KAPITEL DREI

Meine liebste Anne,

im Moment scheint alles in Trümmern zu liegen. Nur der Gedanke, dich und Tommy wiederzusehen, hält mich aufrecht. Die Navy zeigt sich sehr großzügig, was meine Abfindung, die Pension und unsere Krankenversicherung betrifft. Commander Surprenant meint, es sei das schlechte Gewissen.

Übrigens, einer der Jungs aus dem Militärgerichtsgremium hat »aus Ekel« seinen Abschied eingereicht. Es ist Brian Antrim, Lieutenant Commander und Raketenoffizier auf Überwassereinheiten. Der Prozess sorgt für ziemlich viel Wirbel, wenigstens wurde aber mein Name nicht öffentlich genannt.

Natürlich hätte ich noch irgendeinen Bürojob erledigen können, in der Nachrichtenabteilung oder bei der Einsatzplanung. Aber ich wäre nie aufgestiegen, damit ist es vorbei, wenn einem ein GOMOR aufgebrummt wird. Außerdem kenne ich nichts anderes als Kampfeinheiten, und die sind mir jetzt verwehrt.

Für einen arbeitslosen Teamführer ist hier kein Platz. Deshalb heißt es, Sayonara SEALs. Weiß Gott, was mit uns jetzt geschieht. Einige sehr hochrangige Jungs haben mir ihre Hilfe angeboten. Aber ich denke, wir sollten uns jetzt erst einmal auf Tommy konzentrieren und dafür sorgen, dass er gesund wird. Sag ihm, er soll sich schon mal darauf gefasst machen, dass er mit seinem Dad jetzt öfter zum Angeln muss.


Alles Liebe, und bis nächste Woche

Mack

Nach den vielen Jahren war es der letzte Brief, den er an diesem doch so sehr vertrauten Ort aufgab. Mack würde am Dienstag von der North Air Station mit einer Navy-Maschine nach Norfolk, Virginia, fliegen und von dort weiter zur New Brunswick Navy Station in Maine. Von dort würde ihn ein Bus nach Hause bringen.

Auf dem Rückweg vom Briefkasten kam er an zwei jungen SEALs vorbei, die zum Teil noch von ihm ausgebildet worden waren. Beide salutierten zackig, aber es war nicht mehr wie früher. Etwas lag in ihrem Blick, etwas Argwöhnisches, Vorsichtiges, als würden sie ihren militärischen Gruß der falschen Person entrichten, einem Ausgestoßenen, der eigentlich gar nicht mehr hier sein durfte.

Jeder wusste, dass Mack Bedford erledigt war, warum, das wussten allerdings nur die wenigsten. Diese wenigen neigten dazu, in diesen letzten Tagen zu ihm auf Distanz zu gehen. Sie hielten sich von dem Mann fern, dem man das Herz gebrochen hatte. Einem Mann, dessen Trauer und Kummer auf einem Marinestützpunkt fehl am Platz waren – hier, wo junge Tiger auf Touren gebracht wurden, um dem Feind gegenüberzutreten.

Mack Bedford verstand es. Seine Freunde waren tot. Seine Bekannten hielten Abstand. Es gab nicht mehr viel zu sagen an diesem Ausbildungsstützpunkt, wo nur Siege auf dem Schlachtfeld für Freude sorgten und Niederlagen keinen Platz hatten. Lieutenant Commander Bedford war zur Verkörperung einer solchen Niederlage geworden.

Er nahm die Mahlzeiten allein auf seinem Zimmer ein, hauptsächlich deshalb, weil ihm die Gespräche mit den anderen mehr und mehr lästig wurden. Wie oft konnte man es ertragen, von anderen SEALs zu hören, wie leid es ihnen tue, dass das alles geschehen war, und wie sehr man ihn vermissen würde?

Was gab es noch zu sagen? Sicherlich nicht die schwer verdauliche Wahrheit, dass er in den dunklen Momenten seiner Verzweiflung mehr als einmal daran gedacht hatte, sich das Gehirn wegzublasen. Und wäre er nicht mit der außergewöhnlich schönen Anne verheiratet gewesen, hätte er nicht einen kleinen Jungen gehabt, der ihn so dringend brauchte, dann hätte er es vielleicht getan. SEALs tragen ihre Seele nicht zur Schau. Selbstreflexion ist in ihrem Gewerbe nicht sonderlich gefragt. Sie werden dazu ausgebildet, persönliche Gefühle und Bedürfnisse zu ignorieren – und jeden Einsatz erfolgreich zu beenden. Sie werden körperlich so hart rangenommen, dass sie fast daran zerbrechen. Und sie werden dazu ausgebildet, zu töten. Den Feind gefangen zu nehmen oder zu töten, im Dienst für die Vereinigten Staaten von Amerika, nichts anderes. Solche Männer haben meist nicht viel dafür übrig, sich selbst zu bedauern.

»Ach, zum Teufel, es geht mir gut.« – »Macht euch um mich mal keine Sorgen. Ich hab einige Sachen in Aussicht.« – »Vielleicht ein Sicherheitsunternehmen oder Teilhaber auf einem Fischerboot in Maine. Es gibt mehrere Möglichkeiten.« – »Wie auch immer, ich war wahrscheinlich lang genug in der Navy.«

Lang genug? Wie konnte es jemals lange genug sein? Wie lang wäre das? 1000 Jahre? Weil es sicherlich 1000 Jahre dauern würde, bis er den Ehrenkodex der SEALs in einen dunklen Winkel seines Gedächtnisses verbannt hätte.

Mack Bedford konnte sich kaum mehr an ein anderes Leben erinnern. Er kannte nur Disziplin und nicht hinterfragbare Verhaltensnormen: Was wurde von ihm erwartet, und, als er allmählich immer höher aufstieg, was erwartete er von den jungen Männern, die an seiner Seite kämpften?

Er hatte einmal das Buch von John Bertrand gelesen, das ihn nachhaltig beeindruckt hatte. Bertrand war Steuermann auf der siegreichen australischen Jacht beim America’s Cup 1983 gewesen. Der Australier schrieb über die Crew auf seiner Rennjacht, von den Männern, die unter den Augen eines weltweiten Publikums gegen die Amerikaner antraten und sie entgegen jeder Wahrscheinlichkeit besiegten. »Du kannst ziemlich weit kommen, wenn du ihnen Angst einjagst«, schrieb er. »Aber wenn du das Letzte aus ihnen herausholen willst, dann müssen sie dich lieben.«

Macks Männer hatten ihn immer geliebt. Sie würden seine Befehle vermissen, die manchmal vorsichtig, manchmal wagemutig klangen, aber immer vernünftig waren. Den meisten war noch gar nicht klar, wie sehr er ihnen fehlen würde. Alles, was sie insgeheim spürten, war Angst. Wie zum Teufel wird es da draußen sein, wenn der Boss nicht mehr dabei ist?

Die letzten drei Tage zogen sich hin. Mack verbrachte den größten Teil der Zeit allein. Er packte seine Sachen und schickte einige Bücher und Erinnerungsstücke nach Maine, seine Uniformen, die persönliche SEAL-Ausrüstung, die Tauchermaske und die Flossen mit der Nummer, die ihm bei der Kampfschwimmerausbildung verliehen worden war. Er würde den Heimweg in Zivilkleidung antreten, nur mit seiner großen, verschrammten Ledertasche, die er in die Hölle und wieder zurück getragen hatte, von den afghanischen Bergen nach Bagdad, Ramadi, Katar und Kuwait.

Gleich morgen früh würde Jack Thomas ihn zur North Air Station mitten in der San Diego Bay bringen. Bis dahin, keine 24 Stunden vor seiner Abreise, wollte er noch einmal die vier Meilen lange Strecke am Strand in Angriff nehmen, ein letzter Trainingslauf am Meer, mitten hinein in seine Erinnerungen, ein letzter Versuch, an seine körperlichen Grenzen zu gehen.

Natürlich ließ er es am unbedingten Einsatzwillen missen, den er an den Tag gelegt hätte, wenn er sich auf einen Kampfeinsatz irgendwo im Ausland vorbereitet hätte. Jetzt lief er aus keinem bestimmten Grund. Er lief einfach so … na ja … um sich an die guten Zeiten zu erinnern. Und im Unterschied zu früher lief er jetzt allein.

Er joggte zum Meer hinunter. Weiter unten am Strand konnte er eine Ausbildungsgruppe erkennen, die in einer langen, ausgefransten Reihe auf ihn zukam; die Rekruten keuchten, strauchelten, trieben sich gegenseitig an, waren kurz davor, einfach liegen zu bleiben, an ihrer Seite die Ausbilder, die sie anbrüllten und herausfinden wollten, wer nicht alles gab, wer aufgeben wollte, wer nichts mehr zuzusetzen hatte. Es hatte sich nicht viel verändert an diesem SEAL-Ausbildungsstrand in Coronado, wo Woche für Woche Seelen gebrochen, Ansehen erworben und Männer zu Männern gemacht wurden, von denen sie niemals geträumt hatten.

Mack sah auf der Terrasse des Hotel del Coronado einige Gäste stehen, die die Jungs bei ihrem Lauf beobachteten. Es sah aus wie die Eröffnungsszene von Die Stunde des Siegers, diese Läufer aber waren nicht die sorglosen jungen Männer des Cambridge University Athletic Club von 1920. Diese Läufer hier in Coronado trugen Khaki, die Farbe gewaltbereiter Männer.

Der vom Meer angeschwemmte Sand war der Ort, wo die Navy SEALs sich darauf vorbereiteten, in den Krieg zu ziehen. Ein Ort, wo Träume zerbrachen, Zukunftspläne zerstört, die eigenen Grenzen schonungslos aufgedeckt wurden. Wo nur die Besten der Besten überleben konnten.

Mein Land erwartet von mir, dass ich körperlich und mental stärker bin als mein Feind … Werde ich niedergeschlagen, stehe ich wieder auf, immer wieder … ich kämpfe weiter, immer … ich bin ein Navy SEAL der Vereinigten Staaten.

Diese Worte, das Glaubensbekenntnis der SEALs, gingen Mack Bedford durch den Kopf, als er sich zu seinem Lauf aufmachte. Bei jedem Schritt legte er sich ins Zeug, jeder Meter auf dem nassen Sand verlangte ihm alles ab. Nur so konnte die Strecke beendet werden; nur so, indem er jeden Meter zum härtesten Meter machte, den er jemals zurückgelegt hatte, wurde man zum Besten. Was anderes zählte nicht.

Nach einer Meile passierte Mack die Ausbildungsgruppe, und dann trieb er sich zur Zwei-Meilen-Marke an, wo er umdrehte und mit aller Kraft zum Ausgangspunkt zurückrannte. Nur sehr wenige der Rekruten würden jemals eine solche Fitness erreichen. Mack Bedfords langjähriges, brutales tägliches Training – er lief, er stemmte Gewichte, er schwamm – hatte ihm immense Kraft verliehen. Er war anders als die anderen, nichts an ihm war so wie bei den anderen Männern.

Er musste lächeln, als er zu der Gruppe sah, die schwitzend und ächzend Baumstämme im Umfang von Telefonmasten stemmte, unter denen die Einzelnen fast zusammenbrachen, wenn sie das gewaltige Gewicht über ihren Kopf hievten. Mack sah ihnen zu, bis die Stämme auf den Sand donnerten, er hörte den vertrauten dumpfen Aufprall und dann das alte SEAL-Ritual.

Führer der Klasse: Ausbilder Mills!

Worauf die Gruppe sofort losbrüllte: Hoo-jaa, Ausbilder Mills!

Keiner konnte sich daran erinnern, wann dieser Ausdruck der US Navy SEALs eingeführt worden war: »Hoo-jaa.« Damit grüßte die Gruppe ihren Ausbilder, man sagte es, wenn man »Verstanden, wird gemacht« meinte, man benutzte es statt »jawohl« und »sofort, Sir«.

Mack Bedford, der nach Luft ringend am Strand stand, erinnerte sich an seine eigene Zeit als SEAL-Ausbilder. Er hatte den Jungs eine Heidenangst eingejagt, sie angetrieben, gedemütigt, auf die Probe gestellt, um herauszufinden, wie viel Schikane jeder von ihnen ertragen konnte, ohne zusammenzubrechen. Wie bewegend war es gewesen, wenn am Ende die Überlebenden verstanden, dass er für sie nur das Beste wollte.

Hoo-jaa, Ausbilder Bedford!

Das war jetzt vorbei. Er ging den Strand zurück, vorbei am »Schleifstein«, dem asphaltierten Rechteck, auf dem Generationen von Rekruten alles gegeben hatten, um richtige SEALs zu werden. Auf diesem Rechteck wurden auch die goldenen Dreizacke überreicht. Hier war Mack Bedford, Bester seiner Ausbildungsklasse, von einem SEAL-Admiral der Dreizack überreicht worden. Nie hatte er mehr Stolz empfunden als in diesem Augenblick.

Am Abend aß er allein in seinem Zimmer. Er hätte die Gesellschaft anderer nicht ertragen, ihr Verständnis, ihre Fragen, ihre Unterstützung, ihr Mitgefühl. Nicht heute Abend. Er saß in der Einsamkeit und versuchte sich damit abzufinden, dass er innerhalb von fünf Wochen von einem hoch angesehenen Lieutenant Commander zu einem Zivilisten geworden war, dem für alle Zeit sein Disziplinarverfahren nachhängen würde.

Captain Dunning hatte das Wort »Panik« erwähnt. Welch entsetzlicher Vorwurf. Wäre Mack gefragt worden, hätte er sich für »blinde Wut« entschieden. Aber nicht »Panik«. Er griff nach seinem Lexikon, das er immer im Zimmer hatte. Die Definition, die er darin zu lesen bekam, verschlimmerte alles nur: Panik – Gefühl von Furcht und Angst. Wenn jemand auf der Brücke in Panik geraten war, dann ganz bestimmt nicht er. Man hätte ihn vielleicht zu Recht anklagen können, dass er Rache für seine toten Freunde genommen hatte, vielleicht sogar, dass er zu unverhältnismäßiger Gewalt gegriffen hatte. Schließlich war alles in seiner »Stunde des Wolfs« geschehen. Aber nicht Furcht und Angst. Zum Teufel damit.

Mack machte die ganze letzte Nacht lang in seiner Alma Mater, im SPECWARCOM, kein Auge zu. Eine Nacht, von der er niemals gedacht hatte, dass sie jemals kommen würde. Sollte er einschlafen, würde er als Zivilist wieder aufwachen. Vielleicht war das der Grund, warum er wach lag, an die Decke starrte und sich das Gehirn mit den Ereignissen zermarterte, auf die er keinen Einfluss mehr hatte. Bei Anbruch der Morgendämmerung stand er auf, duschte und zog sich Zivilkleidung an. Ein sauberes weißes Hemd, dunkelgraue Hose, Halbschuhe und einen blauen Blazer. Keine Krawatte, trotzdem sah er von Kopf bis Fuß wie ein Offizier aus. Er nahm die Morgenzeitung zur Hand und trank eine Tasse Kaffee, schwarz mit Zucker, und dann wartete er, dass es 7.30 Uhr wurde, damit Lieutenant Barry Mason ihn abholen und mit ihm zum gepanzerten Fahrzeug gehen würde, das ihn zum Flugplatz brachte. Er kam sich vor wie jemand, der auf seinen Henker wartete.

Barry Mason war pünktlich zur Stelle und griff sich die Ledertasche. Keinem der beiden war zum Reden zumute. Der junge Lieutenant nickte nur und sagte: »Mack, das ist wahrscheinlich der beschissenste Tag in meinem Leben.«

»Meiner auch«, sagte der Boss.

Sie traten ins Morgenlicht und machten sich auf den 200 Meter langen Weg zum Haupttor. Erst jetzt bemerkten sie die vielen Menschen, die sich um den Eingang drängten, wo das Fahrzeug auf ihn wartete. Schnell wurde klar, dass sie eine Art Formation bildeten und alle aus dem SPECWARCOM, Offiziere wie andere Dienstgrade, an diesem Morgen am Tor angetreten waren.

Schweigend standen sie da. Es war, unverkennbar, ihr stiller Protest gegen die »Gerechtigkeit«, die dem SEAL-Offizier widerfahren war. Mack und Barry schritten durch die beiden vier Mann tief stehenden Reihen, zwischen den Männern hindurch, die keine Miene verzogen, bis plötzlich ein Chief Petty Officer in voller Lautstärke brüllte: Lieutenant Commander Mackenzie Bedford! Die dröhnende, so oft eingeübte und dennoch spontane Erwiderung der SEALs zerschnitt die Morgenluft und hallte am klaren Himmel nach – Hoo-jaa, Mack Bedford! Ein Schrei aus tiefster, verstörter Seele. Das letzte Hoo-jaa.

Mack Bedford sah weder nach links noch nach rechts. Doch als er das Tor erreichte und die Schranke hochging, drehte er sich ein letztes Mal um und salutierte ihnen allen. Dann wandte er sich zum wartenden Wagen. Und keiner sah, wie er mit den Tränen zu kämpfen hatte.

Schweigend fuhren sie die vertraute Strecke hinaus nach North Island. Sie hielten am Verwaltungsgebäude und traten in den Wartebereich. Die Motoren der Lockheed Aries liefen bereits, und Lieutenant Mason trug Macks Tasche zu den Stufen, die zur Kabine hinaufführten. Er reichte sie ihm. Daneben stand Jack Thomas, der sichtlich bewegt war.

Mack setzte die Tasche ab und umarmte ihn. »Danke, Jack«, sagte er. »Danke für alles.«

Jack brachte nur ein »Auf Wiedersehen, Sir«, heraus.

Der Lieutenant Commander nahm die Tasche in die linke Hand und ging zu Barry Mason. »Auf Wiedersehen, Junge«, sagte er. »Es war mir eine Ehre, mit dir dienen zu dürfen.«

Lieutenant Mason schüttelte Mack die Hand. »Für mich werden Sie immer ein Held sein, Sir.«

Und damit verließ Mackenzie Bedford sie, schritt schnell die Stufen hinauf und nahm auf der rechten Seite der Maschine Platz. Die Tür wurde geschlossen, und sofort rollte das Flugzeug ans Ende der Startbahn. Beide SEALs sahen der Maschine nach, die über den Asphalt raste, bis sie mit 320 Stundenkilometern abhob, nach Südwesten abdrehte und den großen Militärfriedhof Point Loma steuerbords zurückließ.

Oben starrte Mack aus dem Fester auf die endlos wirkenden Reihen weißer und grauer Grabsteine und musste an Frank und Charlie und Billy-Ray und die anderen denken. Die Trauer schien ihn zu überwältigen. Erneut spürte er, wie die »Stunde des Wolfs« anbrach, die Wut, die Verärgerung, das Bedürfnis nach brutaler Rache. Doch dafür war es zu spät. Viel zu spät.

Unten standen Barry und Jack am Rand der Rollbahn in Habachtstellung. Als die Maschine abhob, salutierten sie dem SEAL-Commander ein letztes Mal. Dann schüttelte Barry Mason den Kopf und sagte: »Hoo-jaa, Mack. Du warst ein großartiger Offizier.«

Die Aries drehte scharf nach links über die westlichen Ausläufer der San Diego Bay und ging auf Kurs über den südlichen Abschnitt der Stadt und dann über die nördlichen Gipfel der Sierra Madre. Von hier aus ging es nach Osten, direkt über Arizona, New Mexico, Nordtexas und Oklahoma hinweg. Mit etwa 800 km/h erreichten sie Tennessee, flogen nördlich von Memphis und Nashville vorbei, überquerten die Appalachen und gingen über North Carolina auf 6000 Meter herab, bevor sie in Norfolk landeten, der großen US-Marinebasis gleich an der Südgrenze des Bundesstaates Virginia.

Es war 18 Uhr, sie waren pünktlich eingetroffen. Macks Weiterflug, eine weitere Aries, wartete bereits mit laufenden Motoren, als könnte es die Navy kaum erwarten, Mackenzie Bedford loszuwerden.

Mack nahm sich seine Tasche, ging die Stufen der einen Maschine hinunter und stieg 50 Meter weiter die Stufen zur nächsten hinauf. Keiner begleitete ihn, keiner sprach ihn an oder nahm Kontakt auf. Außer der Besatzung war in der zweiten Maschine niemand an Bord. Sie hoben für den 1000 Kilometer langen Flug in den nordöstlichsten Bundesstaat der USA sofort ab.

Der Flug dauerte gut zwei Stunden. Als die Maschine aufsetzte, gegen 21 Uhr, war es bereits dunkel. Der letzte Bus von Brunswick über die malerische Route 127 nach Georgetown und Bay Point war längst fort. Mack wurde ein Offizierszimmer zugeteilt, in dem er die Nacht verbrachte. Am folgenden Morgen, kurz nach sieben Uhr, verließ er den Stützpunkt und ging zur Bushaltestelle.

Es war bereits warm, Seemöwen drehten ihre Kreise und stürzten auf den mächtigen Kennebec River nieder, den längsten Fluss in Maine, eine große Wasserstraße, auf der vier Jahrhunderte lang die in Maine gebauten Schiffe zum Meer gebracht worden waren.

Macks Bus kam pünktlich. Es war ein älterer Eindecker, der ihn auf der wenig befahrenen Straße zu seinem Zuhause in den Vororten der Kleinstadt Dartford am Ostufer des Flusses bringen würde. Dartford lag 16 Kilometer flussabwärts der großen Werftstadt Bath, dem Sitz der jahrhundertealten Bath Iron Works (BIW), deren Motto »Früher und günstiger als geplant« lautete.

Große Jachten, Kreuzer und Kriegsschiffe waren hier auf Kiel gelegt und in den Golf von Maine geschickt worden. J. P. Morgans riesige, über 100 Meter lange schwarz-goldene Jacht Corsair war bei BIW gebaut worden, genauso wie Mike Vanderbilts sensationelles J-Boat Ranger, das 1937 den America’s Cup gewann und in keiner Regatta, an der sie teilnahm, besiegt werden konnte.

Im Zweiten Weltkrieg wurden bei BIW mehr Zerstörer gebaut als im ganzen Kaiserreich Japan – insgesamt 82. Mittlerweile konzentrierten sich die BIW, meist im Auftrag der US Navy, auf Lenkraketen-Zerstörer, -Fregatten und -Kreuzer.

Bath zeichnet sich durch einen fabelhaften Tiefwasserhafen mit einem mittleren Tidenhub von knapp zwei Metern aus. Sämtliche Anlagen von BIW liegen am Westufer des Kennebec, über dem sich wie ein Ersatzteil aus Jurassic Park der höchste Kran der westlichen Welt erhebt – die alte Nummer Elf, der 220-Tonnen-Teile direkt vom Kai in den Rumpf einpassen kann.

Der Kennebec selbst ist 250 Kilometer lang und entspringt weit im Norden im Moosehead Lake, der sich auf einer Länge von über 50 Kilometern zwischen den hohen Gipfeln der Longfellow Mountains erstreckt. Die oberen Flussabschnitte sind kaum schiffbar, das ändert sich erst, wenn das schnell fließende Gewässer Augusta erreicht, Maines Hauptstadt, 70 Kilometer vom Meer entfernt.

Hier wird der Kennebec breiter, spätestens ab Bath ist das Wasser salzig, und der Fluss ist den mächtigen Gezeiten des Golfs ausgesetzt. Am Unterlauf windet sich der Fluss majestätisch um bewaldete Inseln und Landzungen und ist von kleinen Buchten, Nebenflüssen und Sümpfen umgeben.

Dartford selbst liegt am Nordufer einer tiefen Bucht, die sich vom Fluss aus in nordöstliche Richtung erstreckt. Anfang des 19. Jahrhunderts entstand hier eine kleine Bootswerft, die langsam zu einer großen Werft mit einer kleinen Stadt heranwuchs, die nahezu ausschließlich auf die Schiffbauindustrie angewiesen ist.

In den Boomjahren, als die Bath Iron Works mit Aufträgen überhäuft wurden, diente Dartford als Zulieferer für die Entwicklung von Kriegsschiffen. Im Lauf der Zeit ließen sich in der malerischen Stadt Schiffbauer, Ingenieure oder Schweißer nieder. Wie Bath wurde der kleine Ort zwar von der Industrie dominiert, konnte sich aber seinen ländlichen Charakter bewahren, unterhielt eine kleine Fischereiflotte, und das Leben hier war in vielem sehr viel entspannter als im großen Bath. So entspannt, wie es an der spektakulären Küste von Maine mit seinen oftmals eisigen Winden überhaupt möglich ist, wo die Sommer kurz und die Winter lang sind und meist stürmische See herrscht.

Mack Bedfords Familie waren echte Ostküstenbewohner. Seine Vorväter hatten Granit geschlagen und riesige Baumstämme den Kennebec hinuntergeschifft, aus denen einige der größten Städte Amerikas gebaut wurden. Sein Urgroßvater baute Jachten bei BIW, sein Großvater zog ungefähr zur gleichen Zeit nach Dartford, als der alte Sam Remson die Werft übernahm und mit dem Bau von Kriegsschiffen begann.

Fast ein Jahrhundert lang waren die Bedfords eine Institution, sowohl in Dartford als auch auf der Werft, wo sie als Ingenieure gearbeitet hatten oder, im Fall von Macks Vater, als Spezialist für Lenkraketen, womit er einer von Harry Remsons wertvollsten Mitarbeitern war. Mack war das erste männliche Familienmitglied seit sechs Generationen, das sich ein Leben außerhalb der zerklüfteten Küste, der rauen Gewässer und der Ehrfurcht gebietenden Schönheit des »Pine Tree State« suchte.

Remson hatte für die US Navy Fregatten gebaut; die Werft hatte nicht nur für die Bath Iron Works Spezialteile geliefert, sondern auch für die großen Marinewerften in Newport News, Virginia, für Todd in Seattle und die Marineabteilung von General Dynamic Electric in Connecticut.

Die Anforderungen der modernen Kriegführung allerdings hatten dazu geführt, dass die US Navy immer weniger Schiffe orderte. Der Hauptgrund dafür war schlicht und einfach, dass keiner mehr es wagte, sie zu versenken – zumindest kam es nicht sehr häufig vor, sah man von Turban tragenden Verrückten ab, die in aller Glückseligkeit sich selbst mit dem Kriegsschiff in die Luft gehen ließen. Seit 9/11 hatte es keinen einzigen Angriff mehr gegeben.

Remsons Überleben hing mittlerweile nicht nur von der US-Regierung ab, die alle drei Jahre für 500 Millionen Dollar eine Fregatte in Auftrag gab, sondern auch von der französischen Marine, die in regelmäßiger Abfolge Lenkraketenfregatten bestellte. Die Order trafen alle drei Jahre ein und waren die einzigen, die die französische Marine seit den 1980ern ins Ausland vergab.

Frankreich hat eine starke Marine, sie ist sogar größer als die von Großbritannien und verfügt über zwölf U-Boote, 15 Lenkraketenzerstörer, 20 Fregatten und den 40 000-Tonnen-Flugzeugträger Charles de Gaulle, dazu kommen mehr als 45 000 Mann Personal und 65 000 aktive Reservisten.

Die alte Tradition, alle 36 Monate bei Remson eine Fregatte zu ordern, wurde zum einen aus Loyalität zur Werft aufrechterhalten, deren handwerkliche Qualität legendär war. Zum anderen freute man sich auch darüber, modernste US-Technologie im Arsenal zu haben. Alle anderen Schiffe der französischen Marine wurden dagegen von den Werften in Brest in der Bretagne, dem wichtigsten Atlantikstützpunkt, gebaut, oder in Cherbourg am Ärmelkanal, in Saint-Nazaire an der Loire-Mündung oder in Lorient an der Nordseite der Biskaya.

Remson nahm damit eine einzigartige Stellung für das französische Militär ein. Im Lauf der Jahre, als jede US-Order automatisch an die Bath Iron Works zu gehen schien, nahm die Bedeutung der französischen Marine für die Bürger Dartfords noch zu. So sehr, dass sich die Werft und die Stadt im Niedergang befunden hätten, wären nicht die Aufträge für die französische Marine gewesen.

Es gab allerdings Gerüchte, die nicht verstummen wollten und nichts Gutes verhießen. Ein neuer gaullistischer Präsident stehe vor der Tür, hieß es, und der habe bereits deutlich gemacht, dass er für das französische Militär keine Aufträge mehr ins Ausland vergeben wolle. Keine. Rien. Das betraf Waffen, Raketen, Panzer, Flugzeuge und Schiffe. In Zukunft sollte alles in Frankreich hergestellt werden. Frankreich für die Franzosen. Vive la France! Die stolze kleine Werft an der Küste von Maine würde vor dem Aus stehen. Mehr als 87 Prozent der Einwohner von Dartford verdienten ihren Lebensunterhalt bei Remson.

Das waren die düsteren Aussichten, die Mack Bedford bei seiner Rückkehr erwarteten. Wegen Tommys schwerer Krankheit hatte Anne ihrem Mann diese Gerüchte bislang vorenthalten. Er saß im Bus, der auf der Route 127 dem Ostufer des Kennebec folgte. Ein ungewöhnlich böiger Sommerwind, der gegen die Ebbe vom Golf hereinblies, wühlte die Wasseroberfläche auf.

Immer noch kam ihm alles unwirklich vor, immer noch erwartete er halb, dass jeden Moment sein Handy klingeln und eine Stimme ihm befehlen könnte: »Lieutenant Commander Bedford? Sir, es geht los. Bereiten Sie die Platoons vor. Abmarsch Donnerstag fünf Uhr. Bagram Air Base, Afghanistan. Ab sofort gelten Geheimhaltungsbestimmungen.«

Solche Gedanken an sein altes Leben weckten eine unauslöschliche Traurigkeit. Er starrte durch die Busscheiben auf die Landschaft, die so typisch war für die Küste in Maine, ließ den Blick über die dichten dunkelgrünen Kiefernwälder schweifen, die so nah am Meer wuchsen, dass die Gischt über sie hinwegsprühte. Die Granitfelsen, die weit in die Küstengewässer hinausragten, sorgten selbst bei den vorsichtigsten und geschicktesten Seeleuten für unberechenbare Gefahren.

Der Bus hielt am Anfang einer langen, geraden Straße, die zur breiten Kennebec-Mündung hinunterführte. Die Türen gingen auf, und Mack trat mit seiner Ledertasche ins Freie. Niemand war an der Bushaltestelle, niemand war auf der langen, schmalen Straße zu sehen.

Mack und Anne besaßen ein weißes, mit Schindeln verkleidetes Farmhaus samt Scheune. Man hatte von dort einen wunderbaren Blick über das Marschland zum Meer. Die Werft lag fast einen Kilometer entfernt hinter dem Garten, war aber von überall zu sehen und gehörte mit ihren hohen Kränen – die allerdings keineswegs so hoch waren wie die Nummer Elf in Bath – zu den Wahrzeichen der kleinen Stadt.

Mack machte sich von der Bushaltestelle auf den einen Kilometer langen Weg, marschierte mitten auf der Straße, blickte zum Fluss und sehnte sich danach, Anne zu sehen, sehnte sich nach Tommy und fürchtete die jüngsten Neuigkeiten von den Ärzten.

Der Wind ließ nach, und es versprach ein warmer Morgen zu werden; es hätte das Paradies sein können. 50 Meter vor dem Tor sah Mack, wie jemand aus der Eingangstür und über die Einfahrt zur Straße stürzte. Kurz sahen er und Anne sich an, dann rannte sie ihm entgegen und warf sich ihm in die Arme. »Gott sei Dank, mein Liebling, Gott sei Dank bist du da – ich hab dich vom Fenster oben gesehen.«

Fast eine Minute lang hielt er sie in seinen kräftigen Armen, sagte nichts und staunte nur über ihre Schönheit und den dunklen Glanz ihrer Haare, die ihr über die Schultern und in die Augen fielen. Schließlich ließ er sie los, sah ihr in die dunkelblauen Augen und fragte leise: »Annie, wie geht es ihm?«

»Nicht gut. Die ersten Symptome der Krankheit sind nicht mehr zu übersehen.«

Langsam gingen sie zum Haus.

»Wie äußern sie sich?«, fragte Mack.

»Er ist aggressiv, bockig, dazu kommt Gedächtnisverlust. Länger als fünf Minuten kann er sich nichts mehr merken. Am nächsten Tag ist alles, was er gelernt hat, wie ausgelöscht. In der Schule macht man sich große Sorgen um ihn.«

»Großer Gott«, erwiderte Mack. »Wo ist er, der arme Kerl?«

»Noch im Bett«, sagte sie. »Auch so ein Anzeichen – ungewöhnliche Müdigkeit. Die Ärzte sagen, es wird noch schlimmer werden.«

»Also Leukämie, wie von Anfang an vermutet?«

»Nicht ganz. Aber ähnlich, dazu kommt, dass sich das Nervensystem auflöst. Er bräuchte eine komplette Knochenmarktransplantation, wenn er jemals geheilt werden soll. Das Krankenhaus sagt, er ist zu jung, sie wollen ihn nicht operieren. Aber wenn wir länger warten, ist es vielleicht zu spät.«

»Und keiner weiß, wie er es bekommen hat?«

»Nein.«

»Verdammt«, sagte Mack. »Er stammt von Steinmetzen, Holzfällern, Schiffszimmermännern, Navy-SEALs und gottverdammten Polizeichefs ab. Er müsste so stark wie ein Büffel sein.«

»Damit hat es wohl nichts zu tun«, sagte Anne. »Es ist so schrecklich.«

Mack schloss die Tür und stellte seine Tasche ab. Erneut nahm er seine Frau in den Arm und küsste sie lange. Dann sagte er: »Wir sorgen dafür, dass er wieder gesund wird. Irgendwie wird es klappen, mein Gott, wir werden uns was einfallen lassen.«

»Hör zu, er könnte jeden Moment runterkommen. Willst du irgendwas, vom Offensichtlichen mal abgesehen? Soll ich dir ein Frühstück machen?«

»Das wäre großartig«, sagte er. »Auch wenn Spiegeleier mit Würstchen und Bratkartoffeln bei Weitem nicht so gut sind wie das Offensichtliche. Aber du siehst umwerfend aus.«

»Schhh«, sagte sie und sah ihm in die graublauen Augen. »Oder ich vergesse mich noch. Außerdem müssen wir mittags ins Krankenhaus. Tommys Untersuchungsergebnisse liegen vor. Vielleicht wollen sie ihn sogar über Nacht dabehalten.«

»Sträubt er sich da sehr?«

»Eigentlich nicht. Ich bringe ihn ins Bett und bleibe bei ihm im Zimmer. Er wird immer sehr schnell müde, dann fahre ich nach Hause und mache mir die ganze Nacht lang Sorgen um ihn.«

Mack küsste sie erneut. »Kann ich das Frühstück draußen auf der Veranda haben? Und gibt es schon eine Zeitung?«

»Ich seh nur noch mal nach Tommy, dann bring ich sie dir. Setz dich schon mal raus.«

Macks Vater hatte schon vor langer Zeit die vordere Veranda verglast, Anne hatte eine milchweiße Decke über den Tisch gelegt und eine kleine Vase mit rosafarbenen Strandrosen daraufgestellt. Die Korbmöbel mit ihren blau-weiß gestreiften Kissen waren ausladend und bequem. Dankbar ließ sich Mack auf dem Schaukelstuhl nieder und sah hinaus auf den breiten Mündungsarm des Kennebec. Der große, weit im Norden entspringende Flusslauf traf hier auf den Atlantik. Dreieinhalb Kilometer weiter umspülte er die kleine Insel Sequin, auf der der berühmteste und zweiälteste Leuchtturm an dieser zerklüfteten Küste stand.

Präsident George Washington persönlich hatte 200 Jahre zuvor den Auftrag für den Bau des dreieinhalb Kilometer vor der Küste gelegenen und 60 Meter hohen Leuchtturms gegeben. Trotz der herrlichen Aussicht konnte Mack Bedford ihn nicht sehen, noch nicht einmal an klaren Tagen. Aber wenn die Herbstnebel aufzogen und die Inlandsgewässer unter den milchig-weißen Schwaden verschwanden, war das mächtige Nebelhorn zu hören, das einsam dröhnend an die Posaunen der Basin Street erinnerte.

Er liebte diesen Ort. Und er liebte Anne und den Jungen. Was für ein grausames Schicksal, mit dem der Allmächtige ihn geschlagen hatte – erst wegen Mordes angeklagt und von den SEALs entlassen zu werden, und dann befürchten zu müssen, dass Tommy an seiner anscheinend unheilbaren Krankheit starb.

Trotzdem, es musste Hoffnung geben, und als Anne mit heißem Kaffee und der Morgenausgabe des Portland Express auf die Veranda kam, wurden seine finsteren Gedanken verscheucht, er lächelte sie an, zog sie zu sich auf den Schoß und küsste sie wieder. »Ich liebe dich, Mrs. Bedford. Und ich denke immer an dich, egal, wo ich bin.«

»Auch bei diesem Gefecht am Euphrat?«, fragte sie.

»Sogar dann. Vor allem dann. Weil ich einen schrecklichen Augenblick lang gedacht habe, jetzt könnte es aus sein mit uns beiden, denn was anderes könnte uns nie trennen – bis ich dann nachgeladen habe.«

Wie immer musste Anne lachen. »Willst du verbrannte Würstchen und hartgekochte Eier?«

»Eigentlich nicht.«

»Dann solltest du mich jetzt lieber loslassen.«

Mack gab sie frei, schenkte sich Kaffee ein und warf einige braune Zuckerwürfel hinein. Nachdenklich rührte er um, nahm dann die Zeitung zur Hand und überflog die Titelseite.

FÜNF WEITERE US-SOLDATEN IM IRAK GEFALLEN

Vermutlich Opfer illegaler Raketen


Bagdad, Dienstag. Auf einer Wüstenstraße westlich von Bagdad wurden gestern ein Panzer und ein gepanzertes Fahrzeug beschossen und zerstört. Der Angriff, bei dem die als Diamondhead bekannten Panzerabwehrraketen französischer Herkunft zum Einsatz kamen, kostete fünf US-Soldaten das Leben.

Die Amerikaner befanden sich auf dem Rückweg von einem Einsatz gegen Aufständische in der Tigris-Region und wurden ohne Vorwarnung beschossen. Es gab keine Überlebenden. Die Berichte bestätigen, dass die Opfer bei lebendigem Leib verbrannt sind.

Das US-Militär legte entschiedenen Protest im UN-Sicherheitsrat ein, der in einer einstimmigen Entscheidung den Einsatz der Rakete als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« gewertet und sie weltweit geächtet hatte. Der UN-Generalsekretär bestätigte, dass bei dem Angriff alles auf den Einsatz der geächteten Rakete hinweise. Es wurde eine offizielle Warnung an die iranische Regierung ausgesprochen und gefordert, die Diamondhead-Lieferungen an irakische oder andere muslimische Terrorgruppen im Nahen Osten einzustellen.

Ein Sprecher der US-Streitkräfte im Irak äußerte vergangenen Abend, die Aufständischen würden anscheinend kontinuierlich mit diesen Raketen versorgt. »Davon müssen wir ausgehen«, sagte er, »sofern sie nicht über große, möglicherweise in der Wüste versteckte Vorräte verfügen.«

Der Sprecher, ein Lieutenant Colonel der US Army, war sichtlich aufgebracht über diesen letzten Angriff. »Wir sind alle wütend«, so seine Aussage. »Man kann nicht anders, wenn man sieht, wie diese Jungs gestorben sind. Das Schlimmste aber ist, wir waren zweimal nahe daran, die Lieferungen zu unterbinden. Beide Male sind wir nur knapp zu spät gekommen. Wir gehen davon aus, dass die Raketen über das Zagrosgebirge und von dort über die Grenze gebracht werden, wobei nördlich von Abadan der Fluss überquert werden muss. Aufgrund unserer begrenzten Ressourcen können wir dieses weite Gebiet nur unzureichend kontrollieren.«

Ein Sprecher des Weißen Hauses sagte gestern Abend: »Der Präsident hat die iranische Regierung darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Diamondhead offiziell weltweit verboten ist. Die Weltgemeinschaft wird es nicht hinnehmen, dass nahöstliche Regime die UN-Resolution weiterhin ignorieren.« Der Präsident habe den iranischen Präsidenten gewarnt, sollten weitere Amerikaner aufgrund der besagten Rakete ums Leben kommen, werde der UN-Sicherheitsrat zu einer Dringlichkeitssitzung einberufen, um über mögliche militärische Aktionen gegen den Iran zu sprechen.

Die Namen der amerikanischen Toten werden erst bekanntgegeben, wenn ihre Familien in Kenntnis gesetzt sind. Gerüchten zufolge sind mindestens zwei unter ihnen US Navy SEALs, einer von ihnen ein Lieutenant Junior Grade.


Mack Bedford schüttelte den Kopf. »Diese verdammten Dreckskerle«, murmelte er und blätterte zur Innenseite, wo sich ein Associated-Press-Artikel befand, der sich mit der Herkunft der Rakete beschäftigte. Der Autor, ein pensionierter Colonel der US Army, behauptete, dass die Diamondhead nach wie vor in den Iran geliefert werde. Er meinte auch, es sei die Pflicht der französischen Regierung, die Produktionsstätten ausfindig zu machen und die Eigentümer gerichtlich zu belangen. Der gegenwärtige Skandal, so der Autor, gereiche Frankreich nicht zur Ehre und werfe ein schlechtes Licht auf die ganze Nation. »Allein die Vorstellung, jemand bereichere sich finanziell am Tod von US-Soldaten, die bei lebendigem Leib verbrennen, muss die Abscheu aller Rechtsstaaten hervorrufen.« Seine Kontaktperson im Élysée-Palast antwortete darauf allerdings nur mit einem Schulterzucken und meinte: »Frankreich war schon immer weltweit führend im Bau von Lenkraketen, die Industrie gliedert sich in zahlreiche Zweige, die über das gesamte Land verteilt sind. Manchmal geschehen eben Dinge, die sich unserer Kontrolle entziehen.« Er fügte noch hinzu, Frankreich sei ein sehr großes Land, und man wisse nicht, wo die Diamondhead produziert werde. »Außerdem, wie Sie sicherlich sehr wohl wissen, Monsieur, haben Waffengeschäfte immer ihre dunklen Seiten. Käufer und Verkäufer verstehen es meist sehr gut, ihre Spuren zu verwischen.«

Mack legte die Zeitung zur Seite und nippte an seinem Kaffee. Vor seinem geistigen Auge sah er das in einen schwarzen Umhang gekleidete Phantom der Oper vor sich, das eine der Killerraketen auf einen von Pferden gezogenen Wagen wuchtete, auf dem Araber in wallenden Gewändern und Turbanen saßen. »Verdammte Dreckskerle«, murmelte er erneut.



Mitternacht
Montpellier Munitions
Wald von Orléans, Frankreich


Es war nicht zu erkennen, was auf den 40-Tonner geladen wurde, der an der Laderampe an der Südseite der Waffenfabrik stand. Eine riesige Plane verdeckte sowohl den Eingang als auch den hinteren Teil des Lkws. Nur jemand im Laderaum konnte die anderthalb Meter langen, einen Meter hohen und einen Meter breiten Holzkisten sehen, die von Gabelstaplern in den Lkw gehievt wurden. Der Laderaum fasste vier Reihen zu je drei mal drei Kisten, was insgesamt 36 Kisten ergab. Jede von ihnen enthielt sechs Lenkraketen. Die Kisten waren nicht gekennzeichnet.

An der Laderampe patrouillierten sechs bewaffnete Wachen. Vier weitere schritten unablässig den Maschendrahtzaun an der Grundstücksgrenze ab. Die Tore zur Straße, die durch das Waldgelände nach Montpellier und zur Autobahn führte, waren verschlossen. Zwei bewaffnete Wachen saßen im Sicherheitsgebäude außerhalb der Tore, wo eine Stahlschranke eine weitere Barriere bildete.

Die erste Ladung war verstaut und gesichert. Die Aufsicht führte Henri Foche persönlich, der wie immer einen makellosen dunklen Anzug, glänzend schwarze Schuhe, ein weißes Hemd und eine dunkelblaue Krawatte trug. Keinen Mantel. Nur das scharlachrote Tuch, sein Markenzeichen, steckte in der Brusttasche. Zufrieden, dass die militärische Ausrüstung im Wert von fast elf Millionen Dollar verladen war, befahl er, die Ladewand zu schließen und zu verriegeln. Noch nicht einmal der Fahrer würde die Zahlenkombination kennen, die zum Öffnen nötig war. Der Vorstandsvorsitzende würde sich persönlich darum kümmern. Nur sein Vertrauter und die Nummer zwei im Konzern, der Raketenwissenschaftler Yves Vincent, war ebenfalls im Besitz der Kombination. Er wartete bereits mit Marcel und Raymond im schwarzen Mercedes, der den Konvoi auf seiner Reise begleiten würde.

Drei weitere Laster mussten noch beladen werden. Die Gesamtzahl der Raketen würde damit auf 864 steigen; deren Straßenpreis, wie man im Drogenhandel sagen würde, belief sich auf 100 Millionen Dollar. Für Foche sprangen dabei etwas mehr als 43 Millionen heraus, zahlbar vor der Verschiffung aus den Schatzkammern der iranischen Regierung, die in Geld schwamm, seitdem der Ölpreis durch die Decke gebrochen war.

Nicht alle Raketen gingen in den Irak. 200 Stück waren für die Hisbollah vorgesehen, die sich gegenwärtig in Beirut verschanzt hatte und auf den nächsten Schlag gegen Israel wartete. 200 weitere gingen an die kampfbereiten Krieger der Hamas für ihren erbitterten, aber hoffnungslosen Kampf gegen die Soldaten der israelischen Armee. Etwa 200 waren für die Taliban in Afghanistan bestimmt. Und 162 für die Aufständischen im Irak. Der Rest sollte im Iran verbleiben.

Innerhalb einer Stunde waren die übrigen drei Laster beladen, um halb zwei Uhr morgens setzte sich der Todeskonvoi in Bewegung und rollte durch den im Dunkel liegenden Wald in Richtung Orléans, das wie ausgestorben vor ihnen lag. Sie fuhren an unzähligen Statuen von Jeanne d’Arc vorbei, der Jungfrau von Orléans, die 1429 den späteren König Karl VII. dazu überreden konnte, die englischen Streitkräfte anzugreifen und die von ihnen belagerte Stadt zu befreien. Dies markierte den Wendepunkt im Hundertjährigen Krieg, und die Stadtväter von Orléans waren seitdem bestrebt, la pucelle, das französische Bauernmädchen und lothringische Kriegerin, niemals in Vergessenheit geraten zu lassen.

Es regnete in Strömen. Mit auf Hochtouren laufenden Scheibenwischern dröhnten die Lkws über die Loire-Brücke und dann nach Süden durch den Wald von Sologne, der schon immer das Refugium der französischen Aristokratie gewesen war, eine flache, feuchte, düstere Heidelandschaft. Jahrhundertelang hatten hier die französischen Könige Wildschweine und Rotwild gejagt. Die Gegend ist von Sümpfen, Seen und Feuchtgebieten durchzogen, es finden sich hier aber auch einige der schönsten Loire-Schlösser, darunter das mächtige Château Chambord, das größte und herrschaftlichste von allen. Der riesige Palast umfasst 440 Zimmer und 85 Treppen und wurde ab 1519 von König François I. errichtet, der damit den Papst ausstechen wollte. Der französische König wollte mit dem Schloss als einer »der größten Bauherren« in die Geschichte eingehen, am Ende seiner Tage bezeichnete er den Prachtbau allerdings nur noch als seine »kleine Jagdhütte«.

Henri Foche, dessen politische Ambitionen als Führer der Nation denen des einstigen Königs in nichts nachstanden, fuhr auf der A71, einige Kilometer östlich von Chambord, an der Spitze seines Konvois an dem Architekturmonument aus dem 16. Jahrhundert vorbei. Nach weiteren 30 Kilometern bogen sie von der Autobahn ab und durchquerten eine öde, flache und sehr feuchte Landschaft. Noch immer regnete es ununterbrochen; die Lkw-Scheinwerfer waren das einzige Licht weit und breit. Schließlich bogen sie erneut ab, der Weg führte durch einen kleinen Wald. Als sie am anderen Ende herauskamen, lag vor ihnen eine eineinhalb Kilometer lange asphaltierte, von kleinen hellen Positionslichtern gesäumte Rollbahn. Die Lichter wurden erst angeschaltet, als Foches vier Lkws aus dem Wald dröhnten.

Vor ihnen erhob sich ein kleines Betongebäude, das von einem einzigen Licht erhellt wurde. Davor stand ein Einweiser mit zwei beleuchteten Kellen, der sie an den richtigen Platz lotste. Links von ihnen war ein vierstrahliges Transportflugzeug auszumachen, eine Iljuschin Il-76, das Arbeitspferd der russischen Luftwaffe. Die Maschine gehörte zwar dem Iran, gebaut worden aber war sie in den riesigen Flugzeugwerken von Khimki nordwestlich von Moskau. Die Iljuschin war im Grunde ein Militärtransporter, für extraschwere Fracht ausgelegt, die durch die Rampe unter dem charakteristischen T-Leitwerk geladen wurde. Die Entwickler, die Taschkent-Flugzeugwerke in Usbekistan, hatten dem Schulterdecker eine Flügelspannweite von mehr als 50 Metern verliehen, die vier russischen Triebwerke verfügten über mehr Leistung als die amerikanische Lockheed C-141 Starlifter.

Die Iljuschin war insbesondere für kurze und unbefestigte Start- und Landebahnen konstruiert. Der Luftdruck der insgesamt 20 Räder konnte in der Luft an die jeweiligen Bodenverhältnisse angepasst werden. An diesem Abend hatte die Iljuschin erst zur Landung angesetzt, als der Konvoi drei Kilometer vom Flughafen entfernt war. Und die Lotsen am Flughafen Tours wunderten sich, wohin zum Teufel der große russische Transporter verschwunden war. Nur halbherzig bemühten sie sich, ihn zu lokalisieren, schließlich war es fast zwei Uhr morgens, und bislang lagen keine Notfallsignale vor. Sie beschlossen, weiterhin nach ihm Ausschau zu halten, vorerst aber so zu tun, als wäre die Maschine gar nicht gesichtet worden.

Das Beladen verlief unterdessen mittels der Hebebühnen und Kräne im Rumpf des voluminösen Flugzeuges zügig. Die Besatzung bestand aus Iranern. Henri Foche schritt wie ein in einen Käfig gesperrter Schakal auf und ab; sie hatten nicht viel Zeit.

Nachdem die Raketen verladen waren, beglich Henri Foche die Flugplatz-Rechnung und sah zu, wie der russische Transporter ans Ende der Startbahn rollte. Die Raketen wogen an die 18 Tonnen, gerade mal die Hälfte der Nutzlast, sodass die Maschine so schnell wieder verschwinden würde, wie sie gekommen war. Im Regen beobachteten Foche und Yves Vincent, wie sie steil von der regennassen Rollbahn abhob, um auf ihre Reisegeschwindigkeit von 750 km/h zu beschleunigen. Unmittelbar danach erloschen die Lichter entlang der Rollbahn. Die beiden Franzosen sahen sich an und gaben sich spontan die Hand, bevor sie in ihren Mercedes stiegen, damit Marcel sie nach Hause brachte. In dieser Nacht war ausgezeichnete Arbeit geleistet worden.

Im Tower am Flughafen Tours erfasste man erneut die Radarsignale der russischen Transportmaschine. Ihr Kurs aber lag jetzt in Richtung Osten, auf die Schweizer Alpen zu. Sie schickten eine kurze Meldung zum Flughafen in Dijon, dass sich die Maschine nicht zu erkennen gegeben hätte, aber keine militärischen Radarsignale aussende und sowieso in die Schweiz unterwegs sei. Wie die Nachtschicht in Tours taten auch die Kollegen in Dijon so, als hätten sie nichts bemerkt. Sollten die Schweizer sich damit herumschlagen.

So schwebte die Ladung aus 864 Diamondheads über die Gipfel der Alpen und weiter zum Balkan, dann nach Bulgarien und zum Schwarzen Meer. Von dort drehte die Maschine entlang des Kaukasus nach Süden in iranisches Staatsgebiet ab, um schließlich in Ahvaz zu landen, das etwas mehr als 80 Kilometer von Abadan an der irakischen Grenze entfernt war.

Die Strecke betrug keine 4000 Kilometer und war ohne Auftanken zu bewältigen. Als die Iljuschin zur Landung ansetzte, war es acht Uhr morgens in Frankreich, und eine nagelneue Produktionslinie der tödlichen Panzerabwehrwaffe lief soeben an. Henri Foche ging nicht davon aus, dass seine Geschäfte mit dem Iran zum Erliegen kämen. Ganz im Gegenteil. Dennoch: In den kommenden Monaten wollte er sich vor allem auf seine politische Karriere konzentrieren und die Aufsicht über die Raketenproduktion Yves Vincent überlassen.


Mack Bedford hörte, wie sich Anne der Veranda näherte und zu Tommy sagte, sie habe eine große Überraschung für ihn. Als der Junge durch die Gittertür stürmte, hätte niemand auch nur im Traum daran gedacht, dass mit ihm etwas nicht stimmte.

Tommy war ein netter Junge, für seine sieben Jahre groß gewachsen und kräftig. Er hatte dunkles Haar und die Augen seiner Mutter. Als er Mack erblickte, hielt er kurz inne und rief: »Daddy! Daddy! Wo warst du? Ich brauch dich doch hier.«

Mack lachte und packte ihn, hob ihn hoch über den Kopf, ließ ihn herunter und schlang seine mächtigen Arme um ihn. »Ich bin jetzt zu Hause, Tommy«, sagte er. »Ganz, ich geh nicht mehr fort. Mein Gott, bist du gewachsen, seitdem ich dich zum letzten Mal gesehen habe. Wird nicht mehr lange dauern, dann bist du größer als ich.«

»Keiner ist so groß wie du, Daddy. Noch nicht einmal ein Riese.«

Anne kam mit Macks Frühstück zurück und stellte es auf den Tisch. Für sich selbst hatte sie nur Obstsalat und Toast zubereitet.

»Und was bekommt er?«, fragte Mack. Tommy lachte. »Frühstücksflocken, aber nicht hier. Mom sagt, ich darf sie in der Küche essen und im Fernsehen Invasion der Deadheads ansehen. Das kommt jede Woche.«

»Invasion der was?«, fragte Mack und konnte es kaum fassen.

»Der Deadheads«, sagte Tommy. »Die sind so cool. Und wenn sie angegriffen werden, bringen sie alle, alle um. Muss jetzt los.«

»Das ist doch unglaublich«, sagte Mack. »Ich komme von einem Kampfeinsatz zurück, meine Jungs werden umgebracht, ich werde vors Militärgericht zitiert, und mein eigener Sohn zieht die gottverdammten Deadheads mir vor.«

Anne lachte. »Ich lass ihn die Sendung immer sehen, wenn er ins Krankenhaus muss. Er ist immer ganz aufgeregt und hat danach bessere Laune. In den vergangenen Monaten hat er einige üble Wutanfälle gehabt, er hat sich gar nicht mehr eingekriegt. Es entspricht sonst überhaupt nicht seinem Wesen. Die Ärzte meinen, es kommt von der Krankheit.«

Mack nickte und biss herzhaft in die gewaltige Wurst. »Die Ärzte sind sich sicher, dass es sich um diese ALD handelt?«

»Nicht ganz, aber Dr. Ryan meint, er zeigt immer mehr der entsprechenden Symptome.«

»Unter anderem die Wutanfälle?«

»Ja. Wir müssen es wohl so hinnehmen. Es ist eine Hirnkrankheit, bei der das zentrale und periphere Nervensystem befallen sind. Er hat seine Impulse nicht mehr unter Kontrolle. Eine Kinderkrankheit, die nur Jungen befällt. Tommy muss sich bei jemandem angesteckt haben.«

»Aber er wird daran doch nicht sterben, oder?«

»Ich weiß es nicht. Das werden wir morgen erfahren.«

»Wofür steht dieses ALD überhaupt?«

»Adrenoleukodystrophie. Eine sehr seltene Krankheit, und anscheinend kaum zu heilen. Zumindest nicht in diesem Land.«

»Bedeutet das ›leuko‹ in der Mitte, dass es so was wie Leukämie ist?«

»Das nehme ich an. Dazu müssten wir aber erst mit den Ärzten reden.«

»Können sie die Krankheit nicht irgendwie einschränken? Damit es nicht noch schlimmer wird?«

»Ich glaube nicht. Darum ist ja wohl auch jeder so pessimistisch.«

Mack beendete sein Frühstück. »Meinst du, die Deadheads sind schon vorbei?«

»Gleich.«

»Ich hol mal die Handschuhe, dann können wir uns ein paar Bälle zuwerfen.«

Anne lächelte. »Ich hole ihn. Aber streng ihn nicht zu sehr an. Schließlich soll er ja nicht schlafen, wenn die Ärzte ihn sehen wollen. Er ist es nicht gewohnt, sich zu verausgaben.«

Mack zog zwei Baseball-Handschuhe aus einem Korb in der Ecke der Veranda, griff sich einige Bälle und ging auf den Rasen. Tommy kam nach draußen gerannt, streifte seinen Handschuh über und ging zu seiner üblichen Stelle, fünf Meter von seinem Dad entfernt.

»Okay, Großer«, sagte Mack. »Dann zeig mal, was du drauf hast.«

Tommy holte aus und warf den Ball direkt auf die rechte Schulter seines Vaters. Mack ließ den linken Arm vorschnellen und schnappte sich den Ball. Er warf ihn leicht und sauber zurück. Tommy fing ihn und antwortete mit einem hohen Ball. Mack reckte den Arm und pflückte ihn herunter.

»Du dachtest, du könntest mich austricksen, was?«, sagte Mack und warf gleichzeitig den Ball auf niedriger Höhe zurück.

Der Junge packte ihn sich, sah auf und sagte: »Ich krieg dich, Daddy.« Und damit holte er weit aus und schleuderte mit aller Kraft den Ball. Anne, die auf der Veranda stand, hörte ihn in Macks Handschuh ploppen.

»Hey, du hast einen ziemlich guten Arm«, sagte Mack. »Und du hast geübt, weil du mich schlagen willst.«

Wieder lachte Tommy. »Ich schlage dich, Daddy«, sagte er und ging in die Hocke. Diesmal warf Mack nach rechts, in mittlerer Höhe, aber so, dass Tommy sich strecken musste. Tommy machte sich lang, fing den Ball, fiel dabei aber hintenüber und landete unbeholfen im Gras.

Anne wirkte besorgt und kam sofort zu ihm. Tommy rappelte sich hoch, sah zu seinem Vater und sagte: »Ich will nicht mehr spielen.«

»Ich dachte, du willst mich schlagen«, sagte Mack. »Komm schon, Sportsfreund, das kannst du besser.«

Vater und Sohn starrten sich nur an. Der Ball war nicht so hart und nicht so unplatziert geworfen. Tommy hatte mit seinen flinken Beinen und Armen schon Bälle gefangen, die einen Meter weiter entfernt gewesen waren. Aber das war mittlerweile ein halbes Jahr her, als alles noch anders gewesen war.

»Okay, Daddy«, sagte Tommy. »Spielen wir weiter. Manchmal bin ich nicht mehr so gut wie früher. Die weiten Bälle schaff ich nicht mehr.«

»Die wirst du dir wieder schnappen«, sagte Mack. »Jetzt bin ich wieder zu Hause, da werden wir mal richtig trainieren.«

Anne sah zu, wie sie weitere zehn Minuten den Ball hin und her warfen. Mack zielte immer auf Tommys Handschuh, und Tommy fing den Ball jedes Mal.

Kurz bevor sie aufhörten, griff Mack daneben, und der Junge sprang in die Luft. »Hab doch gesagt, dass ich dich kriege!«, rief er. »Ich krieg dich immer, Daddy!«

Mack hob ihn hoch. »Du bist doch mein Sportsfreund, Junge. Wirst du immer sein.«

Er trug Tommy nach drinnen, während Anne bereits den Wagen aus der Garage holte für die Fahrt ins Maine Coastal Hospital am Stadtrand von Bath. Anne saß am Steuer des Buick-Kombi und schlug die nördliche Richtung ein. Tommy schlief auf dem Rücksitz sofort ein.

Fünf Minuten vor zwölf trafen sie am Krankenhaus ein. Dr. Ryan erwartete sie bereits in seinem Sprechzimmer. Als sie eintraten, war noch eine Krankenschwester zugegen, die den kleinen Jungen an der Hand nahm und sagte: »Komm mal mit, Tommy, ich muss dir ein paar Sachen im Spielzimmer zeigen.« Sie führte ihn hinaus. Dr. Ryan wandte sich an Anne und ihren Mann. Er gab Mack, den er bislang nicht kennengelernt hatte, die Hand und begann umstandslos: »Ich habe leider keine guten Nachrichten für Sie. Uns liegen die Untersuchungsergebnisse vor. Es ist genau das, was ich befürchtet habe.«

»ALD?«, flüsterte Anne.

»Es bestehen kaum Zweifel«, erwiderte er. »Es sind sichtbare Schädigungen zu erkennen, dazu kommen Schwäche und Taubheit in den Gliedern, vor allem auf der rechten Körperhälfte.«

Er wandte sich an Mack. »Lieutenant Commander, diese Krankheit wurde in der Hölle erfunden. Wir können sie nicht heilen, in den meisten Fällen können wir noch nicht einmal den Krankheitsverlauf verlangsamen. Es hängt alles damit zusammen, dass Tommy im Gehirn keine überlangkettigen Fettsäuren abbauen kann. Die Krankheit kommt fast ausschließlich bei Jungen im Alter zwischen fünf und zehn vor.«

»Ist sie selten?«

»Sehr selten. Sie betrifft das sogenannte Myelin, eine fettreiche Membran, die die Nervenbahnen im zentralen und peripheren Nervensystem isoliert. Ohne Myelin können die Nerven keine Impulse weiterleiten. Tommys Myelin wird zerstört, und wir können nichts dagegen tun. Wir versuchen es – und wie wir es versuchen. Das National Institute of Neurological Disorders and Stroke ist sehr darum bemüht, Gegenmittel zu entwickeln. Bislang allerdings ohne Erfolg.«

»Wird Tommy sterben?«, fragte Mack.

»Ja, er wird sterben. Wie die Dinge im Moment stehen, ist es sehr unwahrscheinlich, dass er seinen zehnten Geburtstag erlebt.«

»Können Sie uns sagen, wie lange er wirklich noch hat?«

»Bei seiner augenblicklichen Verfallsrate … ein halbes Jahr.«

Anne Bedford verlor die Fassung und weinte hemmungslos in den Armen ihres Mannes.

»Es tut mir leid«, sagte Dr. Ryan. »Aber geben Sie nicht alle Hoffnung auf. Wir sind dran, und es besteht die Möglichkeit, mit einer speziellen Diät Tommys Leben zu verlängern. Die einzige wirkliche Hoffnung aber liegt in der Schweiz, wo man behauptet, eine vollständige Knochenmarktransplantation sei die Lösung – wie so oft bei Leukämie.«

»Kann das hier gemacht werden?«, fragte Mack.

»Noch nicht. Bei einer Operation an einem so jungen Patienten kann es zu Komplikationen kommen. Wir sind noch nicht bereit, das hohe Todesfallrisiko auf uns zu nehmen. Die Schweizer aber meinen, sie hätten einige der Probleme gelöst.«

»Wie viel würde so etwas kosten?«

»Eine Million Dollar. Darunter werden sie es nicht machen. Tommy müsste einen Monat, vielleicht sechs Wochen dort bleiben.«

»Und die Operation würde das Myelin zurückbringen?«, fragte Mack.

»Sie behaupten, den Myelinabbau stoppen zu können – falls der Patient überlebt.«

»Was ist das für eine Klinik?«

»Eine hoch spezialisierte Kinderklinik in der Nähe von Genf. Solche Kliniken bieten meistens All-Inclusive-Pakete, in denen Unterkunft und Verpflegung für einen Elternteil sowie eine zeitlich unbefristete Nachbehandlung mit eingeschlossen sind. Selbst wenn sie ein zweites Mal operieren müssen, bleibt der Preis der gleiche.«

»Aber amerikanische Versicherungen decken Behandlungen im Ausland nicht ab?«

»Nicht in dieser Größenordnung. Bislang hatte ich nur einen Fall, bei dem die Eltern bereit waren, das Risiko auf sich zu nehmen und ihren Sohn in diese Klinik zu schicken. Sie haben dafür sogar ihr Haus verkauft.«

»Und was ist geschehen?«

»Der Junge kam durch. Er war ein halbes Jahr in der Schweiz. Aber er schaffte es.«

»Wir könnten nicht mal die Hälfte der Summe aufbringen.«

»Lieutenant Commander, das können die wenigsten«, erwiderte Dr. Ryan. »Aber geben Sie die Hoffnung nicht auf. Es könnten sich jederzeit bahnbrechende Entwicklungen ergeben. Und sollte das geschehen, werden wir sofort handeln. Tommy ist ein großartiger Junge, und mit Ihrer Navy-Versicherung sind Sie gut abgedeckt.«

Tommy kehrte ins Sprechzimmer zurück. Sie verabschiedeten sich, doch bevor sie gingen, nahm Dr. Ryan Anne beiseite und sagte: »Ich würde ihn gern in einer Woche wiedersehen. Und achten Sie auf Anzeichen von Gedächtnisverlust. Das ist sehr wichtig. Sagen Sie mir Bescheid, falls Sie etwas beobachten.«

Auf dem Heimweg herrschte Schweigen. Mack war sich darüber im Klaren, dass sie die Mittel nicht aufbringen konnten, um Tommy in die Schweiz zu schicken. Insgeheim fürchtete er, dass Anne ihm die Schuld dafür geben könnte.

Anne fuhr schneller als sonst. Sie war aufgewühlt, von ihrer sonst so sachlichen, ruhigen Art war nichts mehr zu spüren. Es war, als hätte man ihr einen Todesstoß versetzt. Ihr kleiner Junge würde sterben, und niemand konnte ihm helfen. Ihre Familie, selbst ihr Mann konnten ihr keine Zuflucht bieten. Noch nicht einmal er, der große SEAL-Commander, jedermanns Held, konnte Tommy retten.

Tommy war wieder eingeschlafen, und Mack wusste nicht, was er sagen sollte, um seine Frau zu trösten. Er hatte keine Worte dafür, es gab keine. Wenn Tommy starb, wusste er nicht, ob sich seine Frau jemals davon erholen würde.

Zu Hause angekommen, fuhr Anne den Wagen in die Garage, Mack trug seinen Sohn ins Haus und legte ihn aufs Sofa im Wohnzimmer. Als sie hereinkam, weckte sie ihn sacht und ging mit ihm in die Küche, um ihm ein Mittagessen zu bereiten, einen gegrillten Hamburger, den er so liebte, und eine heiße Schokolade, dann brachte sie ihn nach oben, damit er sich ein wenig hinlegte. Tommy hatte nichts mehr dagegen, nachmittags ins Bett gebracht zu werden. Jeder Schritt die Treppe hinauf brach Anne das Herz.

»Ich habe deinen Dad eingeladen, auf einen Kaffee«, sagte sie zu Mack, als sie wieder unten war. »Ich glaube nicht, dass wir ihn wegen seines Enkels beunruhigen sollten.«

»Wie viel weiß er?«, fragte Mack.

»Nur, dass Tommy krank ist und es sich um eine komplizierte Sache handelt, mehr nicht. Ich will nicht, dass er sich Sorgen macht, außer du meinst, man müsste ihm alles erzählen.«

»Wir sollten es vorerst dabei belassen. Der Alte ist erst vor kurzem in Pension gegangen, und er und Mom genießen das Zusammensein. Das sollten wir ihnen nicht verderben. Du weißt ja, es würde sie sehr bedrücken.«

Kurz nach vier Uhr erschien George Bedford in einem schreiend blau- und silberfarbenen Hawaiihemd und einem weißen Panamahut. Er betrat das Haus mit dem Selbstbewusstsein desjenigen, der die Anzahlung für die Immobilie als Hochzeitsgeschenk geleistet hatte. Er küsste Anne und schüttelte seinem Sohn die Hand. »Willkommen zu Hause, Junge«, sagte er. »Hab gehört, du hast einiges durchgemacht.«

»War nicht allzu schön. Eine von diesen quasipolitischen Angelegenheiten. Man hat mich zwar in allen Anklagepunkten freigesprochen, aber in der Navy war es das Aus für mich. Nach einem Prozess wie diesem kann man nur noch seine Sachen packen.«

»Schon irgendwelche Pläne? Eine neue Karriere?«

»Noch nicht. Ich bin ja erst ein paar Stunden hier.«

»Schon gut, trotzdem brauchst du einen Plan. Im Normalfall würde ich sagen, triff dich mit Harry. Der besorgt dir was. Aber von der Werft hört man komische Sachen, und keine guten.«

»Ach?«, erwiderte Mack. »Was ist los?«

Anne kam herein, verkündete, sie habe Eiskaffee gemacht, und fragte, ob Mack und Dad ihn draußen auf der Veranda zu sich nehmen wollten. Wunderbar, kam es von George, und so ließen sie sich in den großen Korbsesseln nieder, nippten an ihrem Kaffee und besprachen das Schicksal von Remson’s Shipbuilding.

»Es sind nur Gerüchte, vergiss das nicht«, sagte George. »Nichts als Gerüchte. Aber wenn man sie oft genug hört, macht man sich eben so seine Gedanken. Jedenfalls sagt jeder, dass der Auftrag für die französische Fregatte storniert werden soll.«

»Großer Gott! Nach all den Jahren? Warum?«

»Aus politischen Gründen, wie man hört. Da bewirbt sich so ein Neuer für das Amt des französischen Präsidenten, ein Gaullist.«

»Ist das gut oder schlecht?«

»Das ist schlecht, mein Sohn, ganz schlecht. Die Gaullisten sind, was das französische Militär angeht, Isolationisten. Sie wollen, dass sämtliche militärische Ausrüstung ausschließlich aus Frankreich stammt. Vor allem betrifft es Kampfflugzeuge, Panzer und Kriegsschiffe. Sie wollen damit Arbeitsplätze für die Franzosen schaffen, nicht für Amerikaner oder irgendjemand anderen.«

»Wie heißt dieser Typ?«

»Mir fällt sein Name im Moment nicht ein. Aber er soll im Rüstungsgeschäft tätig sein, und das ist in Frankreich nicht klein – alles multinationale Unternehmen, die irgendwie mit Aérospatiale verbunden sind. Aber viele meinen, dass er gewählt wird, und dann ist für Remson das Spiel aus.«

»Wird das auf deine Pension Auswirkungen haben?«

»Nein. Harry hat da schon vorgesorgt. Aber es wird Auswirkungen auf die Stadt haben, denn ohne die Aufträge für die Fregatten kann Remson nicht überleben.«

»Was passiert, wenn dieser Typ nicht gewählt wird? Muss dann auch mit dem Schlimmsten gerechnet werden?«

»Nein, ich denke nicht. Es hängt nur von diesem einen ab, aber anscheinend ist es ziemlich sicher, dass er gewinnt. Die Franzosen haben die Schnauze voll von ihren linken Regierungen, mit denen haben sie sich immer nur Probleme eingehandelt und einen stagnierenden Lebensstandard.«

»Und der Neue wird Frankreich zu alter Größe führen?«

»Das sagt er zumindest. Wenn mir nur sein gottverdammter Name einfallen würde … was mir einfällt, ist ein Ausspruch von ihm, vom vergangenen Monat: ›Eine reiche Nation kann alles überleben außer Bürgerkrieg und Sozialismus.‹«

»Klingt ganz nach jemandem, der gewählt werden wird. Und man ist sich hier sicher, dass er Remson aufs Abstellgleis schieben will?«

»Na, er sitzt schon eine ganze Weile im französischen Parlament, wo er ständig über Auslandsaufträge wie zum Beispiel die Kohle- und Stahllieferungen aus Osteuropa wettert. Er wird niemals zulassen, dass ein 500-Millionen-Kriegsschiff in den USA bestellt wird.«

»Grandpa!« Tommy kam auf die Veranda gesaust und warf sich auf George Bedford.

»Und wie geht es meinem kleinen Rabauken?«, fragte der Patriarch der Bedfords.

»Gut. Sehr gut, weil Daddy jetzt wieder zu Hause ist.«

»Und er bleibt auch zu Hause, was? Das ist noch besser.«

»Ja. Viel besser. Vielleicht gehen wir heute Abend zum Angeln, aber ich hab ihn noch gar nicht gefragt.«

»Soll ich ihn für dich fragen?«

»Klar. Das wäre nicht schlecht.«

»Okay, Mack, wie wär’s, wenn du mit deinem Jungen heute Abend zum Angeln gehst? Ich würde auch für eine Weile mitkommen.«

»Gut, dann machen wir das. Aber davor will ich dir was ganz Tolles zeigen. Denn hier haben wir einen Baseball-Spieler, einen Jungen mit einem großartigen Arm und einem Auge wie ein Luchs. Willst du ihn mal in Aktion erleben?«

»Aber klar. Und wenn mir gefällt, was ich sehe, dann binde ich einen Autoreifen an den alten Ahorn dort drüben. Dann kann er richtig trainieren.«

»Okay, Tommy, dann mal los. Hol schon mal die Handschuhe und den Ball, und dann zeigen wir Grandpa, was wir können.«

Tommy wirkte ein wenig nachdenklich, doch dann sagte er: »Hey, Baseball, eine tolle Idee. Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht. An welcher Hand hat man den Handschuh?«

Keiner von ihnen sah, wie Anne Bedford kreidebleich wurde und ihr Tränen in die Augen schossen, als sie sich umdrehte und ins Haus eilte.