, worauf er schweißgebadet und mit Tränen in den Augen aufwachte. Er rang nach Atem. Klar und deutlich stand ihm wieder das Gesicht vor Augen, das für ihn alle Niedertracht der Welt verkörperte. Das Gesicht von Henri Foche.
Er nahm das provisorische Kissen auseinander und öffnete das Perrier, trank in langen Zügen fast die halbe Flasche leer, ordnete alles neu, legte sich flach auf den Rücken, versuchte sich zu entspannen und an Tommy und Anne zu denken. Diesmal stellten sich angenehmere Träume ein; er hielt sie beide in den Armen, schützte sie, rettete sie, wie er es als SEAL geschworen hatte – für jene zu kämpfen, die nicht für sich selbst kämpfen können.
Gegen vier Uhr, als vom unteren Stockwerk Geräusche zu hören waren, wurde er wach. Er sprang vom Regal und schlich sich zum Fenster. Am Wachhäuschen war nichts zu erkennen, der Lärm unter ihm wurde ebenfalls nicht lauter. Schließlich hörte er, wie das Tor des Lagerhauses zugeknallt wurde, und er sah drei Männer, die auf Stahlkarren zwei große Kisten zum Trockendock 2 zogen, dem Dock, an dem alle Lichter brannten.
Er stieg wieder auf das Regal, fand aber keinen Schlaf mehr. In den folgenden zwei Stunden bis zum Sonnenaufgang dachte er über die unmittelbare Zukunft nach … Was passiert mit Tommy und Anne, wenn ich heute sterben sollte? Mit der Abfindung und Harrys zweiter Million sollte genügend Geld da sein. Aber keiner wird je erfahren, wer ich bin, also werde ich im Friedhof irgendeines französischen Gefängnisses beigesetzt. Als unbekannter Attentäter. Bei dem Gedanken lief ihm – wie jedem US-Navy-SEAL – ein Schauer über den Rücken. Zu den stolzesten SEAL-Traditionen gehörte es, nie jemanden, ob tot oder lebendig, auf dem Schlachtfeld zurückzulassen. Dem SPECWARCOM war es ein Gräuel, und es war die unausgesprochene Angst der kämpfenden Spezialeinheiten: dass ich zurückgelassen werde, dass es keinen Grabstein in den USA gibt, nichts, wo meine Familie und Freunde sich an mich erinnern, an mich denken können, wo sie wissen, was ich für mein Land geleistet habe.
Mack wusste, wie gründlich er seine Spuren verwischt hatte. Niemand in Frankreich hatte auch nur die leiseste Ahnung, wer er war. Wenn Foches Leibwächter oder die Polizei ihn auf der Werft erschießen sollten – was sie sicherlich tun würden, wenn er ihnen die Gelegenheit dazu bot –, wer würde dann kommen und den Leichnam einfordern? Niemand. Weil keiner von ihm wusste außer Harry, und der würde nicht kommen, nicht, wenn er noch einen Funken Verstand hatte. Das hieß, dass er, Lieutenant Commander Mackenzie Bedford von der United States Navy, auf dem Friedhof irgendeines Gefängnisses als unbekannter Mörder bestattet werden würde. Keiner würde kommen. Außer vielleicht, irgendwann einmal, eine Person. Tommy Bedford. Ja, irgendwie würde Tommy ihn finden und kommen. Tommy würde ihn nach Hause bringen.
Aber noch haben die Dreckskerle mich nicht. Erneut versuchte er zu schlafen, döste immer nur kurz ein und verschlief dann aber vollständig den Schichtwechsel um sechs Uhr, als Hunderte von Männern ihren Arbeitsplatz wechselten. Schließlich wachte er Viertel vor sieben auf, als im Osten rosarot die Sonne aufging, deren Strahlen durch das hintere, zum Hafen gelegene Fenster fielen.
Mack kletterte nach unten, führte die leere Perrier-Flasche dem einzigen Verwendungszweck zu, zu dem sie noch zu gebrauchen war, und schob sie danach außer Sichtweite hinter das Regal an der gegenüberliegenden Wand. Er warf einen Blick nach draußen und machte sich sein Frühstück, schnitt die Salami mit dem Fischermesser und aß sie mit Käsescheiben auf gebuttertem Baguette. Er musste zugeben, er hatte selten ein köstlicheres Kissen verspeist. Ohne Radio, ohne Fernsehen, ohne Telefon, sogar ohne Zeitung fühlte er sich plötzlich ziemlich trostlos. Er wusste noch nicht einmal, wie sich die Red Sox geschlagen hatten, und natürlich hätte er nur allzu gern von Tommy und Anne erfahren. Wie lief es in der Klinik? War die Operation bereits vorbei? War sie erfolgreich verlaufen? Wie ging es Tommy? Würde er überleben?
Diese Fragen schossen ihm durch den Kopf, und er wusste, wenn er sie nicht in den Hintergrund drängen konnte, würden sie ihn in den Wahnsinn treiben. Also versuchte er nicht daran zu denken, konzentrierte sich auf seine Aufgabe, die in gewisser Weise ihn und seine Familie sowie Harry und die ganze gottverdammte Stadt retten würde.
Erneut starrte er hinaus aufs Podium und wusste, dass ihm acht Stunden Wartezeit bevorstanden, bevor er in Aktion treten konnte. Das hoffte er jedenfalls. Als er dann aber zum Haupttor sah, schwante ihm, dass sich vielleicht alles sehr viel schneller entwickeln würde, als er gehofft hatte.
Kurz vor neun fuhr ein schwarzer Wagen vor. Der Fahrer sprach kurz mit dem Wachpersonal, worauf der Wagen durchgewinkt wurde und gegenüber dem Podium parkte. Drei Männer stiegen aus, zwei von ihnen waren elegant mit Anzug und Krawatte bekleidet. Der dritte trug schwarze Turnschuhe, eine Freizeithose und eine schwarze Windjacke. Er hatte auch eine Maschinenpistole bei sich und sah aus, als wüsste er damit umzugehen. Mack wusste nicht, dass er damit die Ankunft von Henri Foches neuem Sicherheitschef Raul Declerc miterlebte.
Ebenfalls wusste er nicht, dass der zweite Mann der bretonische Polizeichef Pierre Savary war. Der dritte war Chef d’Escadron Paul Ravel, der Monsieur Laporte die Wahrheit entlockt hatte. Savary hatte es als höfliche Geste empfunden, den Polizisten, der immerhin die Jagd nach dem Mörder der beiden Männer am Strand von Val André leitete, mit zur Werft einzuladen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Täter hier auftauchte, war enorm hoch.
Mack sah die drei Männer langsam zum Hafenbecken gehen, wo sie das Trockendock in Augenschein nahmen, bevor sie, in ein Gespräch vertieft, in Richtung der Anlegestelle schlenderten. Er hatte das starke Gefühl, dass sie über ihn sprachen. Abgeschottet in seinem Lagerraum, ohne Zugang zur Welt draußen, wünschte er sich erneut, er könnte ein Radio anstellen, um zu hören, was vor sich ging. Dieser Luxus war ihm nicht vergönnt.
Hätte er ein Radio besessen und es auf irgendeinen Sender der westlichen Welt, irgendeinen Sender in Großbritannien eingestellt, hätte er so etwas wie das Folgende zu hören bekommen:
Laut der französischen Tageszeitung Le Monde steht Frankreich ganz im Zeichen der landesweiten Fahndung nach dem Mörder der beiden Leibwächter von Henri Foche. Die Polizei fürchtet um das Leben des Politikers, der beste Aussichten hat, der nächste Präsident Frankreichs zu werden.
Die Suche konzentriert sich im Moment auf Saint-Nazaire, wo Henri Foche heute Nachmittag eine Wahlkampfrede halten wird. Auf Anordnung des französischen Präsidenten wurden tausend bewaffnete Sicherheitskräfte zu der Veranstaltung abberufen.
Offizielle Stellen vermuten mittlerweile, dass der Mörder einem internationalen Kartell angehört, das möglicherweise Verbindungen zu El-Kaida hat. Der Mordversuch könnte ein Racheakt für die vor einem Monat erfolgte Verhaftung von vier muslimischen Extremisten in Algier sein.
Die französische Polizei ist überzeugt, den Mann zu fassen. Er soll Schweizer Staatsbürger sein, groß, mit einem schwarzen Vollbart, und nennt sich angeblich Gunther.
Aber Mack hatte kein Radio und wusste nichts von dem Netz, das sich immer enger um ihn zusammenzog.
Unten an den Kais hatte sich Paul Ravel etwas von den anderen entfernt, um sich selbst ein Bild der Umgebung zu machen. Raul skizzierte unterdessen seine Strategie. »Monsieur Savary«, sagte er, »es hat überhaupt keinen Sinn, jetzt schon Männer in die Gebäude am Platz zu schicken. Dafür ist es viel zu früh, wahrscheinlich werden wir noch nichts finden. Alles hängt vom richtigen Zeitpunkt ab. Es nützt nichts, diese Gebäude jetzt für sauber zu erklären, wenn sich dann um halb fünf der Attentäter darin aufhält. Deshalb sollten wir mit der Durchsuchung so spät wie möglich anfangen. Die Gebäude müssen um 16 Uhr 45 sauber sein.«
»Da haben Sie recht«, antwortete Savary. »Die Busse werden aber bald eintreffen. Wo wollen Sie die Jungs postieren?«
»Wir sollten uns, ausgehend von einem Fünfhundert-Meter-Radius um das Podium, nach außen hin vorarbeiten«, sagte Raul. »Alles wird durchsucht. Wir haben eine Menge Leute, die hoffentlich einigen Radau veranstalten. Wenn wir damit unseren Killer aufscheuchen, hat er zwei Möglichkeiten: Entweder flüchtet er und verschwindet, oder er rückt näher heran. Wenn er abhaut, haben wir wenigstens Monsieur Foches Leben gerettet. Wenn er näher rückt, sind die Chancen aber ziemlich hoch, dass wir ihn zu fassen kriegen – allein schon wegen unserer zahlenmäßigen Überlegenheit.«
»Klingt ganz so, als hätten Sie Erfahrung mit solchen Einsätzen«, sagte Savary.
»Ich hab so was schon zweimal gemacht, jedesmal bei nahöstlichen Herrschern. Hier sollte es einfacher sein. Wir arbeiten nach einem sehr präzisen Zeitplan, außerdem schlendert Monsieur Foche auch nicht auf der Werft herum und wartet darauf, erschossen zu werden.«
»Sobald die Polizisten da sind, werden sie also auf die äußeren Bereiche verteilt?«
»Genau«, antwortete Raul. »Meine Jungs fungieren dann als Wachposten. Zwei am Haupteingang zu jedem Gebäude am Platz. Die Polizei sollte sich auf das unmittelbare Umfeld des Podiums konzentrieren. Das heißt, sie kriechen unten rein, suchen nach Sprengsätzen, inspizieren jeden Winkel von dem verdammten Ding. Dann gilt es die Außenmauern zu sichern. Mir ist aufgefallen, dass man von der Straße aus leicht auf die Mauer steigen und von dort Monsieur Foche wunderbar eine Kugel in den Hinterkopf setzen kann.«
»Da gilt bereits absolutes Halteverbot. Wollen Sie auch ein absolutes ›Gehverbot‹?«
»Absolument!«, erwiderte Raul, sichtlich bemüht, sich einen französischen Anstrich zu verpassen. »Am besten sperren Sie die Straße gleich ganz ab. Dann kann keiner mit einem MG auf seinem Pickup vorbeifahren.«
»Gut. Ich werde also die ganze Straße sperren lassen.« Er zog sein Handy aus dem Jackett und gab die Anweisungen durch.
»Was bin ich froh, dass Sie hier sind, Raul«, sagte er. »Vergessen Sie eins nicht – für Sie ist es eine ernste Sache, in meinem Fall aber hängt meine Karriere, mein ganzes Leben daran. Wenn wir den Dreckskerl finden und eliminieren, wird alles Lob Ihnen zufallen. Sie waren der Erste, der von der Sache gehört hat, Sie haben daraufhin zum Wohle der französischen Republik schnell gehandelt. Sie haben Foche darüber in Kenntnis gesetzt, Sie sind eingeflogen und kümmern sich persönlich um Foches Sicherheit. Man wird Sie als Held verehren. Wenn dieser Kerl Foche aber erschießt, wird man mir die Schuld dafür geben.«
»Meiner Meinung nach«, sagte Raul, »sollten wir verdammt noch mal aufpassen, dass er uns beide nicht auch noch erschießt.«
Der Polizeichef nickte. In diesem Augenblick trafen die ersten vier Busse mit jeweils 50 bewaffneten und uniformierten Sicherheitskräften ein – halb Polizei, halb Militär, aber allesamt Experten auf ihrem Gebiet. Sie stiegen aus, stellten sich in Zehnerreihen zu je zwanzig Mann auf und nahmen Habachtstellung an.
Savary sprach kurz mit den vier Befehlshabern, erzählte ihnen vom 500-Meter-Radius, befahl, Aufstellung zu nehmen und sich von dort aus lautstark nach außen vorzuarbeiten. »Viel Geschrei, viel Geplärre«, befahl er. »Wir wollen den Schweinepriester aufschrecken, falls er hier sein sollte. Sie haben die Beschreibung des Mannes?«
»Ja, Monsieur. Groß, schwarze Haare, schwarzer Vollbart. Beschreibung wurde von der britischen Polizei, französischen Küstenwache, der Polizei in der Bretagne und einem Gebrauchtwagenhändler in Val André bestätigt. Der Verdächtige hört auf den Namen Gunther.«
»Auf das Letzte würde ich mich nicht verlassen«, riet Savary. »Es ist mit ziemlicher Sicherheit ein falscher Name.«
»Aber er ist Schweizer.«
»Vielleicht«, erwiderte Savary. »Beziehen Sie Position. Jeden, den Sie mit einer Feuerwaffe antreffen, dürfen Sie auf der Stelle erschießen.«
»Jawohl, Monsieur.«
Eine halbe Stunde später trafen in einem Kleinbus direkt vom Flughafen Rauls fünf Ex-Fremdenlegionäre sowie die beiden SAS-Veteranen ein; beide stammten aus Südwales, beide waren Mitte dreißig. Sie wurden zu drei Zweier-Gruppen aufgeteilt, der siebte wurde dazu abgestellt, die unmittelbare Umgebung des Podiums abzusuchen und als eine Art vorderste Speerspitze der französischen Polizei zu fungieren, falls es hart auf hart kommen sollte. Nach Rauls Einschätzung würde der potenzielle Attentäter mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit versuchen, so nah wie möglich an Henri Foche heranzukommen. Auch einen Selbstmordattentäter wollte man nicht ausschließen, vor allem, wenn El-Kaida die Finger mit im Spiel hatte.
Um zwei Uhr fand der nächste Schichtwechsel statt. Die Männer, die um sechs ihre Arbeit aufgenommen hatten, verließen allmählich die Werft. Mack nahm zu der Zeit sein Mittagessen zu sich. Die Speisenfolge bot wenig Abwechslung, nur das Arrangement änderte sich; er legte die köstlichen Käsescheiben auf das gebutterte Baguette und darauf nun auch gleich die Salami, die er wieder mit dem Fischermesser schnitt. Das schmeckte noch besser als die Salamischeiben direkt auf dem Baguette, wie er sie zum Frühstück verdrückt hatte. Er lehnte an der Wand neben dem Fenster, kaute nachdenklich und beobachtete die langen Reihen der Arbeiter, die sich vor dem Haupttor versammelten.
Am Eingang standen zwei Streifenwagen, und alle Arbeiter mussten eine Reihe von sechs Wachmännern passieren, die sich die Firmenausweise zeigen ließen. Keiner, der bei Saint-Nazaire Maritime arbeitete, konnte sich daran erinnern, jemals seinen Firmenausweis vorgezeigt zu haben.
Mack wusste nicht zu sagen, ob man mit seiner Anwesenheit auf der Werft rechnete und das alles seinetwegen aufführte, oder ob es reine Routine war, die übliche Vorgehensweise bei einer wichtigen Wahlkampfrede.
Schließlich war Monsieur Foche nicht der erste Politiker, der zu den Arbeitern hier sprach. Der einzige Unterschied war, dass in den vergangenen Jahren ausnahmslos Vertreter der linken Parteien die Arbeiter dazu aufgefordert hatten, sich gegen die ausbeuterischen Verhältnisse zur Wehr zu setzen.
Mack kam zu dem Schluss, dass die Polizei von ihm und seinem Vorhaben wissen musste. Was ihn nicht sonderlich beunruhigte, schließlich hatte er von Anfang an sehr deutliche, aber falsche Spuren hinterlassen, die zu einem Killer führen würden, den es gar nicht gab. Einem großen, vollbärtigen Killer mit dem Namen Gunther. Sollte die Polizei aber den Peugeot gefunden haben, musste sie jetzt annehmen, dass er sich entweder auf der Werft aufhielt oder zumindest versuchen würde, hier hereinzukommen.
Erneut beobachtete er die Arbeiter, die durch die Sicherheitsschleuse gingen, und überlegte, wie lange es dauern würde, bis die Polizei mit der unvermeidlichen Durchsuchung des Lagerhauses beginnen würde – ob er sich hier verstecken konnte, ob die Wachen lediglich einen oberflächlichen Blick in den fünften Stock werfen würden. Würde er von einem, von zwei oder gar drei Wachen entdeckt, wäre das zwar »lästig«, aber nicht lebensbedrohlich.
Um halb drei befanden sich zehn Busladungen mit Sicherheitskräften auf der Werft. Die anderen zehn wurden in der Stadt abgesetzt, vor allem entlang der Kais in der Umgebung von Saint-Nazaire Maritime. In Vierergruppen durchkämmten sie dort die Anlegestellen, Läden, Parkplätze und Wohnhäuser, stellten Fragen und suchten nach dem vollbärtigen Mörder.
Auf der Werft zog sich das Netz immer enger zusammen. Von Savary und Raul eingewiesen, machten sich die Kräfte daran, die Gebäude zu durchsuchen, und ließen in ihnen jeweils kleinere Wacheinheiten zurück. Mack beobachtete sie von oben und vertrieb sich die Zeit damit, die Männer vom Wachdienst in ihren leuchtend gelben Jacken zu zählen, auf deren Gewehren sich das Nachmittagslicht fing.
Kurz nach halb drei wurde vor dem eleganten Stadthaus in einer der teuersten Gegenden von Rennes der Polizeikonvoi zusammengestellt, der Henri Foche nach Saint-Nazaire begleiten sollte. Vier bewaffnete Beamte waren an der von Bäumen gesäumten Einfahrt postiert, einer stand an der Tür, ein weiterer innen im Flur. Dazu kamen vier Motorradfahrer, die mit Blaulicht auf der nun abgesperrten Straße warteten. Foches Mercedes-Benz wurde vorn und hinten von Streifenwagen abgeschirmt. Alle vier Insassen, selbst der Fahrer, waren bewaffnet; die Wagen warteten mit laufenden Motoren und blitzenden Blaulichtern.
Henri Foche und seine Frau tranken ihren Kaffee aus, und Claudette bat ihn zum wiederholten Mal, »diesen verrückten Ausflug zu der dämlichen Werft« abzusagen, »wo ein Durchgeknallter nur darauf wartet, dich und vielleicht auch mich zu erschießen.«
»In der Bretagne wird mich keiner umbringen«, knurrte er. »Die Werftarbeiter zählen auf mich. Nichts wird mich von der Rede heute Nachmittag abbringen. Es geht um die Menschen dort! Und um Frankreich.«
Claudette rollte mit den Augen. »Mir ist einfach schleierhaft, warum du das machst – dass du dich freiwillig in Gefahr begibst und mich auch noch mitnimmst.«
»Die Gefahr ist minimal. Die Hälfte der französischen Sicherheitskräfte ist nach Saint-Nazaire verlegt worden. Und mit Raul Declerc habe ich einen der besten Profikiller der Welt an meiner Seite. Außerdem arbeitet er mit der französischen Polizei zusammen. Dafür habe ich gesorgt. Er ist mit Savary schon auf der Werft.«
»Selbst Savary wollte die Rede abblasen.«
»Claudette, die Arbeiter, die Leute, die zu mir aufschauen, müssen hören, was ich vorhabe. Sie wollen hören, dass ihre Arbeitsplätze sicher sind und dass ich sie schütze. Mit unseren eigenen Händen werden wir Frankreich aufbauen. Pour la France! Toujours pour la France!«
»Gut, wenn du also vorhast, uns heute umzubringen, dann kann ich dir ja sagen, dass vor etwa zwei Stunden deine kleine Schauspielerin aus Paris wieder angerufen hat. Ich weiß, dass sie es war, auch wenn sie gleich wieder aufgelegt hat. Schick ihr doch ein Kondom, auf dem Vive la France! steht.«
»Halt den Mund. Ich sehe sie nicht mehr. Und wechsel nicht ständig das Thema. Das ist ein großer Tag für mich. Ich muss den Versprechungen, die ich meinen Wählern mache, treu bleiben.«
»Wow! Treu bleiben! Und das von dir, Henri Foche, der du jedem und allem untreu bist. Pour la Bretagne, pour la France!«
»Claudette, für die Frau des kommenden Präsidenten hegst du ziemlich liederliche Gedanken.«
»Und für den kommenden französischen Präsidenten führst du ein ziemlich liederliches Leben. Aber eines Tages wird es dich einholen.«
Foche stierte sie nur an und konnte nicht begreifen, dass sie seine wahre Größe nicht sehen wollte. Er schüttelte den Kopf und wusste nicht, wie er auf solche Dummheiten noch reagieren sollte.
In diesem Augenblick rief der Wachposten von der Tür: »Monsieur Foche, die Polizei meint, wir sollten allmählich aufbrechen. Es sind alle bereit.«
Henri und Claudette erhoben sich vom Tisch. Foche nahm sich sein Jackett, seine Frau trat vor den Spiegel und bürstete sich die Haare. Zwei Minuten später saßen sie im Fond des Mercedes. Der Konvoi bewegte sich langsam durch die Straßen der Stadt in Richtung Südwesten, dann ging es auf die N137, die Autobahn nach Nantes und weiter entlang der Loire nach Saint-Nazaire.
Foche war nicht zum Reden zumute. Zuweilen verabscheute er seine Frau, die er, wie er nur allzu gut wusste, schlecht behandelt hatte. Aber angesichts seiner Bedeutung, seiner Großzügigkeit, die ihr ein geradezu herzogliches Leben ermöglichte, müsste sie doch darüber hinwegsehen können. Schließlich war sie nichts anderes als ein ehemaliges Flittchen, und nach Foches Ansicht wog das stärker als jedes Ehegelübde.
Es gab, glaubte er, ein universales Naturgesetz, das die Ordnung der Dinge garantierte, und er, Henri, hatte sich ein Rasseweib geangelt, das in jeder Hinsicht unter ihm stand. Alles, was er von ihr wollte, war Dankbarkeit, grenzenlose Dankbarkeit. Nicht Aufsässigkeit und hintertriebene Bemerkungen. War das zu viel verlangt?
Der Konvoi raste nach Süden. Die beiden Motorräder an der Spitze hatten die ganze Zeit das Blaulicht eingeschaltet. Die anderen Polizeifahrzeuge sollten Blaulicht und Sirenen erst aktivieren, wenn sie die Vororte von Saint-Nazaire erreichten. Das gehörte zu Pierre Savarys Plan, um den Attentäter einzuschüchtern.
Foche las das Manuskript seiner Rede und machte sich gelegentlich Anmerkungen. Claudette versuchte zu schlafen, obwohl sie insgeheim fürchtete, es könnte ihr letzter Tag auf Erden sein. Mein Gott, wie hasste sie Henri! Aber in ihrem innersten Wesen war sie eine äußerst treue Seele. Wenn er sich in den Rachen des Todes werfen und sie dabeihaben wollte, würde sie mit ihm gehen.
Gegen 16 Uhr erreichten sie Nantes. Der Polizeibeamte auf dem Beifahrersitz telefonierte mit Raul Declerc und gab ihre Geschwindigkeit und Position durch. Und Raul ordnete auf der Werft die letzte Durchsuchung der Gebäude an, die unmittelbar am Platz standen.
Vor allem machte ihm das Trockendock Sorgen. Dort, auf dem Rumpf eines neuen Frachters, hielten sich viele Arbeiter in blauen Overalls auf, die alle gleich aussahen. Stahlarbeiter, Lackierer, Installateure und Elektriker. Die Männer arbeiteten auf den Aufbauten, Dutzende weitere im Rumpf. Woher zum Teufel sollte er wissen, ob nicht einer irgendwo im Trockendock eine Waffe versteckt und nun vorhatte, auf den Gaullistenführer zu feuern?
Diese Abschnitte beunruhigten ihn. Die abgelegenen, weiter entfernten Stellen würden akribisch durchsucht werden und waren leichter zu kontrollieren. Um den Hauptplatz herum begannen sich nun die Sicherheitskräfte in Mannschaftsstärke zu versammeln. Ihr Befehl war ganz klar: jeden Quadratzentimeter der Umgebung nach einem versteckten Attentäter oder einer Waffe zu durchforsten. Die Unterseite des Podiums sollte auf Rauls Befehl hin alle 20 Minuten mit Metalldetektoren abgesucht werden. Die Straße hinter der Werft war für Autos und Fußgänger gesperrt.
Wenn an diesem heißen Sommernachmittag Henri Foche das Podium betrat, würde er von einem Kordon aus 40 Sicherheitskräften umgeben sein. Niemand in ganz Frankreich würde an diesem Tag schwieriger umzubringen sein – davon waren Raul und Pierre Savary überzeugt.
Oben im fünften Stock des Lagerhauses begann Mack Bedford sich umzuziehen. Den Plan, sich als Arbeiter wieder davonzustehlen, hatte er fallenlassen, weil es dafür zu spät war. Foche würde in einer halben Stunde eintreffen. Mack schlüpfte aus seinem blauen Overall und warf ihn hoch auf das Regal. Er wusste nun nicht mehr, wohin mit der Taschenlampe, denn der SEAL-Taucheranzug hatte nur eine schmale Lasche am Oberschenkel für das Kampfmesser.
Er legte die Jeffery-Simpson-Perücke, die Brille und das Bärtchen ab und stopfte sie in die wasserdichte Innentasche des Taucheranzug-Oberteils. Dann holte er den Werkzeugkasten vom Regal und setzte das Gewehr zusammen, das Mr. Kumar in Southall so hingebungsvoll gebaut hatte.
Er legte alle sechs chromüberzogenen Patronen ein, eine davon gleich direkt in die Kammer. Er schob das Teleskopvisier auf, schraubte den Schalldämpfer an den Lauf und hielt das Gewehr in Schussposition, liebkoste es fast, während er den Schaft gegen die Schulter drückte und durch das Visier sah, das Gewehr balancierte und den Körper ins Gleichgewicht brachte für den Schuss, der auf der ganzen Welt widerhallen würde.
Erneut machte er sich im Werkzeugkasten zu schaffen, holte das Dräger heraus, das Kreislauftauchgerät, und schnallte es sich nicht wie üblich an die Brust, sondern auf den Rücken, wo es ihn nicht behinderte. Dann streifte er sich die Kapuze über den Kopf.
Er holte die große Taucherbrille heraus und setzte sie sich auf die Stirn, damit er sie sofort nach unten ziehen konnte, sobald er im Wasser war. Das letzte Mal, als er das getan hatte, hatte er gerade Saddams Bohrinsel gestürmt und zerstört.
Dann nahm er das Angriffsboard heraus und legte bei allen drei Instrumenten – der Uhr, dem Kompass und dem GPS – die Batterien ein, die er im Haushaltswarenladen gekauft hatte, bevor er die Instrumente wasserdicht festschraubte. Als er damit fertig war, schob er Gewehr, Werkzeugkasten und Angriffsboard in das Regal hinter der verschlossenen Tür.
Es würde nicht mehr lange dauern, bis er sie aufschloss. Wenn sie das Gebäude durchsuchten, was unweigerlich geschehen würde, und auf eine verschlossene Tür trafen, würden sie sie aufsprengen und in voller Mannschaftsstärke hereinstürmen. War die Tür aber wie alle anderen offen, war die Chance groß, dass lediglich die zwei oder drei Mann hereinkamen, die mit der Durchsuchung betraut waren – und nichts vermuteten und daher nicht besonders gründlich vorgingen.
Mack ging wieder ans Fenster und sah hinunter. Er entdeckte zwei der drei Personen, die sieben Stunden zuvor mit der Limousine angekommen waren. Sie standen im Zentrum einer großen Ansammlung von Sicherheitskräften und warteten anscheinend auf Befehle. Mack sah, wie um 16.30 Uhr einer der beiden einen Anruf auf seinem Handy entgegennahm.
Foche sei noch zehn Kilometer von der Werft entfernt, wurde Raul informiert. Sofort ordnete er die Durchsuchung des großen Lagerhauses an, das direkt gegenüber vom Podium lag. Er hatte es sich bis zum Schluss aufgespart, weil es am leersten und damit am leichtesten zu durchsuchen war. Es hatte insgesamt zehn Geschosse. 15 Mann wurden ins Gebäude befohlen. Zwei Fremdenlegionäre wurden am Haupteingang postiert und achteten darauf, dass in der Zwischenzeit keiner herauskam oder das Gebäude betrat.
Mack sah, wie Bewegung in die Wachen kam. Er wandte sich vom Fenster ab und stieg das Regal zu dem kleineren Fenster hinauf, das hoch über dem Seitengang lag, der zur Mauer des Hafenbeckens führte. Leise öffnete er das Fenster und spähte nach draußen, hinunter zur Tür an der Gebäudeseite, über die er am Abend zuvor eingedrungen war.
Die Sicherheitskräfte betraten das Lagerhaus. Mack schloss das Fenster, stieg hinunter und lauschte. Von den unteren Stockwerken war der Lärm der Männer zu hören, die sich verteilten und die einzelnen Stockwerke durchsuchten. Er schloss die Tür auf und drückte sich gleich daneben flach gegen die Wand. Drei, vier Minuten vergingen, bevor die Männer, die den ersten Stock durchsucht hatten, sich zu ihrem nächsten Ziel aufmachten und sich dem fünften Stock näherten.
Draußen klingelte erneut Rauls Handy; ihm wurde mitgeteilt, dass Henri Foche und Claudette nur noch drei Kilometer von der Zufahrt zur Werft entfernt waren.
In diesem Augenblick ging die Tür zu Mack Bedfords Stockwerk auf, und der Lauf einer Maschinenpistole schob sich vorsichtig in den Raum. Mack konnte es nicht sehen, da die sehr breite Tür weit aufgedrückt wurde. Wäre er nicht gewesen, hätte sie flach an der Wand angelegen; so lag sie flach an seinem Brustkorb an.
Drei bewaffnete Männer kamen herein, sicherten sich gegenseitig und standen mit dem Rücken zueinander. Der Raum war alles andere als lichtdurchflutet, aber ausreichend hell, um die Regale und Ecken leicht einsehen zu können.
»Keiner da«, rief einer auf Französisch. »Alles leer.« Keiner der drei bemerkte den Werkzeugkasten und das zusammengebaute Gewehr, die in der von der Tür verdeckten hintersten Ecke abgelegt waren.
»Gut, Jungs«, sagte der Vorgesetzte. »Fünfter Stock klar.« Draußen rief ein Wachposten nach unten. »Fünfter Stock klar. Alles leer.«
Die ersten beiden zogen sich schon zur Tür zurück, als dem dritten plötzlich der blaue Overall auffiel, der hoch oben auf dem Regal lag. »Ist da was?«, fragte er.
»Na ja, zumindest kein Attentäter«, antwortete einer der anderen. »Soll ich ihn runterholen?«
»Nur zu«, erwiderte sein Kollege.
Der Mann ging zum Regal, legte das Gewehr ab und begann hinaufzusteigen. Dabei fiel sein Blick auf Mack Bedford, der eingeklemmt hinter der Tür stand.
Er stieß einen lauten Schrei aus, der jedoch sofort abgewürgt wurde, als Macks eiserne Faust sich um seinen Hals schloss und ihn nach unten zog. Und dann führte er einen der brutalsten Angriffe im SEAL-Repertoire durch, einen Schlag mitten auf die Stirn, ausgeführt mit dem stumpfen Messergriff, der die Knochen splittern ließ. Darauf folgte ein Aufwärtshaken mit dem offenen Handballen, der dem Gegner die Nasenwurzel ins Gehirn trieb.
Das dauerte fünf Sekunden. Die Tür schwang wieder auf. Die anderen beiden hatten den unterdrückten Schrei gehört und kamen in den Raum gestürmt. Mack Bedford hatte sich mittlerweile das Gewehr des Toten geschnappt, hielt es am Lauf umfasst und verpasste dem ersten einen Baseball-Schlag gegen den Schädelknochen hinter dem rechten Ohr, womit er das Nervenzentrum zerschmetterte und ihn auf der Stelle tötete. Der dritte fuhr herum, hatte das Gewehr im Anschlag und wollte eine Salve auf Mack Bedford abgeben. Es wäre ihm fast geglückt. Mack jedoch hatte bereits die linke Hand am Lauf, schwang die Waffe von sich weg, sodass der andere nach rechts geworfen wurde und nur mehr eine Armeslänge von Mack entfernt war, gerade weit genug, um ihm mit dem Fischermesser in einer schnellen, punktgenauen Bewegung die Kehle durchzuschneiden. Kein Zivilist konnte so töten; das war Nahkampf, wie er im SPECWARCOM gelehrt wurde.
Mack eilte zur Tür. Das Treppenhaus war leer, der Wachposten hatte seine Meldung gerufen und war zum sechsten Stock weitergezogen. Leise schloss Mack die Tür. Nur 17 Sekunden waren vergangen, seitdem der Erste in den Raum getreten war. Jetzt sperrte er die Tür ab. Gleichzeitig hörte er das Heulen der Polizeisirenen, als Henri Foches Konvoi sich dem Werfttor näherte.
Bislang waren die drei Wachen nicht vermisst worden. Alle hatten die Bestätigung des Wachpostens für den fünften Stock gehört, alle waren noch mit der Durchsuchung der restlichen Stockwerke beschäftigt. Bis auf weiteres war Mack hinter der schweren Tür in Sicherheit.
Er stellte den Werkzeugkasten und das Angriffsboard ans rückwärtige Fenster. Dann griff er sich Prenjit Kumars Scharfschützengewehr, das österreichische SSG-69, und ging zum Sims des offenen Fensters an der Frontfassade. Am Haupteingang sah er nun deutlich die Motorradfahrer der Polizei. Sie sprachen mit den beiden Männern, die mit der Limousine eingetroffen waren.
Der Konvoi wurde durchgewinkt, der Wagen fuhr so weit vor, dass Foche und Claudette direkt vor dem Aufgang zum Podium aussteigen konnten. Genau in diesem Augenblick war niemand um ihn herum, was in sechs Sekunden ganz anders sein dürfte. Raul stand links hinter ihm. Savary wies die Polizisten ein, die an der Rückseite der Bühne einen dichten Kordon bilden sollten.
Mack ging in die Hocke, das Gewehr lag ruhig auf dem Fenstersims. Alle sahen zu Foche und seiner bezaubernden Frau. Und dann hatte Mack ihn mitten im Fadenkreuz seines Teleskopvisiers. Ein klarer, sauberer Schuss. Besser würde er ihn nicht mehr bekommen. Eine Sekunde lang setzte Macks Herz aus, dann zog er den Abzug durch.
Das Hochgeschwindigkeitsgeschoss verließ den hervorragend kalibrierten, verkürzten Lauf und traf Henri Foche etwas links versetzt auf der Stirn. Tief in seinem Gehirn explodierte es und riss ein klaffendes, zwölf Zentimeter breites Loch in den Hinterkopf, aus dem Blut und Gewebereste geschleudert wurden.
Mack zog das Gewehrschloss zurück und gab einen weiteren Schuss ab. Die Kugel traf Foche im Rückwärtsfallen, drang genau durch das scharlachrote Tuch in seiner linken Brustseite und riss ihm das Herz auseinander. Der Gaullistenführer erfuhr nie, was ihn getroffen hatte.
»Das war für dich, Charlie«, stieß Mack Bedford hervor. »Vom gottverdammten Euphrat bis hier in Saint-Nazaire, das war für dich.«
Und dann sputete er sich, zerlegte das Gewehr, passte die Einzelteile in den Werkzeugkasten und knallte den Deckel zu. Er brachte das Dräger nach vorn und schnallte es sich eng an die Brust. Gemäß seiner Überzeugung, dass eine unversperrte Tür keine Aufmerksamkeit erregte, löste er wieder den Riegel. Sollten ein oder zwei Männer die Tür probieren, und sie ließ sich öffnen, würde keiner Alarm schlagen. War sie hingegen verschlossen, würden bei einer so schweren Stahltür sofort an die dreißig gewehrschwingende Männer mit Sprengschnüren oder gar Dynamit anrücken.
Unten auf dem Platz herrschte mittlerweile ein einziges Chaos. Nur die in unmittelbarer Nähe zu Henri Foche wussten überhaupt, dass er tödlich getroffen worden war. Zu ihnen gehörte Pierre Savary. Claudette, treu bis in den Tod, hielt ihren toten Ehemann in den Armen, während Raul Declerc bereits bei den Problemen war, die er auf sich zukommen sah.
Savary rief persönlich den Krankenwagen. Die Menge drängte sich um die schreckliche Szene am Podiumaufgang. Henri Foches blutüberströmter Leichnam war nach hinten gegen den Wagen geworfen worden, und Claudette, selbst von Blutspritzern bedeckt, kniete am Boden, hielt seinen Kopf und sagte immer wieder: »Warum sind wir bloß hergekommen? Kann mir jemand sagen, warum wir hergekommen sind!«
Raul Declerc starrte zum Lagerhaus und ließ den Blick über die Fassade schweifen. Er brauchte eine ganze Minute, bis ihm das offene Fenster im fünften Stock auffiel. 99 Prozent der Versammelten hatten noch immer keine Ahnung, was überhaupt geschehen war. Raul wusste, er hatte noch Männer im Gebäude. Er schob sich durch die nach wie vor anwachsende Zuschauermenge, und um 16.45 Uhr betrat er den Seiteneingang zum Lagerhaus. Die Wachen am Vordereingang hatten anscheinend nichts gehört, denn sie rührten sich noch immer nicht.
Raul hatte in seinem früheren Leben als Reggie Fortescue nie bei den Spezialkräften gedient, aber Kampfeinsätze der Scots Guards im Irak miterlebt, außerdem wusste er besser als jeder Zivilist mit schwierigen Situationen umzugehen. Vor allem dann, wenn er eine Maschinenpistole in Händen hielt.
Er trat ins Treppenhaus und stieg die Stufen hoch. Seine Abordnung, die er zur Durchsuchung reingeschickt hatte, hielt sich noch in den oberen Stockwerken auf. Als er den fünften Stock erreichte, hielt er inne. Das musste das Stockwerk mit dem offenen Fenster sein.
Er öffnete die Tür, drückte sie auf, ging hinein und bemerkte zunächst gar nicht die schwarzgekleidete Gestalt an der Rückwand neben dem Fenster. Instinktiv eilte er zum offenen Fenster an der Frontfassade und sah hinaus. Dann drehte er sich um und entdeckte Mack. Er richtete die Maschinenpistole auf die Brust des Froschmanns.
»Keine Bewegung!«, rief er.
»Gut, Kumpel«, antwortete Mack ganz ruhig. »Du hast mich. Alles in Ordnung. Ich bin nicht bewaffnet.«
Raul Declercs Gedanken rasten. Er hatte den Attentäter, er hatte ihn ganz allein gestellt. Wenn er ihn mit vorgehaltener Waffe nach unten führte, würde ihm niemand eine hohe Belohnung für seine professionellen Dienste verweigern können. Er hatte den Mord nicht verhindert, aber er hatte getan, was keinem gelungen war: Er hatte den Täter erwischt. Das war eine Menge wert.
Er sah zu Mack Bedford auf der gegenüberliegenden Seite des Lagerraums. Etwas lag in dessen Stimme, in dessen ruhigem Timbre, seinem nordamerikanischen Akzent. Und plötzlich machte es Klick.
»Morrison?«, fragte er leise.
»Nein, ich nicht«, erwiderte Mack. »Ich bin nicht Morrison. Morrison ist dort drüben.« Mack zeigte auf die linke Wand, und dann schrie er plötzlich: »Mach ihn fertig, Billy, jetzt!«
Kein SEAL wäre jemals darauf hereingefallen. Zumindest hätte jeder SEAL zuerst Mack Bedford erschossen, bevor er sich um »Billy« gekümmert hätte. Aber Raul Declerc war kein SEAL. Erschreckt drehte er sich zur Seite und wusste nicht recht, um wen er sich als Erstes kümmern sollte, um den unbewaffneten Mann vor seinen Augen oder um Billy, der offensichtlich bewaffnet war.
Der Sekundenbruchteil, den er zögerte, verschaffte Mack genau den entscheidenden Vorteil, den Sekundenbruchteil, in dem er sich nach vorn warf, abrollte und geduckt hochkam. Der Bogen, den Rauls Waffe von der linken Seitenwand zum neuen Ziel beschrieb, war dadurch sehr viel größer geworden. Das war die entscheidende Zehntelsekunde.
Macks rechte Faust krachte wie ein Vorschlaghammer gegen Rauls linke Niere und traf ihn mit solcher Gewalt, dass er die Waffe fallen ließ. Mack tauchte nach unten, um sie aufzuheben, aber Raul, der sich nicht so schnell unterkriegen ließ, landete einen Treffer seitlich an Macks Kopf. Der Ex-SEAL-Commander steckte ihn weg, kam mit der Waffe hoch und rammte sie Raul gegen den Kopf, so heftig, dass der ehemalige Colonel der Scots Guards flach auf den Rücken krachte.
Es war der gefährlichste Gegner, dem Mack bislang begegnet war. Er wusste, es musste Raul sein. Der Leiter der Forces of Justice aus Marseille war der Einzige auf der Welt, der den Namen Morrison kannte. Raul wusste nicht nur, dass Mack soeben Foche umgebracht hatte, er kannte auch den Plan, er wusste von dem Geld. Am schlimmsten aber war: Er war der Einzige in Frankreich, der genau wusste, wie Mack aussah und wie seine Stimme klang.
Wenn von den Sicherheitsleuten jemand eliminiert werden musste, dann Raul Declerc. Er war noch bei Bewusstsein, als Mack sich über ihn beugte, ihn mit der linken Hand am Kragen der gelben Jacke und mit der rechten im Schritt der Hose packte.
Mack hob ihn an, trat einen Schritt zurück, holte Schwung und schleuderte ihn wie einen gelben Torpedo durch das offene Fenster. Er war definitiv noch bei Bewusstsein, denn Mack hörte ihn schreien, bis er mit einem dumpfen, tödlichen Schlag unten auf dem freien Platz aufprallte.
Schritte waren nun aus dem Treppenhaus zu hören, Stimmen und Schreie. Mack verriegelte die Tür, was ihm weitere wertvolle Sekunden bringen würde. Dann packte er seinen Werkzeugkasten, klemmte sich das Angriffsboard unter den Arm und stieg durch das hintere Fenster.
Er starrte auf das Wasser, das 20 Meter tief unter ihm lag. Es war hoch hier, verdammt hoch, aber nicht so hoch wie auf der Ölplattform damals im Golf. Und von der war er auch gesprungen. Zum ersten Mal hatte er Angst. Er richtete sich auf dem Fenstersims auf und nahm allen Mut zusammen. Es gab kein Zurück mehr. Er musste springen oder sterben. Wenn die Tür aufging, würden sie ihn erschießen.
Fünf Sekunden lang musste er so dagestanden haben, dann hörte er hinter sich einen gewaltigen Knall. Die Stahltür wurde aus ihren Angeln gesprengt und durch den Raum geschleudert. Alles war voller Qualm, durchzogen vom Geruch nach Kordit. Jemand rief: »Hier rein, Jungs, er ist hier drin!«
Eine Maschinenpistole eröffnete das Feuer und schoss blindlings in den Rauch. Mack holte tief Luft, zog die Maske nach unten und sprang – flog kerzengerade durch die Luft wie ein olympischer Turmspringer, nur zeigten seine Füße in den französischen Arbeitsstiefeln geradewegs nach unten, und unter dem einen Arm hielt er den Werkzeugkoffer, unter dem anderen das schlanke Angriffsboard. Nur der Werkzeugkasten ließ das Wasser aufspritzen, als er auf der Oberfläche aufschlug und mit angespannten Muskeln, den gesamten Körper versteift, eintauchte, ohne das Wasser aufspritzen zu lassen.
Ein Wachposten an der niedrigen Hafenmauer hinter dem Lagerhaus nahm nur eine vorbeihuschende Gestalt wahr, deutlich erkannte er daraufhin nur den Strudel, den Mack und sein Werkzeugkasten auf der Wasseroberfläche hinterließen. Er deutete auf die Stelle und blies dreimal laut in seine Pfeife. Die Sicherheitskräfte kamen angerannt.
In zehn Meter Tiefe, kurz über dem Boden des Gezeitenbeckens, wurde Mack trotz des SEAL-Anzugs, der den Großteil der Wucht beim Aufprall abgefedert hatte, kräftig durchgeschüttelt. Er öffnete den Werkzeugkasten und ließ Wasser einströmen, ließ ihn dann los und sah ihm nach, wie er zu Boden schwebte. Dann nahm er den Dräger-Schlauch in den Mund, drehte das Ventil auf und begann normal zu atmen, trotz seines Herzschlags, der bei 7000 pro Minute liegen musste.
Er befreite sich von den Arbeitsstiefeln, löste die großen Flossen und zog sie an. Im fahlen Licht unter Wasser konnte er noch immer die aufgemalte BUD-Nummer erkennen, Class 242. In diesem Augenblick setzte der Kugelhagel ein.
Unter dem persönlichen Befehl von Pierre Savary eröffneten die Sicherheitskräfte an der Hafenmauer das Feuer auf die Wasseroberfläche. »Ich hab ihn gesehen«, rief einer. »Etwas ist da ins Wasser getaucht. Ich bin mir sicher, er war es.«
Salve auf Salve feuerten sie in das Hafenbecken, die Geschosse tauchten tief ein und zogen ihre weißen Spuren durch das Wasser. Dabei verloren sie aber enorm an Geschwindigkeit. Bis sie in Mack Bedfords Tiefe ankamen, hätte er sie mit der Hand auffangen können.
Savary befahl seinen Männern, sich entlang des gesamten Hafenbeckens aufzustellen, bis zum Ausgang zur mächtigen Loire, und dabei weiter zu feuern, egal was geschehen mochte. Das Problem war nur: Den Sicherheitskräften mangelte es an jeder Erfahrung mit Gewässern. Sie waren nicht in ihrem Element, hatten es aber mit einer Unterwassermaschine namens Mack Bedford zu tun.
Er tauchte zum Grund hinab, fand den Werkzeugkasten, klappte ihn zu und schob ihn in den Schlick und Sand. Die Gezeiten machten sich in dem abgegrenzten Bereich kaum bemerkbar, die Wahrscheinlichkeit war daher sehr gering, dass er jemals gefunden wurde, wenn man nach seiner Leiche suchen sollte.
Dann hielt er das Angriffsboard vor sich und wandte sich nach Süden, überprüfte die Instrumente und richtete sich aus, bis der Kompass nach Südwesten in Richtung Hafeneingang zeigte. Noch immer schossen die Kugeln durchs Wasser, sodass Mack in der Tiefe blieb und sich mit gleichmäßigen, langsamen Flossenschlägen zum großen Fluss hin in Bewegung setzte.
Lange Unterwasserstrecken erfordern ungeheure Disziplin. Unbedingt gilt es zu vermeiden, dass man überhastet nach Luft schnappt, dass man meint, sich beeilen zu müssen, oder gar in Panik gerät. Der Sauerstoffvorrat des Dräger hält dann nur halb so lang wie im Normalfall. Macks Modell besaß einen Zylinder mit knapp 40 Liter Sauerstoff, der jedoch unter einem Druck von 140 Kilogramm pro Quadratzentimeter stand. An Land wog das Gerät gut 15 Kilogramm, unter Wasser war es nahezu gewichtslos.
Die Kunst bestand darin, ganz normal zu atmen, gleichmäßig und ruhig. Auf diese Weise reichte der recycelte Sauerstoff für knapp vier Stunden. Mack glaubte nicht, dass er so lange brauchen würde. Die Loire-Mündung war an dieser Stelle gut drei Kilometer breit, eine Strecke, die sie im großen BUD-Pool in Coronado mit Flossen in 40 Minuten zurückgelegt hatten.
Aber der mächtige, den Gezeiten unterworfene Strom aus dem Herzen von Zentralfrankreich hatte mit einem Schwimmbecken in etwa so viel gemeinsam wie eine Knallbüchse mit einer Lenkrakete. Macks Kurs zum jenseitigen Ufer, quer durch den Fluss zur gegenüberliegenden Seite der Saint-Nazaire-Brücke, würde eins-eins-drei lauten, nach Südosten, die Entfernung – gut drei Kilometer – würde sehr von der Fluss- und der Gezeitenströmung abhängen, die sich mächtig anstrengte, Mack hinaus in den Atlantik zu ziehen.
Die Kugeln gingen noch immer auf die Wasseroberfläche nieder. Die Sicherheitskräfte schrien und schossen. Manche wollten etwas gesehen haben, dann wieder nichts. Pierre Savary war über Raul Declercs Tod informiert worden. Es erschien ihm alles so unwirklich. Kaum einen Tag zuvor hatten sie drei noch zusammengesessen, hatten auf Foches Anwesen diniert und Pläne geschmiedet, Pläne, die auf dem schwarzen Asphalt von Saint-Nazaire Maritime zunichte gemacht wurden.
Chef d’Escadron Paul Ravel tauchte wie aus dem Nichts neben Pierre Savary auf. »Die Situation hat sich schlagartig verändert«, sagte der Polizeichef dem Mann, den er erst 36 Stunden zuvor am Strand befördert hatte.
»Für mich nicht«, erwiderte Ravel. »Ich bin hier, weil ich den Mörder suche, der in Val André zwei Menschen umgebracht hat. Den suche ich immer noch, nur hat er jetzt mindestens fünf weitere auf dem Gewissen. Der Unterschied ist nur, ich weiß jetzt, wo er ist – entweder im Wasser, irgendwo dort unten, oder er versteckt sich irgendwo in den Kais.«
Pierre Savary beäugte ihn misstrauisch. »Was soll das heißen, fünf weitere auf dem Gewissen – Sie meinen doch zwei?«
»Nein, Monsieur. Im fünften Stock des Lagerhauses wurden drei Männer gefunden, tot. Einer mit durchtrennter Kehle, den anderen beiden wurde der Schädel eingeschlagen.«
»Großer Gott! Woher wissen Sie das?«
»Ich hab sie eben gesehen. Sie lagen auf dem Boden im Stockwerk, aus dem er gefeuert hat. Bevor er runtergesprungen ist.«
»Woher wollen Sie wissen, dass er gesprungen ist?«
»Es gibt sonst keinen Weg nach unten. Es sei denn, er gehört zu den Sicherheitskräften und ist mit seinem Kumpel runtermarschiert.«
»Dann war es ein gewaltiger Sprung. Aber er wird nicht weit kommen. Sie meinen wirklich, er ist noch im Hafenbecken?«
»Nicht unbedingt. Er war drin. Vielleicht hat er es mittlerweile verlassen. Er kann überall sein.«
»Was halten Sie für am wahrscheinlichsten?«
»Ich glaube nicht, dass er noch im Wasser ist. Das hat er nur für die weiche Landung gebraucht. Trotzdem, die Küstenwachboote laufen gerade aus, mit Radar. Wenn er noch drin ist, dann ist er so gut wie erledigt. Aber dieser Typ ist uns gern einen Schritt voraus. Ich wette, dass er mittlerweile an Land ist, sich umzieht und zur Flucht vorbereitet. Vielleicht wird er auch von jemandem abgeholt.«
»Meinen Sie, er wird noch mal jemanden umlegen?«
»Das, Monsieur, hängt ganz davon ab, wer sich ihm in den Weg stellt.«
Savary informierte die Polizei von Saint-Nazaire und den Befehlshaber der nationalen Sicherheitskräfte über die Lage und betraute den Befehlshaber der Küstenwache mit der Leitung der Operationen auf dem Wasser. Alle wurden angewiesen, sich auf die nördliche Flussseite zu konzentrieren, auf die Docks, die Anlegestellen und die im Bau befindlichen Schiffsrümpfe. »Der Typ wird versuchen, auf dieser Uferseite aus dem Fluss zu kommen«, sagte er. »Da schnappen wir ihn uns. Hier muss er raus.«
Mehr als tausend Mann machten sich auf den Weg zu den Außenbereichen der Werft und warteten darauf, dass der vollbärtige Gunther Marc Roche aus der Tiefe auftauchte.
Mack bekam davon natürlich nichts mit. Er hörte die beiden Krankenwagen nicht, die mit heulenden Sirenen auf die Werft kamen. Ebenso entging ihm das hörbare Aufstöhnen der Menge, als auf einer Bahre Henri Foche, Körper und Gesicht von einem weißen Laken bedeckt, durch die Hecktür geschoben wurde. Viele der weiter entfernt stehenden Zuschauer glaubten noch immer, er sei von einer plötzlichen Übelkeit befallen worden.
Als sich Claudette wieder aufrichtete, war ihr gelbes Chanel-Kostüm über und über mit Blut verschmiert. Frauen kreischten. Und die Werftsirenen gellten lautstark los.
Nachdem nun die örtliche Polizei, die nationalen Sicherheitskräfte und die Küstenwache im Einsatz waren, kam es unweigerlich zu chaotischen Zwischenfällen, Meinungsverschiedenheiten und Kompetenzgerangel. Die Leichen wurden aus dem Lagerhaus geschafft, jemand wollte den Mörder entdeckt haben, jemand anderes schwor bei Gott, er befände sich noch immer im Hafenbecken.
Einer der Vorgesetzten befahl seine Männer des besseren Blicks wegen aufs Dach des Lagerhauses; Savary bestand darauf, das Feuer auf den Hafeneingang zu richten, den der Flüchtende passieren musste – falls er das nicht längst getan hatte. Die Küstenwache, mit Mordermittlungen wenig vertraut, verlangte von der Polizei ein Gesuch um Amtshilfe, bevor sie jedes verfügbare Patrouillenboot zum Einsatz brachte.
Savary war davon überzeugt, dass der Attentäter noch im Wasser war und irgendwo versuchen musste, wieder herauszukommen. Dem Befehlshaber der Küstenwache sagte er: »Schaffen Sie so schnell wie möglich jedes Boot heran, das sich im Hafen oder in unmittelbarer Nähe befindet, und überwachen Sie damit das Nordufer. Irgendwo muss er an Land gehen. Schließlich ist er ja kein Fisch.«
»Nein, Monsieur, er ist kein Fisch. Wir werden die Wasseroberfläche mit Radar abdecken. Die Hubschrauber werden in einer Viertelstunde starten. Wir haben drei davon. Also zum Nordufer und dem Hafen?«
»Ich denke schon. Oder meinen Sie, dass er es bis zur anderen Flussseite schaffen kann?«
»Wenn auf ihn ein Schnellboot gewartet hat, dann wäre das möglich. Aber das gab es nicht. Bereits drei Minuten nach den Schüssen haben wir die Oberfläche überwacht. Radarerfassung läuft ständig. Die Marine besteht darauf.«
»Ich meinte eigentlich, ob er hinüberschwimmen kann?«
»Schwimmen? Nein, nein, ganz ausgeschlossen. Das kann ich mir nicht vorstellen, jedenfalls nicht ohne Begleitboot. Dabei sind Leute schon ertrunken oder bei ablaufender Flut aufs Meer hinausgezogen worden.«
Pierre Savary starrte über die breite Flussmündung hinüber zum fernen Ufer. »Gut«, sagte er, »und was, wenn er der beste Schwimmer der Welt wäre? Ein Olympiasieger, mit Begleitboot, ohne ablaufende Flut? Wie lange würde er dazu brauchen?«
»Na ja, Luftlinie sind es knapp über zwei Kilometer. Schwer vorstellbar, dass das jemand an dieser Stelle in einer Stunde schafft. Eineinhalb Stunden würde ich schätzen … ich weiß nicht … vielleicht länger. Je länger die Strecke, umso langsamer wird man, wenn man schwimmt. Wenn Sie mich fragen, ohne große Sauerstoffflaschen und ohne Elektromotor ist das nicht zu schaffen.«
»Okay. Das heißt also, er ist immer noch hier, entweder im Hafen oder entlang der Kais.«
»Wenn er noch im Hafen ist, Monsieur, ist er so gut wie tot. Denn dann wäre er jetzt schon mindestens zwölf Minuten drin. Wenn Sie mich fragen, suchen wir nach einer Leiche.«
Mack, noch immer zehn Meter unter der Oberfläche, hatte es nicht eilig, als er zur äußeren Hafenmauer tauchte. Er sparte sich seinen Sauerstoff für die Reise auf, die im Grunde noch gar nicht begonnen hatte. Das Angriffsboard vor sich an den ausgestreckten Armen, bewegte er sich so glatt durchs Wasser wie ein langer schwarzer Aal. Das Dräger gab keine Luftblasen von sich, die metallgraue Taucherbrille glitzerte nicht im Wasser, die SEAL-Flossen erzeugten keinen Strudel, kein Kräuseln der Oberfläche.
Die Anzeigen auf dem Angriffsboard lauteten: Zeit 1658. Kompass zwei-zwei-fünf. GPS 47.28 Nord, 2.187 West. Kurz vor fünf, wusste Mack, würde im Westen die Sonne untergehen. So passierte er unter dem Gewehrfeuer die Hafeneinfahrt und suchte dazu die westliche Hafenmauer, wo die Schatten am längsten wären. Als rechts von ihm die dunkle hochaufragende Betonwand auftauchte, ging er vier Grad nach links, berührte fast die Mauer und tauchte unter den Augen, aber nicht in Sichtweite der Sicherheitskräfte hindurch.
Über ihm war das Wasser durchzogen von den leuchtend weißen Spuren der Geschosse. Ihm war, als hätte sich der Himmel bewölkt, denn das rote Hafenfeuer links über sich konnte er nur erahnen. Und dann erschien ihm das Wasser klarer, weiter, und er vollführte seine Wende, volle 112 Grad nach links – eins-eins-zwei rot auf Kurs eins-eins-drei, wie er zu SEAL-Zeiten noch gesagt hätte.
Vor ihm lag die längste, härteste Strecke, die er jemals in Angriff genommen hatte. In Strömungen wie diesen konnte man sterben, man konnte hinaus ins Meer getrieben und niemals wieder gesehen werden. Mack kannte die Gefahren. Den Großteil der drei Wochen hatte er sich mental auf diese lange Unterwasserstrecke vorbereitet.
In Gedanken war er immer wieder durchgegangen, wie es sein würde, wenn er vom Tatort flüchtete. Ohne das Angriffsboard hätte er es nie versucht, dieses hervorragende Navigationsgerät, das schon Tausenden von SEALs das Leben gerettet hatte. Das Board würde ihm den Weg weisen, würde dafür sorgen, dass er auf Kurs blieb, würde ihn korrigieren, ihn leiten und warnen, falls er Gefahr lief, diesen Kampf zu verlieren.
Tief unter sich auf dem Grund der Loire erhaschte er das schwarz-silberne Schimmern eines Steinbutts, der die Flussmündung kreuzte. Er musste an Tommy denken; Tommy, der angelte, der den Fisch rauszog. Immer Tommy. Es verlieh ihm Kraft, der Gedanke an seinen kleinen Jungen … ich komme nach Hause, Junge. Vertrau mir, ich komme heim.
Er legte alle Kraft in den Beinschlag, hinüber zum Südufer, diagonal durch den Fluss bis über den hoch aufragenden Südpfeiler der Saint-Nazaire-Brücke hinaus. Er zählte die Beinschläge mit, zählte die Minuten und wusste, dass er nach jeweils drei wieder 100 Meter zurückgelegt hatte.
Das GPS bestätigte, dass er nach 20 Minuten fast 800 Meter hinter sich hatte. Bislang war er durch die Gezeiten nicht von seinem Kurs abgetrieben worden. Wie bei allen Flüssen ist der Gezeitenstrom in der Flussmitte bei Ebbe weniger ausgeprägt als bei Flut. Mack war sich bewusst, dass ihm in der nächsten Viertelstunde das Leben erheblich erschwert werden würde.
Laut seiner Berechnung war er seinem Zeitplan ein klein wenig voraus. Bislang spürte er nur einen sehr schwachen Schmerz in den Oberschenkeln, dort, wo es immer wehtut beim Langstreckenschwimmen. Er hatte es sogar bei seinen Bahnen in Harrys Country Club gespürt. Ihm war, als wäre er erneut zu Saddams Bohrinsel unterwegs. Mein Gott, wie hatte er sich in jener Nacht gefühlt. Aber er hatte sich durchgekämpft, egal, wie schwer es war. Ich komme heim, Tommy.
Mack tauchte auf seiner gewöhnlichen Tiefe von sechs Metern und lauschte auf näher kommende Schiffsschrauben. Nur wenige Schiffe haben einen Tiefgang von sechs Metern – die meisten kommen kaum auf drei Meter –, trotzdem wollte er nicht von den riesigen Propellerflügeln eines leise dahinfahrenden Öltankers in zwei Teile geschnitten werden.
In dieser Tiefe ist von den Oberflächengeräuschen kaum etwas zu hören, Schiffsschrauben in seichten Gewässern allerdings verursachen ein charakteristisches Rauschen. Er hatte bereits zwei oder drei weit hinter sich vernommen.
Die Helikopter der Küstenwache waren mittlerweile in der Luft, einer schwebte über dem Hafenbecken, die anderen beiden knatterten tief über die Uferabschnitte in der Nähe der Kais. Zur Suche am Nordufer des Flusses wurde alles aufgeboten. 1100 Männer, drei Hubschrauber, sechs Patrouillenboote, Radar, Sonar im Hafen, Maschinenpistolen, die die Wasseroberfläche aufwühlten. Nur selten in der Geschichte waren so viel Technik und Grips auf so begrenztem Gebiet und in so kurzem Zeitraum auf einen einzigen Mann gerichtet gewesen.
Pierre Savary wurde von Minute zu Minute nervöser. Es ging mittlerweile seit fast einer Stunde so. Jeder Küstenwachkommandant, jeder Offizier der Sicherheitskräfte, sogar Paul Ravel, alle waren der Meinung, dass es nur eine Möglichkeit gab: Gunther, oder wie zum Teufel er auch immer heißen mochte, konnte nicht mehr am Leben sein. Es war nur allzu wahrscheinlich, dass er den Sprung aus dem Lagerhaus nicht überlebt hatte oder im Hafenbecken ertrunken oder erschossen worden war. Wie sollte der Schweizer Attentäter gegen dieses massive Aufgebot bestehen können?
Savary allerdings war sich dessen nicht so sicher. Dieser Gunther hatte auf seinem Weg nach Saint-Nazaire jeden Polizeibeamten Frankreichs hinters Licht geführt. Es war ihm gelungen, die scheinbar unüberwindlichen Sicherheitsmaßnahmen um Henri Foche auszuhebeln, und bislang hatte, soweit Savary wusste, niemand ihn gesehen, niemand konnte ihn beschreiben – außer dieser Laporte in Val André.
Gut. Er ist also nicht mitten im Fluss. Einverstanden. Trotzdem muss er irgendwo sein. Ich glaube erst, dass er tot ist, wenn ich seinen Leichnam vor mir habe.
Das ging dem Polizeichef Savary durch den Kopf, der bis jetzt noch nicht einmal Zeit gefunden hatte, um seinen verlorenen Freund Henri Foche zu trauern – und der wegen dieses »verfluchten Fiaskos« vielleicht von seinem Posten würde zurücktreten müssen.
Er rief auf seinem Handy die Küstenwache an und bat um einen weiteren Hubschrauber, einen mit dem neuesten Tauchsonar, von dem er wusste, dass sie ihn irgendwo hatten.
»Monsieur, der ist in Cherbourg stationiert, fast 300 Kilometer entfernt. Es würde mindestens eine Stunde dauern, bis er hier wäre. Also zwei Stunden nach dem angeblichen Sprung, ich würde sagen, das wäre dann viel zu spät.«
»Vermutlich«, sagte Savary und fügte unfreundlich »merde!« hinzu.
Macks Uhr am Angriffsboard zeigte 1805. Er war nun länger als eine Stunde unterwegs, und allmählich stellten sich die Schmerzen ein. Die Übersäuerung der Muskeln wurde von Minute zu Minute schlimmer. Mack tat alles weh. Verdammt weh. Er spürte seine Beine, wie es sonst nur Ruderer oder Skilangläufer auf höchstem internationalem Niveau spüren. Dabei bezeichnete er sich noch nicht mal als Sportler – außer wenn er eine Angelrute in Händen hielt.
Ihm blieb nur, sich wieder das zeitlose Credo der SEALs ins Gedächtnis zu rufen, die unter extremem körperlichem Druck standen: Ich habe es früher ausgehalten, ich kann es wieder aushalten.
Schlimmer war noch, dass sein Angriffsboard schlechte Neuigkeiten bereithielt. Die geografische Breite 47.28 Nord war nicht wichtig; der Wert würde bei der drei Kilometer langen Durchquerung hin zum Südufer auf 47.27 runtergehen. Die ablaufende Flut würde ihn auch nicht zurücktreiben, sondern seitlich weg nach Westen ziehen. Der zweite Wert, der die geografische Länge anzeigte, war daher der ausschlaggebende. Die 2.187 West würden sich auf 2.18, 2.17, 2.16, 2.15 verringern. Er merkte sich die Daten. Als er sich jedoch der Hälfte der Nord-Süd-Strecke näherte, sprang der Wert wieder auf 2.18 zurück. Die ablaufende Flut trieb ihn ab, hinaus in den Atlantik. Bis er 47.27 Nord erreichte, wäre er wieder bei 2.187 West angelangt und damit von seinem Ziel fast genauso weit entfernt wie am Ausgangspunkt.
Er war müde und musste an sich halten, um nicht in Panik zu geraten. Er konnte nicht gegen alles kämpfen, nicht gegen diesen monströsen 1300 Kilometer langen französischen Fluss, der ihn gnadenlos in den Tod reißen konnte.
Aber er wusste, was er zu tun hatte. Er musste den Kurs ändern, direkt gegen den Strom schwimmen, um seinen Körperumfang zu verringern, mit der gummibeschichteten Kapuze seines Taucheranzugs voran wie ein schwarzer Pfeil in die Strömung drehen, statt sich wie ein knapp zwei Meter langer Baumstamm seitwärts abtreiben zu lassen.
Mack bog nach Osten und schwamm null-neun-null laut dem Kompass. Er kam sich schneller vor, nachdem das Wasser jetzt gegen ihn strömte. Es war nur ein Gefühl, aber eines, das ihm Hoffnung gab. Unermüdlich ging sein Beinschlag, dabei zählte er, und der GPS-Wert sprang auf 2.17, während er im rechten Winkel direkt auf die Brücke zutauchte.
Er musste nun lediglich einschätzen, wie weit er nach Osten wollte. Wie schnell würden ihn die Gezeiten nach Westen treiben? Mittlerweile tat ihm, von Kopf bis Fuß, alles weh. Jeder Beinschlag war schmerzhaft. Aber wenn er aufhörte, würde er sterben. Wenn er an die Oberfläche kam, würde er verhaftet oder erschossen werden.
Nachdem die tief stehende Sonne hinter ihm war, würde ihn nichts vor der Brücke warnen, kein langer Schatten, in den er hineinschwimmen und an dem er seinen Kurs ausrichten konnte. Die Brücke war sein Ziel, sein freundlicher Orientierungspunkt und seine Nemesis zugleich. Denn er wusste, dass dort Tauchsonare ins Wasser gelassen waren, mit denen er aufgespürt werden konnte.
Da die Sonne hinter ihm stand, befand er sich möglicherweise bereits unter der Brücke, bevor er es wusste. In wenigen Minuten musste er also vielleicht auf eine Tiefe von nur drei Metern hochkommen. Doch wenn er die Spannkonstruktion erblickte, würde er so tief hinuntergehen, wie er es nur wagen konnte, so tief, dass menschliche und elektronische Augen ihn nicht mehr erfassen konnten, so tief, wie der Fluss es erlaubte.
Erneut änderten sich die Zahlen – 2.166 West. Wunderbar. Wenn er einfach nur weitertauchte, würde er es schaffen. Er würde es schaffen, für Tommy und für Anne. So strengte er sich noch mehr an – Bamm! Bamm! Eins … zwei … drei … vier. Die Brücke musste ganz nah sein, und um 1829 stieg er nach oben, bis er nur noch zwei bis drei Meter unter der Oberfläche war. Irgendwo im Süden hörte er das gleichmäßige Stampfen einer relativ kleinen Maschine, vielleicht eines Schleppers oder eines Fischtrawlers.
Und dort war die Brücke. Er sah sie durch die Taucherbrille, vielleicht 100 Meter vor sich. Er hatte etwas mehr als die Hälfte des Flusses hinter sich, da die Breite noch immer mit 47.276 angegeben wurde. Er ging in die Tiefe, bis das Wasser fahl und schwarz wurde und über ihm nur noch Dunkelheit herrschte.
Pierre Savary am Ufer war am Ende seines Lateins. Noch immer waren Boote, Hubschrauber und Sicherheitskräfte mit der Suche beschäftigt und taten ihr Bestes. Sie hatten alles durchkämmt, was man am Nordufer durchkämmen konnte. Sie hatten einheimische Fischer und Frachterkapitäne befragt und damit begonnen, mit einem Schleppnetz den Grund des Hafenbeckens nach Gunthers Leichnam abzusuchen. Tief fliegende Hubschrauber donnerten kaum fünf Meter über der Wasseroberfläche entlang.
Savary hatte mehr oder minder genug von dieser Operation, die augenscheinlich zu nichts führen würde. »Paul«, sagte er zu seinem ebenso besorgten Untergebenen, »wir müssen die Südküste überprüfen. Wir müssen das alles zur anderen Flussseite verlegen.«
»Aber wir wissen doch, dass es ganz unmöglich ist, dort hinüber zu kommen«, erwiderte Ravel. »Die Küstenwache sagt, das würde er nie und nimmer schaffen. Er würde es nicht überleben.«
»Offen gesagt, es interessiert mich nicht die Bohne, was sie sagen, nicht jetzt. Wir werfen alles zur anderen Seite. Streifenwagen, Boote, Hubschrauber und die Männer.«
Pierre Savary gehörte zu jenen gebildeten Franzosen, die immer aussahen, als kämen sie geradewegs aus einem Rugby-Gedränge. Er konnte nichts dafür, sein Gesicht vermittelte stets einen leicht mürrischen Eindruck, selbst wenn er lächelte. Er hatte immer einen Fünf-Uhr-Schatten, und ihn umgab stets eine Aura skrupelloser Kompromisslosigkeit, die er zuweilen sorgsam pflegte. Die mürrische Miene an diesem Nachmittag aber war echt. Er wusste nicht, warum so vieles hier schiefgelaufen war, aber so war es nun mal. Savary war wütend.
»Paul«, grummelte er, »ich werde diesen Kerl fassen. Und wenn es das Letzte ist, was ich mache.«