KAPITEL ZWEI

Die riesige Boeing C-17 schwebte tief über die am Meer gelegenen Vororte von San Diego. In einer Höhe von 150 Metern dröhnte sie über die Bucht und setzte schließlich auf der südwestlichen Rollbahn der US Naval Air Station, North Island, Coronado, auf, dem Hauptquartier der SEALs. Die Maschine, die die Männer des SEAL-Teams 10 nach Hause brachte, rollte zum Wenden ans Ende der Landebahn, und von dort konnten die SEALs den großen Militärfriedhof hoch oben auf Point Loma sehen, das wenige Meilen entfernt auf der anderen Seite der Bucht lag. Frank Brooks und Charlie O’Brien hatten hier ihre Grabsteine.

Es war keine besonders freudige Heimkehr. Dass Mack Bedford eventuell vor das Militärgericht zitiert wurde, lastete auf dem gesamten Team. Kehrten Männer von ihren Einsätzen in irgendwelchen nahöstlichen Schreckensorten heim, lachten sie sonst immer und rissen Witze, an diesem Abend aber herrschte in der gesamten Basis gedämpfte Stimmung. Jeder wusste, dass Lieutenant Commander Bedfords Fall von äußeren, politischen Faktoren bestimmt wurde. Die SEALs waren generell Männer, die unter sich blieben und die es in Rage brachte, wenn Außenseiter in ihre harte Welt einbrachen.

Der detaillierte Bericht des JAG im Irak hatte es dem Ermittlungsausschuss in Coronado relativ leichtgemacht. Die Fakten waren eindeutig. Die Iraker hatten mit erhobenen Händen die Brücke überquert. Das bedeutete allerdings nicht unbedingt, dass sie auch unbewaffnet gewesen waren. Es hieß lediglich, dass sie unbewaffnet schienen; ein kleiner Unterschied. Scharfsinnige Beobachter des irakischen Kriegsschauplatzes hätten vielleicht zu dem Schluss kommen können, dass eine solche Kapitulation ein alter Trick war, um einen möglichen Gegenschlag der US-Truppen zu verhindern. Dagegen standen die Aussagen von mehr als einem Dutzend SEALs, die zum fraglichen Zeitpunkt anwesend waren und auf die Frage »Waren die Iraker bewaffnet oder unbewaffnet?« immer die gleiche Antwort lieferten.

»Keine Ahnung, Sir. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«

Die Mitglieder des Ermittlungsausschusses wollten erneut mit den Männern reden, bevor sie eine Entscheidung trafen. Sie mussten daher warten, bis das Foxtrot Platoon in San Diego gelandet war. Was für ihre Arbeit eine dreitägige Verzögerung bedeutete. Drei Tage, die für Lieutenant Commander Bedford, dessen Schicksal in diesem Zeitraum im Ungewissen lag und der nicht wusste, ob ihm als Marineoffizier die Tür gewiesen wurde, die Hölle waren.

Schließlich, auf Druck des Pentagon, das wiederum vom Weißen Haus unter Druck gesetzt wurde, beschloss der Ausschuss, dass man den Fall angehen müsse. Er leitete die Sache an den JAG der SPECWARCOM-Streitkräfte weiter, Captain Paul Birmingham, der sich alles ansah und es dem Trial Service Office, dem juristischen Beratungsgremium der Navy, anempfahl.

Von hier an drehten sich die Mühlen der Militärjustiz nur noch langsam. Die brennende Frage lautete: Waren die zwölf Iraker skrupellos erschossen worden, obwohl sie sich offensichtlich ergeben wollten und dabei ebenso offensichtlich unbewaffnet gewesen waren? Einige meinten: möglich; andere dachten: Wer zum Teufel soll das wissen? Nur die SEALs waren bis auf den letzten Mann davon überzeugt, dass Lieutenant Commander Bedford sie mit gutem Recht niedergemäht hatte, weil keiner wissen konnte, was die Scheißkerle als Nächstes getan hätten, nachdem sie schon mit den gottverdammten illegalen Raketen 20 ihrer Kameraden auf dem Gewissen hatten.

Drei Tage später traf das Trial Office seine abschließende Entscheidung. Lieutenant Commander Bedford würde wegen Mordes an zwölf irakischen Bürgern, wegen rücksichtslosen Verhaltens im Angesicht des Feindes und zahlreicher Verstöße gegen die Genfer Konventionen vor das Militärgericht gestellt werden. Der letzte Anklagepunkt war noch nicht ausformuliert, würde aber auf Artikel 13 der Genfer Konvention beruhen, der die Behandlung von Kriegsgefangenen regelt sowie ausführt, wie zu verfahren sei, wenn Kombattanten nur vorgeben zu kapitulieren.

In den Augen der SEALs war das alles nur eine ungeheuerliche »Effekthascherei«, die einzig und allein aus politischen Gründen erfolgte. Die USA wollten sich der Welt als Staat präsentieren, der jederzeit allen Gerechtigkeit widerfahren ließ. Politiker und Regierungsmitglieder waren sich dessen bewusst, mehrere herausragende Berater des Präsidenten warnten sogar davor, die Spezialkräfte zu sehr gegen sich aufzubringen.

In Wahrheit wusste keiner, wie in Gottes Namen in diesem Fall am besten vorzugehen war. Fest stand lediglich, dass die USA die Sache nicht auf sich beruhen lassen konnten. Es ließ sich nicht leugnen, dass zwölf Iraker auf der Brücke ihres (angeblichen) Heimatdorfes von einem SEAL-Commander erschossen worden waren.

Das US Navy Trial Office benannte die Militärjuristen, die für den Fall zuständig sein sollten. Commander Harrison Parr, ein 48-jähriger ehemaliger Fregattenoffizier aus Maryland, der sich zehn Jahre zuvor gegen eine mögliche Kapitänsstelle und für die Fortsetzung seines Jurastudiums entschieden hatte, würde die Anklage vertreten, was für Mack Bedford positiv zu werten war.

Harrison Parr waren im Fall seines Ausscheidens aus der Navy bereits drei Stellen in Anwaltskanzleien in San Diego angetragen worden. Doch die ganze Leidenschaft des kleinen Harrison – er war lediglich 1,67 groß und hatte die Statur eines Jockeys – gehörte der US Navy und deren Rolle in der Welt. Um nichts in der Welt wollte er die dunkelblaue Uniform gegen zivile Nadelstreifen tauschen. Außerdem fand er wenig Geschmack an den juristischen Spitzfindigkeiten der Zivilgerichte. Er glaubte an die Wahrheit – die schlichte, unverstellte Wahrheit. Und er hatte sich den Ruf erworben, die Wahrheit aufzuspüren. Außerdem glaubte er, dass die Iraker nicht unbewaffnet gewesen waren und Mack Bedford im Grunde durchgedreht hatte. Die entscheidende Frage für ihn war, ob seine Dienstherren den hoch gewachsenen Navy SEAL des Mordes für schuldig befinden wollten oder nicht.

Harrison würde alles daransetzen, die Anklage erfolgreich zu führen, aber als scharfsinniger »Politiker« vertraute er natürlich auch seinem Gespür dafür, was seine Vorgesetzten von ihm wollten. Wenn sie einen Schuldspruch wollten, würde er ihnen den liefern, davon war er überzeugt. Wurde ihm allerdings angedeutet, dass man nach außen hin ein scheinbar hartes Urteil wollte, der Lieutenant Commander letztlich aber freigesprochen werden sollte, dann würde er dafür sorgen, dass das so eintraf. Harrison war ein treuer Diener seines Oberbefehlshabers, des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Ein idealistischer Eiferer war er nicht.

Als seinen Widersacher und offiziellen Verteidiger ernannte das Trial Office Commander Al Surprenant. Al, 50 Jahre alt, konnte schon eher als Eiferer gelten. Er vertrat einige Grundüberzeugungen, von denen die wichtigste sein unerschütterliches Vertrauen in die Offiziere der US Navy war. Der Feind war für Al der Feind, und wenn dieser die Hand gegen die Vereinigten Staaten erhob, dann ging er jeglicher Rechte verlustig. Dies galt nicht unbedingt in einem formellen Kriegszustand, in dem sich souveräne Staaten im Kampf gegeneinander befanden, mit regulären Truppen, korrekten Uniformen sowie Verhaltensregeln und den Maßgaben der Genfer Konventionen. Doch mit Sicherheit traf dies auf Terroristen, Aufständische, Dschihadisten, El-Kaida, die Taliban oder jede andere bewaffnete Gruppe zu, die in welcher Form auch immer das Feuer auf die Streitkräfte der USA eröffneten.

Commander Surprenant hatte unerschütterliche Ansichten zu den US-Spezialkräften, die »hinter den feindlichen Linien« operierten: Dort hätten sie jedes Recht, alles Notwendige zu tun, um sich zu schützen und ihre Mission erfolgreich zu Ende zu führen. Sein Grundsatz dazu lautete ganz einfach: Wenn es ihnen nicht erlaubt ist, sich gegen den Gegner auf angemessene Weise zu wehren, dann hätte man sie nicht hinschicken dürfen. Das ungeschriebene Gesetz der natürlichen Gerechtigkeit reichte seiner Meinung nach gewöhnlich aus, um die US-Soldaten zu schützen; sollte es allerdings nicht reichen, dann würde er, Commander Surprenant, dem universalen »Gesetz« Klauen und Zähne verleihen sowie für den in diesem Fall nötigen juristischen Nachdruck sorgen.

Mack Bedford hätte sich kaum in besseren Händen befinden können. Der Verteidiger würde den Anklagevertreter frontal angehen und von ihm wissen wollen, unter welchem Gesetz es den Navy SEALs plötzlich verboten sei, gegen jene zurückzuschlagen, die soeben 20 ihrer Kameraden ermordet hatten.

Surprenant wurde mit einem goldenen Löffel im Mund geboren. Sein wohlhabender Vater hatte ihn auf die Choate School und dann auf die juristische Fakultät von Harvard geschickt, der junge Al allerdings fand nicht viel Gefallen am Papierkram, am Abfassen von juristischen Gutachten und der ausufernden Bürokratie der großen Anwaltskanzleien. Trotz seines ausgezeichneten Abschlusses und einer sicheren Zukunft kündigte er daher eines Tages und ging zur US Navy. Er wurde bald zum Offizier ernannt, stieg schnell in den Rang eines Lieutenant Commander auf und diente im Golfkrieg als Raketenoffizier auf einem US-Zerstörer. Im Jahr darauf wurde er Marineanwalt auf der Basis in Norfolk, Virginia, und zog nach San Diego, nachdem er eine Hollywood-Schauspielerin geheiratet hatte.

Jedem im SPECWARCOM war klar, dass die Marineführung es keineswegs darauf anlegte, Mack Bedford zu ruinieren. Die Ernennung von Commander Surprenant deutete daraufhin, dass er wohl nicht wegen Mordes verurteilt werden würde. Dennoch wurde auch die Meinung vertreten, der angeklagte SEAL-Commander müsse auf dem Altar der Nahost-Friedenspolitik geopfert werden.

Das Militärgericht tagte im Gerichtssaal des Navy Trial Service im Zentrum der San-Diego-Basis, abgeschottet von den Medien, die vom rechtlichen Nachspiel des Vorfalls noch gar nichts mitbekommen hatten. Der Trial Service ernannte ein fünfköpfiges Richtergremium, das über Lieutenant Commander Mack Bedford zu entscheiden hatte. Wie gewöhnlich bestand es aus einem jungen Lieutenant und drei Lieutenant Commanders, deren Erfahrungshorizont einen großen Bereich sämtlicher Marineaktivitäten zu Friedens- wie zu Kriegszeiten umfasste.

Der Vorsitzende, Captain Cale »Boomer« Dunning, ehemaliger Kommandeur auf einem Atom-U-Boot, stand nur fünf Monate vor seiner Beförderung zum Rear Admiral. Ein weiteres Anzeichen dafür, wie viel Sympathie Mack Bedford entgegengebracht wurde. Captain Dunning war ein harter Haudegen, dem es von Anfang an bestimmt gewesen war, ganz nach oben zu kommen. Nach allem, was man wusste, würde er sich dem angeklagten Offizier loyal verbunden fühlen. Außerdem war bekannt, dass er mit Commander Al Surprenant befreundet war. Angesichts dessen hatte es den Anschein, als würde die durch Harrison Parr vertretene Anklage kaum eine Chance haben; doch da der Ausgang der Verhandlung von politischen Faktoren abhing, wusste keiner so recht, in welche Richtung das Pendel ausschlagen würde.

Das machte die gesamte Angelegenheit so beunruhigend. Es war, als wäre der Marine die letzte Entscheidung aus der Hand genommen – als wäre das Urteil schon gefällt, bevor der Prozess überhaupt begonnen hatte. War über Mack Bedfords Schicksal bereits entschieden? Das konnte keinem gefallen.

In den letzten beiden Wochen vor Prozessbeginn zogen sich für Mack Bedford die Tage in die Länge. Er blieb für sich. Die Navy gestattete ihm, die Zeit in seinem Offiziersquartier zu verbringen, es war ihm auch überlassen, ob er am Dienst und an den Ausbildungseinheiten des Foxtrot Platoon teilnahm. Stillschweigend waren neue Männer dazugestoßen, die die Gefallenen ersetzten.

Keiner erwähnte die Tragödie; die diensthabenden Petty Officers überwachten die harten Trainingseinheiten, die auf den langen Stränden in Sichtweite des weltberühmten Hotel del Coronado abgehalten wurden. Jeden Tag, fast jeden verdammten Tag hetzten sie in ihren Kampfstiefeln und Shorts über den Strand, suchten im feuchten Sand nach festem Tritt und mühten sich, unter der vorgeschriebenen Zeit zu bleiben. Manchmal machte Mack Bedford mit, lief fast entspannt neben den neuen Jungs her und führte ihnen seine herausragende körperliche Fitness vor sowie eine Entschlossenheit und Disziplin, die ihm schon zu eigen gewesen war, seitdem er zum ersten Mal in seiner Kampfschwimmerausbildung über diesen Strandabschnitt gelaufen war.

Abends traf er sich mit nur wenigen, nicht nur, weil seine engsten Freunde in den Panzern ums Leben gekommen waren, sondern weil er sich isoliert fühlte, solange das Kriegsgerichtsverfahren nicht beendet war. Viel Zeit verbrachte er mit Al Surprenant, endlos brüteten sie über den Karten des westlichen Euphratufers, an dem die SEALs von den Raketen getroffen worden waren.

Jeden Abend schrieb Mack an Anne in Maine, versuchte ihr zu erklären, dass der anstehende Prozess nur eine Formalität sei und er nicht schuldig gesprochen werde. Aber sie müsse auch wissen, dass er der namenlose befehlshabende Offizier war, der in den Zeitungsberichten über das »Massaker« ständig erwähnt wurde. Er sparte sich die Einzelheiten und wies auch nicht darauf hin, dass er der einzige Amerikaner gewesen war, der das Feuer eröffnet hatte. Der Großteil seiner Zeilen beschäftigte sich mit Tommy und der Tatsache, dass sich sein Zustand nicht gebessert hatte.

Annes Neuigkeiten von der Krankenversicherung waren wenig ermutigend. Trotz der Absicherung, die die Navy ihm und den nächsten Familienangehörigen garantierte, zeigte sich die Krankenkasse bislang nicht bereit, die Kosten für die Schweizer Klinik zu übernehmen, die Bedfords einzige Hoffnung war, je mehr Tommys Krankheit fortschritt.

Es fiel Mack schwer, überhaupt etwas zu finden, woran er sich aufrichten konnte. Es verging kein Tag, an dem er nicht mit Problemen konfrontiert wurde – sei es wegen seiner Laufbahn, wegen des Geldes, der Familie. Manchmal, in düsterer Stimmung, beschlich ihn das Gefühl, dass alles Unglück der Welt ungerechterweise über ihn allein hereingebrochen sei. Mit jedem Tag rückte der Prozess, der Augenblick der Wahrheit näher. Würde er nach all den Jahren noch als jemand angesehen werden, der für das US-Militär an vorderster Front stehen durfte?

Fünf Tage nach der Rückkehr aus dem Irak war die Geschichte an den San Diego Telegraph gelangt. Der Name des befehlshabenden Offiziers bei dem Vorfall an der Brücke war nicht erwähnt worden, irgendjemand aber musste das Blatt hervorragend ins Bild gesetzt haben. Der Artikel erstreckte sich auf der Titelseite über vier Spalten, der Titel lautete:

MILITÄRGERICHTSVERFAHREN GEGEN US-NAVY-SEAL-COMMANDER

Er soll verantwortlich sein für den Mord an den kapitulierenden Irakern


Die US Navy bestätigte vergangenen Abend, dass gegen den SEAL-Commander, dessen Männer zwölf Iraker erschossen haben, ein Militärgerichtsverfahren eingeleitet wurde. Der Prozess soll noch diesen Monat im Navy-Gerichtssaal der SPECWARCOM-Basis auf Coronado Island, San Diego, stattfinden. Die Anklage lautet auf vorsätzlichen Mord an unbewaffneten Personen.

Der Vorfall ereignete sich vor drei Wochen am Westufer des Euphrat südlich der alten mesopotamischen Stadt Hit. Laut der Navy waren die gepanzerten Fahrzeuge der SEALs von Aufständischen am anderen Flussufer mit Raketen beschossen worden. Die SEALs bereiteten sich darauf vor, das Feuer zu erwidern, laut dem arabischen Fernsehsender Al-Dschasira allerdings ergaben sich die Iraker und kamen mit erhobenen Händen über die Brücke.

In diesem Moment eröffneten laut Al-Dschasira die SEALs das Feuer und töteten sämtliche unbewaffneten Iraker. Mehrere Zeugen aus dem Beduinendorf Abu Hallah bestätigten diesen Bericht. Ein Sprecher des irakischen Parlaments ließ verlauten, dass der Premierminister vom Verhalten der Amerikaner »in höchstem Maße entsetzt« sei.

Über die Verluste des SEAL-Konvois liegen bislang keinerlei Angaben vor, ebenfalls weigert sich die Navy entschieden, die Namen der daran beteiligten SEALs bekannt zu geben, was auch auf die Identität des Offiziers zutrifft, der diesen Monat in San Diego sein Gerichtsverfahren erwartet.

Vergangenen Abend wurden Gerüchte laut, dass das SEAL-Team vom gegenüberliegenden Euphratufer schwer unter Beschuss genommen worden sei und heftige Verluste erlitten habe. Eine militärische Quelle, die anonym bleiben möchte, bestätigte, dass bei der Auseinandersetzung mindestens vier US-Panzer beschädigt wurden. Den Al-Dschasira-Bericht bezeichnete er als gefährlich einseitig, sodass er nach eingehender Untersuchung vor Gericht kaum Bestand haben werde. Ein Sprecher des Presse- und Informationszentrums der SEALs, Lieutenant Dan Rowe, erklärte, dass angesichts des schwebenden Verfahrens nichts weiter bestätigt werden könne.

Wird die Identität des SEAL-Befehlshabers offengelegt werden? »Das ist unwahrscheinlich«, sagte er. »Es sei denn, der SEAL-Offizier wird wegen Mordes verurteilt. Aber das ist noch nie vorgekommen. Nicht, wenn sich ein Vorfall wie dieser unter Feindberührung ereignet hat.«


Der Artikel trug die Handschrift des Chefredakteurs des Telegraph, Geoff Levy, eines ehemaligen Militärreporters in San Diego. Geoff kannte sich sowohl mit dem Militär als auch mit der Justiz aus. Und er wusste, wenn er eine gute Story zu fassen bekam. Dass das sonst so verschwiegene Militär das alles überhaupt preisgegeben hatte, mehrte nur seinen journalistischen Ruhm. Angesichts der Fülle an Informationen und der extrem gesprächigen Seeleute war es eine bemerkenswerte Leistung der Marine, überhaupt etwas unter Verschluss zu halten. Dass Levy aber an eine so bedeutende Information wie Mack Bedfords Militärgerichtsverfahren gelangt war, musste als fantastischer Coup bezeichnet werden.

Nachdem die Telegraph-Ausgabe herauskam, sahen sich die großen Nachrichtensender der USA gezwungen, mit der Zeitung gleichzuziehen – was enorm schwierig war, da die Navy den Artikel weder bestätigen noch dementieren mochte. Die Medien standen damit vor einem Problem. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als den Artikel der Zeitung aus San Diego für bare Münze zu nehmen und die darin gelieferten Informationen aufzugreifen. Oder die Geschichte komplett zu ignorieren. Das Erstere war jedoch mit Gefahren verbunden. Was, wenn die Geschichte nicht stimmte? Was, wenn Geoff Levy falsch lag? Wenn überhaupt kein Militärgerichtsprozess geplant war?

Das alles waren beunruhigende Faktoren, aber bei Weitem beunruhigender war der Gedanke an die Folgen, wenn sie die Geschichte überhaupt nicht brachten. Fox, der 24-Stunden-Nachrichtensender, reagierte als Erster und beschloss, Geoff Levy für ein Interview zu engagieren, natürlich exklusiv und sofort. Darauf ließ sich der Chefredakteur des Telegraph nicht so ohne weiteres ein. Keine Exklusivrechte und ein Honorar von 5000 Dollar, oder sie sollten sich die Mühe sparen und ihn nicht weiter belästigen. Fox zahlte und ließ Geoff Levy im nächsten Nachrichtenblock live auftreten.

Was er sagte, zeugte von hohem journalistischen Können – ganz davon abgesehen, dass er soeben einen Scoop ersten Ranges gelandet hatte. »Seit über zehn Jahren schreibe und recherchiere ich über die US Navy in San Diego. Diese Geschichte wurde mir aus der höchsten Führungsriege anvertraut. Mein Mittelsmann hat sie mir nicht erzählt, weil er sich besondere Publicity für die Navy wünscht – ganz im Gegenteil, das wäre das Letzte, was man bei einem Thema wie diesem will. Nein, er hat sie mir erzählt wegen der Wut, der Empörung, die sich unter der kämpfenden Truppe angestaut hat – den Soldaten, die an vorderster Front ihr Leben aufs Spiel setzen und denen man dann sagt, sie wären so etwas wie Mörder, weil sie ihren Feind angreifen und töten. In all den Jahren ist mir nie ein solches Ausmaß an Empörung innerhalb der Navy entgegengeschlagen. Das gilt besonders für die SEALs, die alles geben, aber nichts zu sagen haben.«

Die Interviewerin war eine strahlende blonde Schönheit Ende 20, die eher wie die nächste Miss California aussah als wie die nächste Reporterin des Jahres. »Aber Geoff«, sagte sie, »der Mann gehört doch vors Militärgericht, wenn er unschuldige Zivilisten erschossen hat. Das nennt man Mord, oder nicht?«

Levy gab das Seufzen des wahrhaft Verzweifelten von sich. »Ma’am«, sagte er, »stellen Sie sich folgende Lage vor. Wir sind in einem feindlichen Wüstengebiet, die Temperaturen betragen 40 Grad. Wir sind 15 000 Kilometer von zu Hause entfernt. Wir haben vier brennende Panzer, Männer, amerikanische Soldaten, Ehemänner, Söhne und Freunde sind entweder tot oder verbrennen gerade bei lebendigem Leib. Wir hören die Schreie und das Stöhnen der Sterbenden. Wir haben Angst, es herrscht Panik, Wut und Entsetzen. Wir haben junge Soldaten, denen die Tränen in den Augen stehen. Also ein gottverdammtes Horrorszenarium, das vor unseren eigenen Augen abläuft. Und plötzlich stürmt ein amerikanischer Offizier los und eröffnet das Feuer auf die, die das alles begangen haben. Er schießt sie nieder, vielleicht aus Wut, vielleicht aus Trauer und aus Schmerz über seine verlorenen Kameraden. Aber er schlägt zurück, so wie er es in der Ausbildung gelernt hat, er schlägt zurück inmitten dieses grausamen Gemetzels, wie es die meisten unter uns hoffentlich nie erleben werden … Er schlägt zurück.«

Levy hielt inne und ließ seine Worte nachwirken. Dann fuhr er leise fort: »Und Sie, Ma’am, und andere wie Sie wollen ihn des Mordes anklagen? Ich hoffe, ich habe deutlich gemacht, wogegen sich die Empörung auf der Marinebasis in San Diego richtet.«

Jessica Savold war nicht oft so zurechtgewiesen worden. Es verschlug ihr fast die Sprache bei dieser Lektion, die ihr soeben erteilt worden war. Jessica lebte nicht in der wirklichen Welt, sie lebte im Quasi-Fantasiereich der Medienleute. Die kennen nur einige Fakten, von denen manche sogar wahr sein können, aber sie haben nicht die Zeit oder Geduld, nach dem wahren Kern der Ereignisse zu graben, die sie der Öffentlichkeit vermitteln. In diesem Augenblick verstand Jessica, warum ihre Arbeitgeber 5000 Dollar gezahlt hatten, um die Worte eines großen Zeitungsreporters zu hören, eines Mannes mit gewaltiger Erfahrung. »Danke, Mr. Levy«, sagte sie und zögerte. Jeder weitere Gedankenaustausch war ihr vergangen, es war ihr vergangen, erneut wie ein kleines Kind behandelt zu werden.

Geoff erhob sich und nickte ihr zu. An der Tür aber drehte er sich noch einmal zu ihr um und klopfte sich mit der rechten Hand an die Brust. »Mit ganzem Herzen«, sagte er. »Solange Sie nicht mit ganzem Herzen dabei sind, werden Sie es als Reporterin oder Interviewerin verdammt noch mal zu nichts bringen.« Zum Glück für die glücklose Jessica wurde das nicht mehr von den Kameras eingefangen. Und damit verließ er den Raum und eilte zurück in seine Redaktion, um seinen Jungs aufzutragen, (a) den Namen des SEAL-Offiziers herauszufinden, den er insgeheim für einen großen Helden hielt, und (b) Fakten zusammenzutragen, die ein objektiveres Bild von diesem Todesinferno an der Euphratbrücke lieferten.

Allgemeiner Applaus seiner Kollegen, die die Fox-Übertragung gesehen hatten, empfing ihn, als er in der Redaktion eintraf. Sein Stellvertreter sagte: »Geoff, wir werden mit E-Mails überschwemmt, die Hälfte von denen meint, dieser SEAL-Commander sollte nicht vors Militärgericht gestellt werden, sondern die Medal of Honor verliehen bekommen.«

»Das Problem ist nur«, erwiderte sein Boss, »ich weiß nicht, was zum Teufel dort wirklich vorgeht, nur dass sie ihn wegen Mordes vors Militärgericht bringen wollen und viele Jungs in der SEAL-Basis darüber verdammt sauer sind. Und das muss die Stoßrichtung unserer Story werden – die Empörung darüber. Weil wir auf der Seite der Jungs stehen, die in den Kampf ziehen, weil wir für die Navy sind, nicht wie diese Witzbolde in Washington und ihre Schoßhündchen von Journalisten.« Geoff schloss seine kleine Anfeuerungsrede mit den Worten: »Also los, Jungs, beschaffen wir uns einige handfeste Zitate von Leuten, die Sturm laufen gegen das Ansinnen, unsere Soldaten mit Zivilklagen zu überziehen. Die beschaffen wir uns, und dann hauen wir sie diesen Typen um die Ohren, hier im Telegraph, solange wir die Aufmerksamkeit des ganzen Landes haben.«

Knapp 5000 Kilometer entfernt, im Weißen Haus, stand der Präsident der Vereinigten Staaten vor einem großen Problem. Ja, er hatte grünes Licht gegeben für den Prozess gegen Lieutenant Commander Mack Bedford, hauptsächlich wegen der anstehenden Nahost-Friedensgespräche, aber auch, um den Beschuldigungen des Irak zuvorzukommen, die US-Truppen könnten sich in dem Land zwischen Euphrat und Tigris alles erlauben. Als Oberbefehlshaber der Streitkräfte hatte er der Anklage zugestimmt, weil es dem »größeren Ganzen« dienlich war.

Die Geschichte im San Diego Telegraph allerdings und das Interview mit dem vermaledeiten Chefredakteur hatten ein ganz anderes Licht auf die Sache geworfen. Zur Hölle mit den Nahost-Friedensgesprächen, wenn ihm innenpolitisch ein fürchterlicher Gegenwind um die Nase pfiff, so wie er im Moment an der Küste von Kalifornien entfacht wurde.

Es gab nur wenige unumstößliche Tabus, die alle Präsidenten zu beachten hatten, aber eines davon lautete: Leg dich nie mit der kämpfenden Truppe an. Es gab unzählige Gründe dafür, der wichtigste aber war: Man verscherzte sich die Sympathien der Bevölkerung, die keinem Politiker traute, aber den Boden verehrte, auf dem die US-Spezialkräfte wandelten. In dieser Sache war der Präsident versehentlich auf die falsche Seite geraten, und in seiner tiefen und auch berechnenden Seele wusste er, dass ihm die Sache aus den Händen zu gleiten drohte. Er und seine Berater hatten einen Tiger am Schwanz gepackt, und nun war es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Tiger nicht nur brüllte, sondern auch seine sehr scharfen Zähne zeigte.

Als Oberbefehlshaber der Streitkräfte könnte er natürlich den Prozess jederzeit abblasen. Aber sollte das an die Öffentlichkeit gelangen, würde ihn die liberale Presse in der Luft zerreißen. Er musste also alles irgendwie so hindrehen, dass er die Liberalen besänftigen, die Kopftuchträger beschwichtigen und die Friedensgespräche retten konnte – dazu musste er eine große und ganz unterschiedliche Gruppe von Politikern und Medienleuten unter einen Hut bringen. Anders als ihm aber saß denen kein US-Navy-SEAL-Tiger im Nacken.

Selten hatte ein Militärgerichtsverfahren, das hinter den verschlossenen Türen einer abgeschotteten Marinebasis stattfand, so große Erschütterungen in den Korridoren der Macht ausgelöst. Wie immer es ausgehen sollte, es würde eine Menge Leute in große Schwierigkeiten stürzen, von Mack Bedford und seiner Familie ganz abgesehen.

»Großer Gott«, rief der Präsident aus. Ihm war ziemlich klar, wie der San Diego Telegraph es geschafft hatte, mit der einfachen Geschichte des anonymen Offiziers, der nun vor das Militärgericht gezerrt werden sollte, die Öffentlichkeit aufzuwühlen. Was er nicht ganz verstand, war, warum das Pendel plötzlich in die andere Richtung ausschlug. Nach dem Bericht Al-Dschasiras vom Zwischenfall auf der Brücke im vergangenen Monat hatten die liberalen Medien den Ton angegeben. Soweit er und seine Berater zu sagen vermochten, war die Stimmung in den USA von Wut und Enttäuschung über das Verhalten der SEALs geprägt gewesen. Jetzt plötzlich lagen die Dinge völlig anders. Die liberalen Medien waren wie immer wütend und enttäuscht, die Öffentlichkeit aber sowie die Angehörigen der Streitkräfte standen in der anderen Ecke und waren erzürnt darüber, dass einem mutigen und patriotischen Offizier hier in den USA wie einem gemeinen Verbrecher der Prozess gemacht werden sollte.

Und jetzt drohte die Sache sogar noch die gesamte innenpolitische Diskussion zu dominieren. Das Marineamt in Washington wurde von den Medien belagert. Die Telefonzentrale der Basis in San Diego brach unter dem Ansturm der Zeitungen und Fernsehsender zusammen. Die Leitungen zu den Kommandostellen in Coronado und Virginia Beach wurden von Journalisten blockiert. Reporter, Fotografen und Kameramänner kampierten vor den Toren des SPECWARCOM, sowohl an der West- wie auch an der Ostküste. Ihr Unmut über die mangelnde Kooperationsbereitschaft der US-Marine wuchs von Stunde zu Stunde. Im dritten Stock des Pentagon hatte Admiral Mark Bradfield die eindeutige Anweisung erteilt, nichts über den anstehenden Prozess zu verlautbaren.

Es konnte nur noch Stunden dauern, bis die massierten Reihen des US-Pressekorps auf das Weiße Haus umschwenkten und wissen wollten, ob der Oberbefehlshaber der Streitkräfte das Militärgerichtsverfahren gegen den SEAL-Offizier gutheiße. Sie hatten das Pressebüro des Weißen Hauses bereits darüber in Kenntnis gesetzt, dass es ihnen egal sei, ob sie vom Präsidenten, vom Nationalen Sicherheitsberater, vom Verteidigungsminister oder dem Marinestabschef eine Antwort bekämen. Irgendeiner von ihnen würde genügen. Aber eine Antwort wollten sie.

Doch es kam keine Antwort, von keinem. Die Tage vergingen, bis an einem heiteren kalifornischen Dienstagmorgen Ende Juni im sonnendurchfluteten, klimatisierten Hauptquartier des Navy Trial Service mitten im Herzen der Coronado-Basis das Militärgericht zusammentrat.

Captain Cale »Boomer« Dunning versammelte vor Prozessbeginn sein Gremium in einem Nebenraum. Der Judge Advocate General der Navy, Captain Paul Birmingham, hatte einen eigenen Tisch links des großen geschwungenen Mahagonitisches, an dem das fünfköpfige Richtergremium bei der Verhandlung saß. Hinter dem Stuhl in der Mitte, den Captain Dunning einnehmen würde, standen zwei große, überkreuzte Sternenbanner, dazwischen hing das imposante Emblem der US Navy. Jeweils zwei Ledersessel mit Mahagonirahmen waren an jeder Seite des Tisches platziert.

Zwei Marinewachen schoben bereits am Eingang zum Gerichtssaal Wache. Zwei weitere waren drinnen an jeder Seite der Tür postiert. Vor dem Richtertisch waren zwei weitere große Tische aufgebaut. Der zur Linken war für den Ankläger und seinen Assistenten reserviert; der zur Rechten für Commander Al Surprenant und Lieutenant Commander Mack Bedford. SEAL-Oberbefehlshaber Rear Admiral Andy Carlow und der Oberbefehlshaber der Pazifikflotte, Admiral Bob Gilchrist, nahmen ebenfalls am Verfahren teil. Zwei Gerichtsstenografen dokumentierten die Verhandlungen, Zeugen waren während der Sitzung nicht zugelassen. Sie würden für ihre Aussagen in den Gerichtssaal begleitet, vereidigt und anschließend umgehend nach draußen geführt werden.

Der Prozess begann um neun Uhr. Für ein Militärgerichtsverfahren der Navy war der Saal ziemlich voll, vier Mitglieder des Richtergremiums hatten bereits Platz genommen. Commander Surprenant und der angeklagte Offizier erschienen als Letzte, bevor Captain Dunning Platz nahm und ohne Umschweife das Verfahren eröffnete. »Bitte tragen Sie die Anklage gegen Lieutenant Commander Mackenzie Bedford vor.«

Captain Paul Birmingham richtete sich zu seinen 193 Zentimetern Höhe auf und begann: »Lieutenant Commander Mackenzie Bedford, Foxtrot Platoon, SEAL-Team 10, ist angeklagt, am 29. Mai diesen Jahres in der Republik Irak vorsätzlich zwölf unbewaffnete Einwohner der Stadt Abu Hallah ermordet zu haben …«

Al Surprenant schob seinen Stuhl zurück, sprang auf und rief: »Einspruch!« – was unerhört war in der Geschichte der Militärjustiz der US Navy, nachdem die Anklage noch nicht einmal vollständig vorgetragen und der Ankläger dazu noch kein Wort geäußert hatte; und immerhin war es der oberste Vertreter der Militärgerichtsbarkeit der USA, der hier so rüde unterbrochen wurde.

Paul Birmingham fuhr herum und musterte Al Surprenant, Captain Dunning wirkte verdutzt und wandte sich ratsuchend an Captain Birmingham. Keiner wusste so recht, wie er damit umgehen sollte. Aber das war auch nicht nötig. Denn Al Surprenant erklärte sich sehr schnell und sehr deutlich.

»Captain Dunning, Sir, das Wort ›unbewaffnet‹ ist im Anklagetext nicht zulässig, weil niemand weiß, ob sie bewaffnet gewesen sind oder nicht. Kein Mitglied der US-Streitkräfte oder vom Diplomatischen Dienst hat die Leichen zu Gesicht bekommen. Das Wort ›unbewaffnet‹ beruht daher im besten Fall auf Hörensagen, im schlimmsten Fall auf Unwahrheit. Beides ist nicht akzeptabel. Ich fordere daher, das Wort ›unbewaffnet‹ aus der Anklage zu streichen.«

Captain Dunning wandte sich erneut an Paul Birmingham. »Ihr Ratschlag, bitte.«

Der Judge Advocate General, in einer juristischen Zwickmühle gefangen, erwiderte: »Sir, die Angelegenheit wurde dem Naval Trial Service vorgelegt, der das Wort ›unbewaffnet‹ für statthaft erachtete, bezeichnet es doch den Hauptanklagepunkt der Iraker gegen die USA. Es ist nicht meine Aufgabe, an dieser Stelle den Anklagetext zu ändern, wenngleich ich sehe, dass er Anlass zu Irritationen gibt.«

»Captain Birmingham«, sagte Boomer Dunning. »Wird von mir verlangt, dass ich darüber urteile? Und den Anklagetext ändern lasse?«

»Es wird nicht von Ihnen verlangt, Sir. Aber es steht Ihnen frei, entsprechend zu handeln. Ansonsten können Sie natürlich das Verfahren vertagen und die Sache an die Rechtsabteilung des Pentagon weiterleiten.«

»Ich denke, Lieutenant Commander Bedford hat schon genug darunter zu leiden gehabt, ich möchte die Sache nicht noch weiter hinausschieben«, erwiderte der Gerichtsvorsitzende. »Wir werden fortfahren. Commander Surprenants Einwand wird stattgegeben. Ich verfüge, das Wort ›unbewaffnet‹ aus der Anklage zu streichen, da wir nicht wissen, ob die irakischen Zivilisten unbewaffnet oder bewaffnet gewesen sind. Paul, vielleicht wollen Sie die Änderung festhalten. Admiral Carlow und Gilchrist sollten ihre Zustimmung erteilen. Irgendwelche Einwände?«

Beide signalisierten ihr Einverständnis. Drei Minuten darauf begann Captain Birmingham erneut: »… vorsätzlich zwölf Einwohner der Stadt Abu Hallah ermordet zu haben …«

»Einspruch!« Erneut war Al Surprenant auf den Beinen. »Sir, niemand weiß, ob sie wirklich Einwohner der Stadt Abu Hallah gewesen sind. Wir kennen noch nicht einmal ihre richtigen Namen. Sie könnten mit dem Bus oder auf Kamelen oder was auch immer angereist sein, um am Kampf gegen das SEAL-Platoon teilzunehmen. Ich protestiere entschieden gegen den Ausdruck ›Einwohner‹, da er Bodenständigkeit und Verantwortung suggeriert. Soweit wir wissen, waren sie nichts anderes als umherschweifende Aufständische, Unruhestifter, ohne festen Wohnsitz. Gangster. Ich fordere, diesen Ausdruck aus der Anklage zu streichen.«

»Einspruch stattgegeben«, sagte Captain Dunning. »Vorgehensweise wie zuvor. Streichen Sie ›Einwohner der Stadt‹ und ersetzen Sie es mit ›aus der Umgebung der Stadt‹. Dann versuchen Sie es erneut, Paul«, fügte Captain Dunning nicht uncharmant hinzu. »Natürlich nur, falls Mr. Surprenant keine weiteren Einwände hat.«

Resigniert verlas Captain Birmingham erneut die Anklage. Al Surprenant nickte zustimmend. Der JAG fuhr fort: »Weiterhin wird Lieutenant Commander Bedford beschuldigt, sich rücksichtslosen Verhaltens im Angesicht des Feindes schuldig gemacht und in mehreren Fällen gegen die Dritte Genfer Konvention von 1949 verstoßen zu haben.«

»Einspruch!«, rief Al Surprenant. »Die Genfer Konventionen wurden ursprünglich von 16 Staaten entworfen und unterzeichnet und regeln das Verhalten der Staaten im Kriegszustand, vor allem, was die Behandlung von Kriegsgefangenen und Verwundeten angeht. Staatliche Armeen tragen Uniformen und zeichnen sich durch Verhaltensnormen aus, die auf Gegenseitigkeit beruhen. Die Genfer Konventionen beinhalten nicht den Schutz von gesetzlosen Mörderbanden, die vermutlich illegale Raketen abgefeuert haben.« Surprenant zögerte und wandte sich an den Vorsitzenden, der ihn nachdenklich ansah und dann sagte: »Bitte fahren Sie fort. Es interessiert mich.«

»Sir, wie kann der Angeklagte gegen diese Verhaltens regeln verstoßen haben, wenn sie auf einen terroristischen Konflikt wie diesen überhaupt nicht zutreffen? Genauso gut könnten Sie sich auf die Genfer Konventionen berufen, um Bankräuber oder Hooligans zu schützen. Die Konventionen wurden entworfen zum Schutz staatlicher Streitkräfte, die sich in einem offiziellen Krieg mit einem anderen Staat befinden. Daher fordere ich, diesen Anklagepunkt zu streichen, weil er nicht zutrifft und gar nicht zutreffen kann.«

Captain Dunning sagte nichts, sondern machte sich Notizen und bestimmte dann: »Verteidiger, ich nehme an, der Kläger wird Ihnen darin widersprechen, da es ihm vor allem um die humanitären Umgangsformen geht, die ja das ursprüngliche Ziel der Genfer Verträge waren. Daher gebe ich Ihrem Einwand vorerst nicht statt. Aber das gilt nur vorerst.«

»Danke, Sir«, erwiderte Al Surprenant.

»Gut«, sagte der Vorsitzende. »Vielleicht möchte Commander Parr die Sache der Anklage nun vortragen.«

Harrison Parr aus Maryland erhob sich. »Sir«, sagte er, »es bereitet mir wahrlich kein Vergnügen, einen SEAL der US Navy anzuklagen, einen Mann von vorbildlichem Charakter, dem es sicherlich bestimmt war, auf der Karriereleiter ganz nach oben zu gelangen. Jedem Vertreter der Militärjustiz fällt es schwer, sich hier hinzustellen, um die Karriere eines solchen Mannes zu zerstören, vor allem dann, wenn seine Straftaten – falls sie sich denn als solche erweisen werden – ganz offensichtlich in der Hitze des Gefechts begangen wurden. Die juristische Tradition der US Navy verlangt allerdings ein solches Handeln, das unumgänglich ist, wenn man die Wahrheit herausfinden will. So war es immer. Gentlemen, die Vereinigten Staaten von Amerika werden von einem befreundeten Staat beschuldigt, dessen Bürger ermordet zu haben, Bürger, die laut Aussage der Umstehenden nicht bewaffnet gewesen waren und sich ergeben wollten. Diese grundlegenden Tatsachen sind nicht zu bestreiten. Niemand bestreitet, dass die Iraker die Hände erhoben hatten, niemand bestreitet, dass Lieutenant Commander Bedford auf sie zugerannt ist und jeden Einzelnen der zwölf erschossen hat. Wir haben bereits gehört, dass die Opfer möglicherweise bewaffnet, möglicherweise unbewaffnet waren. Die irakische Regierung allerdings sagt, sie seien unbewaffnet gewesen. Jeder Fernsehbericht im Nahen Osten sagt, sie seien unbewaffnet gewesen. Jeder Zeitungsartikel im Nahen Osten und auch viele in unserem Land erklären, sie seien tatsächlich unbewaffnet gewesen. Es ist die Pflicht jedes westlichen Staates, diese Vorwürfe gründlich zu untersuchen und, falls sie sich als zutreffend herausstellen, den Verantwortlichen entsprechend zu bestrafen.

Es ist meine traurige Aufgabe, vor Sie zu treten und diese Anschuldigungen auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Daher rufe ich den Hauptzeugen der Anklage, Lieutenant Barry Mason vom Foxtrot Platoon des SEAL-Teams auf, seine Aussage abzugeben.«

Lieutenant Mason in seiner makellosen Uniform schwor, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen. Er nannte seinen Namen, seinen Dienstgrad und sein Geburtsdatum; stand in Habachtstellung und antwortete knapp und klar auf Harrison Parrs Fragen.

Sie waren am 29. Mai diesen Jahres bei einem Einsatz am Westufer des Euphrat?

»Jawohl, Sir.«

Dort standen Sie unter dem Befehl von Lieutenant Commander Mack Bedford?

»Zunächst nicht. Ich kam mit dem ersten Konvoi zu einem Rettungseinsatz unter dem Befehl von Lieutenant Harcourt. Aber wir wurden von einer Panzerabwehrrakete getroffen, und alle im Führungspanzer wurden getötet.«

Lieutenant Harcourt?

»Ist tot, Sir. Ich habe ihn zu retten versucht, er konnte seinen Panzer nämlich noch verlassen, verbrannte dann aber bei lebendigem Leib. Ich hatte Glück.«

Und was geschah dann?

»Wir versuchten das Feuer zu löschen und riefen über Funk Hilfe. Lieutenant Commander Bedfords Konvoi erreichte uns etwa 40 Minuten später. Wir unterstanden dann seinem Befehl.«

Und dann?

»Zwei weitere Panzer wurden getroffen, Sir, von Raketen der gleichen Bauart. Sie wurden von der anderen Flussseite aus abgefeuert, vom Stadtrand.«

Woher wissen Sie, dass sie von der anderen Flussseite aus abgefeuert wurden?

»Ich habe die letzten beiden im Anflug gesehen, Sir. Wir hatten nicht die geringste Chance.«

Würden Sie sagen, Lieutenant Commander Bedford war deswegen aufgebracht?

»Er war sehr, sehr wütend, Sir. Einige seiner besten Freunde sind verbrannt, und keiner konnte etwas tun, um sie zu retten. Die Hitze war so stark, dass die Panzerrümpfe schmolzen. Unser anderer Lieutenant hat geweint.«

Haben Sie geweint?

»Ja, Sir.«

Haben die anderen SEALs geweint?

»Ja, Sir.«

Und haben Sie sich als SEAL-Offizier nicht dafür geschämt?

»Nein, Sir. Wir haben alle geweint.«

Das dürfte doch kaum die Reaktion sein, die man von ausgebildeten Kampfeinheiten erwarten würde?

»Sie haben es ja nicht erlebt, Sir. Unsere Jungs sind bei lebendigem Leib verbrannt. Wären Sie dabei gewesen, hätten Sie sich diese Bemerkung gespart.«

Wie Sie meinen. Jetzt erzählen Sie aber dem Gericht vielleicht, was als Nächstes geschah.

Lieutenant Mason war jedoch zu aufgewühlt. Dunning schaltete sich sofort ein, um dem jungen Offizier den peinlichen Moment zu ersparen, ordnete eine zehnminütige Unterbrechung an und befahl den Wachen, dem Lieutenant ein Glas Wasser zu bringen.

Als das Gericht erneut zusammentrat, war Lieutenant Mason bereit für die qualvolle Aufgabe, von jenem Tag im Irak und dem Schrecken zu erzählen, der ihn seitdem jede Nacht in seinen Träumen verfolgte.

Als die Iraker auf die Brücke traten, hatten Sie da irgendwelche Zweifel, dass es tatsächlich dieselben Personen waren, die das Feuer auf den US-Panzer eröffnet hatten?

»Keinerlei Zweifel, Sir. Es waren dieselben. Wir haben sie auf der anderen Flussseite gesehen. Sonst war dort doch niemand.«

Kann das irgendjemand bestätigen?

»Lieutenant Commander Bedford, Sir. Er hat sie etwa zehn Minuten lang durch sein Fernglas beobachtet, bevor sie auf die Brücke marschiert sind.«

Hat er Ihnen das gesagt? Oder haben Sie ihn tatsächlich dabei gesehen?

»Ich habe ihn gesehen. Er hat gleich neben mir gestanden und ständig den Feind beobachtet.«

Aber woher wussten Sie beide, dass die Männer, die die Brücke überqueren wollten, auch die Männer waren, die die Raketen abgefeuert hatten?

»Einspruch! Die Frage ist bereits gestellt und beantwortet worden.« Al Surprenant wirkte äußerst aufgebracht und konnte sich nicht zurückhalten, noch hinzuzufügen: »Natürlich wussten der Lieutenant und sein Befehlshaber genau, wer die Männer auf der Brücke waren.«

»Einspruch stattgegeben«, kam es von Captain Dunning. »Commander Surprenant, vielleicht wollen Sie sich in Zukunft aber auf die Formalia beschränken und davon absehen, Ihre persönlichen Ausführungen zum Besten zu geben.«

»Ich entschuldige mich, Sir«, erwiderte der Verteidiger etwas kleinlaut, aber trotzdem sehr zufrieden mit sich.

Harrison Parr kramte in seinen Papieren, spielte offensichtlich auf Zeit und war etwas beunruhigt über die Heftigkeit, mit der sein Kontrahent seine Argumente vortrug.

Und das war der Zeitpunkt, an dem Lieutenant Commander Bedford mit dem Gewehr im Anschlag auf die Brücke zustürmte?

»Einspruch! Der Ankläger versucht den Zeugen zu lenken.«

»Stattgegeben. Bitte formulieren Sie die Frage neu.« Auch Boomer Dunning war beunruhigt und besorgt über die Verbitterung, die sich schon jetzt bei allen Anwesenden zeigte.

Lieutenant Mason, was haben Sie als Nächstes gesehen?

»Sir, wir starrten alle auf die zwölf Männer, die die Brücke überquerten.«

Hatten diese die Hände erhoben, als wollten sie sich ergeben?

»Sie hatten die Hände erhoben. Ob sie sich ergeben wollten, weiß ich nicht. Es waren ja keine Soldaten, sondern Killer, und mit deren Verhaltensregeln bin ich nicht so vertraut.«

Nun, wenn amerikanische Soldaten auf diese Weise auf Sie zugekommen wären, dann hätten Sie angenommen, dass sie sich ergeben wollten?

»Es waren keine Amerikaner, und es waren auch keine Soldaten. Es waren brutale Mörder, die gerade einen hinterhältigen Angriff auf uns gestartet und einige der besten, loyalsten Männer ausgelöscht hatten, die Sie sich vorstellen können. Diese Dreckskerle können Sie nicht mit Amerikanern vergleichen, Sir. Jedenfalls nicht meiner Meinung nach.«

Erneut schaltete sich Dunning ein, als er bemerkte, wie sehr das alles den jungen Lieutenant mitnahm. »Lieutenant«, sagte er, »ich weiß, es ist sehr schwer für Sie. Wie schwer, werden wohl nur die wenigsten nachvollziehen können. Aber die Frage ist ganz einfach: Wenn Amerikaner in dieser Weise auf Sie zugekommen wären, hätten Sie angenommen, dass sie sich ergeben wollten? Es steht Ihnen frei, mit Ja oder Nein oder mit Ich weiß nicht zu antworten.«

Lieutenant Mason nickte. »Ja, bei Amerikanern würde ich annehmen, dass sie sich ergeben wollen.«

Warum zweifeln Sie dann am Motiv der Iraker, wenn sie mit erhobenen Händen auf Sie zukommen?

»Weil sie das immer so machen, Sir. Sie tun so, als würden sie sich ergeben, aber unter ihrer Kleidung haben sie einen Sprengsatz um den Körper geschnallt.«

Sie glauben das wirklich, Lieutenant?

»Glauben? Ich weiß es! Ein Iraker, der sich ergibt, ist das Gefährlichste, was Ihnen zustoßen kann. Das heißt, was uns zustoßen kann. Sie warten, bis man nahe genug ist, dann zünden sie den Sprengsatz oder eröffnen das Feuer.«

Hat Mackenzie Bedford das auch geglaubt?

»Einspruch! Woher soll Lieutenant Mason wissen, was sein Befehlshaber insgeheim darüber denkt oder glaubt?«

»Stattgegeben. Formulieren Sie die Frage neu, bitte.«

Ist das die weitverbreitete Meinung unter den Spezialkräften im Irak?

»Auf jeden Fall, Sir.«

Gut, Lieutenant, vielleicht wollen Sie nun dem Gericht erzählen, was als Nächstes geschah.

»Ja, Sir. Wir sahen die Iraker über die Brücke kommen. Und Lieutenant Commander Bedford rannte auf die Brücke zu.«

Hatte er dabei sein Gewehr im Anschlag?

»Ja, Sir. Und ich fürchtete, dass er das Feuer auf sie eröffnen wollte.«

Und was haben Sie daraufhin getan, Lieutenant?

»Ich rannte ihm nach, um ihn aufzuhalten, Sir.«

Was Ihnen offensichtlich nicht gelungen ist.

»Nein, Sir. Ich kam zu spät. Lieutenant Commander Bedford eröffnete das Feuer auf sie.«

Hat sich irgendjemand aus dem Platoon daran beteiligt?

»Das kann ich nicht sagen, Sir.«

Gab es jemanden im Foxtrot Platoon, der meinte, er müsste an diesem kaltblütigen Morden teilnehmen?

»Einspruch! Auch diese Frage ist bereits gestellt und beantwortet worden.« Al Surprenant war sichtlich aufgebracht. »Der Ankläger lenkt den Zeugen nicht nur, er schüchtert ihn auch ein. Er stellt die gleiche Frage auf eine Weise, die es erfordert, dass der Lieutenant über die Gefühle anderer Männer spricht. Die er aber gar nicht kennen kann.«

»Einspruch stattgegeben. Und vielleicht möchte sich der Ankläger nun freundlicherweise strikt an militärische Fakten halten. Ich bin mir bewusst, dass dieser Fall bereits jetzt eine seltsame Wendung genommen hat. Wahrscheinlich deshalb, weil Lieutenant Mason hier wohl lieber zugunsten des Angeklagten aussagen würde und nicht gegen ihn. Fahren Sie fort.«

Harrison Parr lächelte gefällig und sagte zu Barry Mason: »Das Gericht weiß, wie schwierig es für Sie ist. Ihnen wurde befohlen, hier zu erscheinen und bei der Anklage des Lieutenant Commander Bedford behilflich zu sein. Sie waren bislang ein ausgezeichneter Zeuge, und ich bin mir sicher, mein gelehrter Freund, Commander Surprenant, wird Ihnen im weiteren Verlauf ausreichend Gelegenheit geben, Ihre persönliche Meinung zum Ausdruck zu bringen.«

»Danke, Sir.« Er sagte nicht »Ja, Sir«, sondern »Danke, Sir«. Und jeder wusste, was er damit zum Ausdruck bringen wollte.

Lieutenant, erinnern Sie sich, was Sie Mack Bedford an der Brücke gesagt haben?

»Ich sagte: ›Nicht schießen.‹«

Angeblich sollen Sie gesagt haben, »Um Gottes willen, nicht schießen«.

»Wahrscheinlich.«

Und darf ich fragen, warum Sie das gesagt haben?

»Weil ich mir dachte, wenn er es macht, dann finden wir uns alle vor diesem Gericht wieder.«

Hielten Sie es für notwendig, sie zu erschießen?

»Ich dachte, es wäre vielleicht nicht nötig, sie zu erschießen.«

Und war Ihnen bewusst, dass die Genfer Konvention es ausdrücklich untersagt, Truppenangehörige zu töten, die sich ergeben?

»Einspruch!« Al Surprenant war erneut aufgesprungen. »Die revidierten Genfer Abkommen verbieten Truppenangehörigen auch, so zu tun, als würden sie sich ergeben. In meinen Augen ist es bar jeder Vernunft, auf so opportunistische Weise die Genfer Abkommen zu zitieren.«

»Stattgegeben. Vorerst werden wir die Genfer Abkommen außen vor lassen.«

Wie Sie meinen. Lieutenant, darf ich annehmen, dass Sie es für kategorisch falsch hielten, diese Männer zu erschießen?

»Nein, Sir. Das dürfen Sie nicht. Ich habe mir nur gedacht, dass es verdammt noch mal nicht gut wäre. Aber es erschien mir nicht falsch.«

Es erschien Ihnen nicht falsch, weil Sie vielleicht nicht eingehend mit den Regeln, die bei Kriegshandlungen zu gelten haben, vertraut sind?

Al Surprenants Stuhl schoss beinahe in die Reihe hinter ihm, so ungestüm sprang er auf. »Einspruch!« Mehr musste er gar nicht mehr sagen.

»Stattgegeben. Und Commander Parr, versuchen Sie sich ins Gedächtnis zu rufen, dass solche Taktiken, von denen man häufig aus Zivilgerichten hört, bei einer Militärgerichtsverhandlung der Navy weder anwendbar noch gerecht sind. Vor allem dann nicht, wenn Sie einen äußerst tapferen jungen Offizier befragen, der im Dienst für sein Land durch die Hölle gegangen ist.«

»Keine weiteren Fragen«, erwiderte Harrison Parr.

Commander Surprenant blieb stehen.

Lieutenant, haben Sie selbst schon miterlebt, dass irakische Aufständische nur so getan haben, als würden sie sich ergeben?

»Ja, Sir. Einmal in Bagdad, einmal in Falludscha.«

Könnten Sie dem Gericht beschreiben, was passiert ist?

»In Bagdad, Sir, hatten wir eine Gruppe von denen in einem Haus in die Enge getrieben, von dem wir wussten, dass darin ein großes Waffen- und Sprengstofflager versteckt war. Etwa ein Dutzend von uns stand draußen, so an die zehn Meter vom Eingang entfernt, als sie plötzlich mit hoch erhobenen Händen herauskamen.«

Ihnen wurde nicht der Befehl gegeben, zu schießen?

»Nein, Sir. Wir sollten das Feuer einstellen.«

Wie viele von ihnen kamen heraus?

»Sechs, Sir.«

Und was geschah dann?

»Als der Letzte auf den Bürgersteig trat, Sir, zündete er einen Sprengsatz, den er am Körper trug, und hinter ihm explodierte das ganze Haus.«

Die sechs starben?

»Ja, Sir. Mit erhobenen Händen.«

Und Ihr Platoon?

»Die beiden jungen SEALs ganz vorn wurden getötet, fünf weitere wurden verletzt, drei davon schwer. Einer von ihnen starb später.«

Und Sie?

»Ein hochgeschleuderter Stein traf meinen Helm und ließ ihn splittern. Sieben Stiche.«

Und wer hatte an jenem Tag den Befehl über das Platoon?

»Lieutenant Commander Bedford, Sir.«

Und in Falludscha?

»Da waren es nur zwei Aufständische. Sie kamen mit erhobenen Händen auf uns zu. Als sie noch fünf Meter entfernt waren, zogen sie plötzlich ihre AKs heraus und eröffneten das Feuer.«

Wurde jemand getroffen?

»Ja, Sir. Zwei unserer Jungs. Aber wir erwiderten das Feuer sofort und töteten die beiden.«

War Lieutenant Commander Bedford dabei?

»Er war nicht bei uns, Sir. Sondern auf der anderen Straßenseite, aber er war der Erste, der kam, um uns mit den Verwundeten zu helfen.«

Gingen Ihnen diese Gedanken durch den Kopf, als Sie sich der Brücke näherten?

»Natürlich. Ich musste mich entscheiden, was mir mehr Angst einjagt – ein Gerichtssaal wie dieser hier oder der Feind, der wieder nur blufft.«

In Ihrem Fall war es der Gerichtssaal?

»Nehme ich mal an. Ich dachte mir wirklich, dass wir ziemliche Schwierigkeiten bekommen, wenn der Boss sie erschießt.«

Aber Sie haben sich gedacht, sie könnten einen Sprengsatz zünden oder eine Waffe auf Sie richten?

»Klar doch. Und mehrere von den Jungs hatten ihre Waffen schussbereit im Anschlag.«

Lieutenant, hat es Sie überrascht zu sehen, dass Lieutenant Commander Bedford zur Brücke rannte und sich den Irakern in den Weg stellte?

»Nein, Sir.«

Warum nicht?

»Mack Bedford führt von vorderster Linie aus, Sir. Hat er schon immer gemacht.«

Hat Ihrer Meinung nach Lieutenant Commander Bedford darauf geachtet, dass er selbst nicht ums Leben kommt?

»Zum Teufel, nein, Sir. Er hat nur auf seine Jungs aufgepasst, die SEALs, die unmittelbar vor der Brücke standen und die volle Wucht abbekommen hätten – ich meine, wenn geschossen oder ein Sprengsatz gezündet worden wäre.«

Wie würden Sie Lieutenant Commander Bedfords Handeln beschreiben?

»Als mutig. Was anderes hätten wir von ihm nicht erwartet. Er ist der beste Offizier, unter dem ich jemals gedient habe.«

Danke, Lieutenant. Keine weiteren Fragen.

Commander Parr rief zwei weitere SEALs in den Zeugenstand, die fast Wort für Wort die wichtigsten Aussagen von Lieutenant Mason bestätigten. Commander Surprenant verzichtete daraufhin, sie beide ins Kreuzverhör zu nehmen, und zog es vor, es bei dem drastischen Eindruck zu belassen, den Barry Masons Worte auf das Gremium gehabt haben mussten.

Commander Parr rief Mackenzie Bedford auf, den Angeklagten, der in einem Militärgerichtsprozess wie diesem erst sein Handeln zu erklären hatte, bevor die Verteidigung ihm Fragen stellen konnte.

Lieutenant Commander Bedford nahm Habachtstellung an und sah weder nach links noch nach rechts. Er hatte keine Notizen bei sich und musterte den Ankläger mit einem Gesichtsausdruck, der gut und gern als furchtlos beschrieben werden konnte. Sein Anwalt Al Surprenant vermittelte den Eindruck einer gespannten Feder, soweit das einem 100 Kilo schweren Mann möglich war. Mack schwor, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, und gab seinen Dienstrang und sein Geburtsdatum an.

Commander Parr begann ohne weitere Umschweife mit der Befragung.

Hatten Sie irgendwelche Zweifel, dass die Männer, die auf die Brücke traten, dieselben waren, die den SEAL-Konvoi mit Raketen angegriffen hatten?

»Nicht die geringsten.«

Wie konnten Sie sich dessen so sicher sein?

»Ich habe sie ziemlich lange durch ein Fernglas beobachtet. Ich habe sie gesehen, bevor sie die zweite Raketensalve abgegeben haben. Ich hätte sie überall wiedererkannt.«

Aber Sie brauchten kein Fernglas, um zu sehen, dass diese Männer anscheinend unbewaffnet waren, oder?

»Was meinen Sie mit ›anscheinend‹? Was zum Teufel soll das heißen? Wenn diese Männer überleben wollen, dann einzig und allein durch ihre List und Tücke. Sie sind Aufständische, keine amerikanischen Handelsvertreter. Sie sind Fährtenleser, Killer, Scharfschützen. Und falls es Sie interessiert, sie haben uns, gut versteckt hinter einer Steinmauer, beschossen.«

Lieutenant Commander, es gibt vor diesem Gericht nicht den geringsten Beweis, dass diese Männer, die jetzt tot sind, sich irgendeines Vergehens schuldig gemacht haben. Und selbst Sie können nicht bestreiten, dass sie sich ergeben wollten.

»Wenn sie sich keiner Tat schuldig gemacht haben, warum sollten sie sich dann ergeben, Sir? Leute, die nichts angestellt haben, haben normalerweise keinen Grund, sich zu ergeben, oder, Sir?«

»Ruhig, Mack.« Captain Dunning konnte es sich nicht verkneifen, dieses warnende Wort auszusprechen. Jeder konnte deutlich sehen, dass der Lieutenant Commander vor Wut beinahe platzte.

Aber nur Sie, Lieutenant Commander, waren sich ihrer Schuld so gewiss, dass Sie es für nötig erachteten, in Aktion zu treten.

»Einspruch!« Al Surprenant schoss hoch. »Mack Bedford kann nicht wissen, ob andere nicht zur selben Schlussfolgerung gelangt waren. Ihm sollten keine Fragen gestellt werden, die er nicht beantworten kann. Er hat nur schneller reagiert. Das ist alles.«

»Stattgegeben.«

Ihre schnelle Reaktion ist, in gewisser Weise, lobenswert, Lieutenant Commander, aber ich behaupte, sie war auch unnötig. Diese Iraker waren harmlose Personen, die sich der Befragung durch die Amerikaner stellen wollten.

»Diese ›harmlosen‹ Iraker hatten 20 meiner Leute auf dem Gewissen! Sie haben sie vor unseren Augen bei lebendigem Leib verbrannt. Wie können Sie auch nur andeuten, ich hätte die Falschen erschossen? Ich bin SEAL-Commander an vorderster Front. Sie sind Anwalt hinter einem großen Schreibtisch. Das sollten Sie nicht vergessen.«

»Streichen Sie die letzte Bemerkung aus dem Protokoll«, sagte Captain Dunning. »Lieutenant Commander Bedford, ich komme nicht umhin, Ihnen zu sagen, dass die Sympathien dieses Gerichts nahezu ausschließlich auf Ihrer Seite sind. Bitte versuchen Sie Ihre nur allzu verständliche Wut im Zaum zu halten. Niemandem hier gefällt das alles, glauben Sie mir. Und ganz bestimmt nicht Commander Parr.«

Mack Bedford nickte, und Harrison Parr setzte seinen beschwerlichen Weg fort.

Ich bin fast fertig, Lieutenant Commander, und muss sagen, dass sich der Standpunkt der Anklage nicht verändert hat – Sie haben diese unbewaffneten Männer in einem Wutanfall …

»Einspruch!« Erneut war Al Surprenant auf den Beinen. »Die Frage, ob sie bewaffnet oder unbewaffnet waren, ist eine Sache der persönlichen Meinung. Keine Tatsache. Das Wort ist aus der Anklageformulierung gestrichen worden. Der Kläger hat kein Recht, es hier wieder einzufügen. Ich fordere, es aus dem Protokoll zu streichen.«

»Einspruch stattgegeben. Streichen Sie das Wort.«

Keine weiteren Fragen.

Der Verteidiger erhob sich wieder. »Lieutenant Commander Bedford«, begann Surprenant. »Meines Wissens zufolge sind Sie seit mehr als zehn Jahren bei den Navy-SEALs und wurden in dieser Zeit zweimal ausgezeichnet.«

»Ja, Sir.«

Meines Wissens wartet auf Sie eine weitere Ehrung, die Ihnen wegen Tapferkeit vor dem Feind bei einem schwierigen Einsatz in Falludscha verliehen wird?

»Ich denke, das ist richtig, Sir.«

Ihre Personalakte als Navy-SEAL ist makellos. Unter Ihren Vorgesetzten gelten Sie als ein Offizier, dem es bestimmt ist, in die höchsten Ränge aufzusteigen.

»Das hoffe ich, Sir.«

Und nun wurden Sie vor dieses Gericht zitiert, damit Sie erklären, warum Sie einen Feind getötet haben, der an jenem unglückseligen Tag kurz zuvor 20 Ihrer Männer getötet, sie bei lebendigem Leib verbrannt und möglicherweise vorhatte, noch mehr Schaden auf der Brücke anzurichten?

»Ja, Sir.«

Sie glaubten, sie wären bewaffnet. Sie haben im Irak dramatische Erfahrungen mit vorgetäuschten Kapitulationen gemacht, die, wie Sie zweifellos wissen, unter den internationalen Bestimmungen zur Kriegsführung vollkommen illegal sind.

»Das weiß ich, Sir.«

Und daher griffen Sie Ihren Gegner an, um weitere Verluste unter Ihren Männern zu vermeiden? Sie wollten kein weiteres Risiko mehr eingehen?

»Richtig, Sir. Keine weiteren Risiken. Sie hatten an jenem Tag verdammt noch mal genug Schaden angerichtet.«

Bevor wir diesen Teil der Verhandlung beenden, möchte ich noch auf einen weiteren Aspekt dieses Angriffs eingehen. Er betrifft die Raketen, die gegen die SEAL-Konvois eingesetzt wurden.

»Ja, Sir. Eine höchst gefährliche Rakete.«

Soweit ich weiß, handelt es sich um eine Panzerabwehrrakete.

»Ja, Sir. Aber um eine Art Überschall-Rakete. Sie schneidet durch die Panzerung, als wäre diese aus Pappe.«

Sie kannten diese Rakete bereits vor jenem 29. Mai?

»Ja, Sir. Die Aufständischen beziehen sie aus dem Iran und haben damit einige Male amerikanische Fahrzeuge angegriffen. Einmal wurde eine solche Rakete auf Camp Hitmen abgefeuert. Sie drang nicht durch, riss aber ein verdammt großes Loch in den Beton.«

Zeichnet sie sich allein durch die Wucht aus, mit der sie die Panzerung durchdringt?

»Nein, Sir. Wodurch sie sich wirklich auszeichnet, ist die Tatsache, dass sie jeden verschmoren lässt – jeden, der sich in der Nähe der Einschlagstelle aufhält.«

Lieutenant Commander, handelt es sich dabei möglicherweise um die von den UN geächteten Diamondhead-Raketen?

»Ja, Sir. Daran hege ich keinerlei Zweifel.«

Danke, Lieutenant Commander. Keine weiteren Fragen.

Captain Dunning wandte sich daraufhin an die Verteidigung. »Verteidiger, wollen Sie noch jemanden aufrufen? Die Anhörung beschränkt sich einzig und allein auf wesentliche Zeugen.«

»Nur einen noch, Sir. Ich rufe Gunner’s Mate Second Class Jack Thomas auf, der als Mack Bedfords Fahrer diente.«

Jack Thomas trat vor und schwor, die Wahrheit zu sagen. Auf Al Surprenants erste Frage antwortete er in seinem breiten Tennessee-Akzent: »Sir, ich habe unter Mack Bedford drei Auslandseinsätze mitgemacht, einen in Afghanistan, zwei im Irak. Wenn es einen besseren Offizier in den US-Streitkräften gibt, dann hab ich ihn noch nicht kennengelernt.«

Al lächelte. »Und über welche Qualitäten verfügt er, damit Sie sich zu einem solchen Lob hinreißen lassen?«

»Sir, an dem Tag bei der Brücke, da konnte ich ihn kaum zurückhalten, ins lodernde Feuer zu stürmen, um Charlie und Billy-Ray und Frank zu retten. Die standen lichterloh in Flammen, blaue Flammen waren das.«

War das für ihn ein ungewöhnliches Verhalten?

»Nein, Sir. Mack Bedford würde alles für seine Männer tun. Er kümmert sich um sie, die ganze Zeit.«

Er war ein guter Offizier im Kampf?

»Der Beste. Fantastischer Scharfschütze, stark wie ein Bär. Der beste Schwimmer des ganzen Stützpunkts. Mack Bedford ist ohne Waffe gefährlicher als die meisten mit einem Maschinengewehr in der Hand.«

Haben Sie ihn jemals im Einsatz gesehen?

»Ja, Sir. In den Bergen im Kampf gegen El-Kaida. Junge, Junge, das war was! Wir haben alle zu ihm aufgeschaut. Wenn man unter Mack dient, egal, wer der Feind ist, egal, wie viele es sind, man hat immer eine reelle Chance, wieder nach Hause zu kommen.«

Danke, Jack. Keine weiteren Fragen.

Captain Dunning fragte in aller Förmlichkeit, ob die Anklage oder die Verteidigung weitere Aussagen abzugeben wünschten. Dabei sollten nicht sämtliche Indizien oder Beweise aufgeführt werden, sondern jede Seite sollte lediglich eine kurze Zusammenfassung des Falls liefern.

Harrison Parr lehnte ab, weil er glaubte, das Gericht habe bereits seine Entscheidung getroffen. Al Surprenant meinte, er würde gern noch kurz zum Gremium sprechen. Captain Dunning nickte.

Mack Bedfords Anwalt trat vor die fünf Offiziere. »Gentlemen«, begann er, »wir haben zwei unstrittige Aussagen gehört. Erstens, die Männer, die die Brücke betraten, waren dieselben, die die Raketen abgefeuert haben. Der Angeklagte hatte sie davor und danach gesehen; niemand hat es gewagt, seine Aussage dazu in Zweifel zu ziehen. Zweitens, eine illegale irakische Rakete hat vier US-Panzer zerstört und 20 SEALs und Rangers getötet. All das steht außer Frage.

Dass sich die Iraker daraufhin ergeben wollten, musste so sehr bezweifelt werden, dass der SEAL-Commander das Feuer auf sie richtete, weil er guten Grund zur Annahme hatte, sie würden, wie schon so oft, ihre Kapitulation nur vortäuschen. Seiner – und meiner – Meinung nach hatten sie an jenem Tag bereits genug Unheil angerichtet. Daher bitte ich das Gericht, Lieutenant Commander Mackenzie Bedford in allen Anklagepunkten freizusprechen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«

Dunning erhob sich und ordnete eine zweistündige Mittagspause an. Das Gericht würde um 14 Uhr wieder zusammentreffen, um das Urteil zu verkünden.

Dunning verließ als Erster den Raum, gefolgt von seinem vierköpfigen Gremium. Mack Bedford gesellte sich zu Commander Surprenant und streckte ihm die Hand entgegen. »Danke, Sir. Keiner hätte mehr für mich tun können.«

»Die Mordanklage sollte vom Tisch sein«, erwiderte Al. »Und die Genfer Konventionen habe ich beiseitegewischt. Unser einziges Problem besteht darin, dass man das Gremium angewiesen hat, Sie für irgendetwas schuldig zu befinden. Um die Medien zu besänftigen und die Nahost-Friedensgespräche nicht zu gefährden. Ich halte die Navy für nicht unbedingt korrupt, aber unser Oberbefehlshaber ist der Präsident, und falls er das Verteidigungsministerium dazu gedrängt hat, Sie nicht gänzlich reinzuwaschen, könnten Probleme auf uns zukommen.«

»Aber was habe ich mir denn zu Schulden kommen lassen?«

»Nichts. Trotzdem muss ich Sie warnen – hier mischen im Hintergrund auch die Politiker mit. Vielleicht wollen sie, dass Sie wegen irgendeiner kleinen Verfehlung schuldig gesprochen werden, dann kann man Sie entlassen.«

»Entlassen? Sie meinen, meine Karriere wäre zu Ende?«

»Möglich. Eine ehrenhafte Entlassung mit vollen Pensionsansprüchen zwar, aber dennoch eine Entlassung, möglicherweise wegen rücksichtslosen Verhaltens im Angesicht des Feindes.«

»Mein Gott – Sie meinen, sie können mich einfach so rauswerfen, ohne Berufungsverfahren?«

»Das können sie. Aber ich meine auch, dass niemand das will. Es hängt nur von dem Druck ab, den die verdammten Politiker auf die Navy ausüben. Den Leuten bedeutet das Leben und die Karriere irgendeines Marineoffiziers herzlich wenig. Sie wären nur ein kleines Opfer, damit die Friedensbemühungen für den gesamten Nahen Osten vorangetrieben werden können.«

»Ein kleines Opfer – für sie schon«, sagte Mack.

»Ja, aber nicht, wenn man zufällig Lieutenant Commander Mackenzie Bedford heißt, stimmt’s?«

Captain Dunning und seine vier Gremiumsmitglieder versammelten sich in einem kleinen Nebenraum hinter dem Gerichtssaal. Sandwiches und Mineralwasser wurden gereicht, draußen im Gang schoben zwei bewaffnete Navys Wache. Die Atmosphäre war sehr förmlich und unerklärlich angespannt. Kein Lächeln wurde ausgetauscht, während die Männer das Für und Wider abwägten, das die Karriere und das Leben eines der herausragendsten SEAL-Offiziere des Stützpunkts zerstören konnte.

»Gentlemen«, sagte Dunning, »ich möchte als Erstes auf den kritischen Punkt zu sprechen kommen, der zentral ist für die Anklage wegen Mordes. Es geht um die Frage nach der Kapitulation. Denn hätte lediglich ein Feuergefecht über den Fluss hinweg stattgefunden, hätte Mack niemals angegriffen.«

Alle nickten zustimmend.

»Allerdings liegen die Dinge hier etwas anders, wie uns allen klar ist.« Der Captain las von seinen Notizen ab und anschließend aus einer Akte, die er vor sich liegen hatte. »Die Genfer Abkommen erlauben Kriegslisten, um den Feind zu täuschen oder in die Irre zu führen. So viel steht fest, gleichgültig, ob wir Commander Surprenant hinsichtlich deren Relevanz in diesem besonderen Fall zustimmen oder nicht. Ich übrigens teile in diesem Punkt seine Meinung. Dennoch sind laut dem Ersten Zusatzprotokoll einige heimtückische Aktionen ausdrücklich verboten, dazu gehört, ich zitiere, ›das Vortäuschen der Absicht, unter einer Parlamentärflagge zu verhandeln oder sich zu ergeben‹. Der Kern dieser Aussage liegt auf der Hand. Heimtückische Handlungen wie diese sind strikt untersagt, da Soldaten ansonsten argwöhnen müssten, alle sich ergebenden Kombattanten würden ihnen nur etwas vorgaukeln. Was schreckliche Folgen nach sich ziehen würde; die schlimmste davon wäre wohl, dass niemand mehr wagen würde, überhaupt Gegner in Gefangenschaft zu nehmen, sondern sie gleich auf der Stelle tötet.«

Dunning hielt inne und sah sich um. Alle sahen ernst und nachdenklich aus und schienen gewillt, den Ausführungen des ehemaligen Atom-U-Boot-Kommandanten zu folgen.

»Es gibt zahlreiche Beispiele von irakischen Terroristen, die lediglich so taten, als wollten sie sich ergeben. Mack Bedford hatte allen Grund, vorsichtig zu sein und kein Risiko einzugehen. Ich erachte ihn im Anklagepunkt des Mordes für nicht schuldig. Ist jemand anderer Meinung?«

Jeder verneinte, wie Captain Dunning vorhergesehen hatte. Jedem musste klar sein, dass dieses Verfahren seinen eigenen Gesetzen folgte. Kein Militärgericht der Navy würde einen Lieutenant Commander wegen Mordes verurteilen. Nicht, wenn man es nicht auf einen offenen Aufstand der US-Streitkräfte ankommen lassen wollte.

Hinsichtlich der Genfer Konventionen sagte Dunning lediglich: »Surprenant hat schlicht und einfach recht. Das Abkommen kann nicht auf diese Mörderbande mit ihren illegalen Raketen angewandt werden. Mit Ihrer Zustimmung möchte ich anordnen, dass alle Anklagepunkte bezüglich des Kriegsrechts fallengelassen werden. Einverstanden?«

»Einverstanden.«

»Das führt uns zum letzten, untergeordneten Punkt, zum rücksichtslosen Verhalten im Angesicht des Feindes.« Deprimiert sprach Captain Dunning damit die ärgerliche Vorgabe an, den SEAL-Commander für irgendetwas zu verurteilen. Der Befehl dazu kam von ganz oben. Würde er sich nicht fügen, widersetzte er sich dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte, dem Präsidenten selbst. Dunning war insgeheim des gesamten Verfahrens überdrüssig. Rücksichtsloses Verhalten! Großer Gott, diese durchgeknallten Ärsche hatten 20 Soldaten der Spezialkräfte umgelegt. Und er, Boomer, war mit der Aufgabe betraut, Lieutenant Commander Bedford des rücksichtslosen Verhaltens für schuldig zu befinden!

Vertrauensvoll wandte er sich an das Gremium. »Hören Sie, keinem von uns gefällt es, dass man uns mehr oder weniger vorschreibt, Mack wegen Rücksichtslosigkeit zu verurteilen. Ich möchte Sie daher alle bitten, mir Ihre Ansichten mitzuteilen.«

Alle drei Lieutenant Commander ließen sich nur ungern darauf ein, wagten aber nicht, sich dem Wunsch des Vorsitzenden zu widersetzen. Das vierte und jüngste Mitglied, Lieutenant Jonjo Adams aus Alabama, ein SEAL, war sichtlich aufgebracht. Er sah zu Boomer und sagte mit leiser Stimme: »Sir, wie alle bin ich stolz darauf, unter Mack Bedford gedient zu haben. Und wenn wir 1000 Stunden hier zusammensitzen, werde ich nichts finden, wessen er sich schuldig gemacht hat. Er hat das Richtige getan. Ich war damals in Bagdad dabei, als der Sprengsatz hochging, den sich einer von den Typen, die sich angeblich ergeben wollten, um den Bauch geschnallt hatte. Einem Kumpel von mir wurde der Kopf abgerissen. Wäre ich mit Mack auf der Brücke gewesen, hätte ich sie selber erschossen.«

»Ich verstehe«, erwiderte Boomer. »Und da es mir genauso geht, werde ich ihn in diesem Anklagepunkt nicht für schuldig befinden. Das ist das Beste, was ich tun kann. Aber mir ist aufgetragen, ihn in irgendeiner Weise zu maßregeln. Das ist das absolute Minimum, was ich« – er hielt fast zehn Sekunden lang inne, bevor er hervorstieß – »in diesem beschissenen, verfluchten Fall tun muss.« Alle vier Gremiumsmitglieder sahen, wie sich Dunning mit dem Ärmel über die Augen wischte, dann ging er zur gegenüberliegenden Wand, weil er es nicht ertragen konnte, dass die anderen ihn so aufgelöst erlebten.

Sie aßen schweigend ihre Sandwiches. Gegen 14 Uhr kehrten alle fünf in den Gerichtssaal zurück und nahmen ihre Plätze ein. Alle anderen waren bereits anwesend.

Captain Dunning sparte sich jede Vorrede, sondern sagte nur: »Lieutenant Commander Mackenzie Bedford, Sie wurden angeklagt, zwölf irakische Bürger ermordet zu haben. Das Gericht befindet Sie für nicht schuldig. Sie wurden angeklagt, gegen mehrere Bestimmungen der Genfer Konventionen verstoßen zu haben, die das Gericht dank der klugen Ratschläge des Verteidigers, Commander Surprenant, schon vorab verworfen hat. Sie wurden weiterhin des rücksichtslosen Verhaltens im Angesicht des Feindes angeklagt. Das Gericht befindet Sie für nicht schuldig.«

Mack Bedford drehte sich bereits zu seinem Anwalt um und wollte ihm die Hand schütteln. Aber Captain Dunning war noch nicht fertig.

»Das Gericht allerdings ist der Auffassung, dass die militärische Operation nicht den allgemeinen Vorschriften entsprochen hat. Mehrere SEALs waren feuerbereit, falls sich die Kapitulation als vorgetäuscht herausgestellt hätte. Und das Gericht entdeckte in Ihrem Vorgehen ein Element der Panik. Eingedenk dessen erlasse ich gegen Lieutenant Commander Bedford als dienstliche Maßregelung ein GOMOR, ein General Officer Memorandum of Reprimand. Die Sitzung ist beendet.«

Mack Bedford war kreidebleich. Er wandte sich an Al Surprenant und hätte fast laut aufgeschrien. »Sir, das ist das Ende meiner Laufbahn als SEAL-Teamführer. Ich werde keine Führungsposition mehr einnehmen, ich werde nicht mehr befördert.«

»Wie ich befürchtet habe«, erwiderte sein Anwalt. »Genau wie ich befürchtet habe.«