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Jane drückte den Knopf für den Aufzug, doch schon kamen ihr Zweifel. Der grausame Tod des Mannes in dem Hotel am Tag zuvor war ihr eingefallen – der Lift, der vom oberen Teil seines zerquetschten Körpers verschmiert in der Halle eingetroffen war.

Sie beschloss, die Treppe zu nehmen.

Jane war auf dem Weg zu den Büros und Radiostudios von TalkNation in Dublins Docklands. Einen Monat zuvor war sie nach drei Jahren Abwesenheit zur Dave Miller Show zurückgekehrt. Und es war zehn Tage her, seit Jane die Hellseherin auf Sendung gebracht hatte. Viele Dinge waren seitdem passiert, hässliche Dinge hauptsächlich. Und Dervla hatte sie alle vorhergesagt.

»Online, digital, auf UKW, hier ist TalkNation – Ihr Sender.« Das Sendermotto in ihren Knopflautsprechern verriet ihr, dass es auf sieben Uhr zuging. Doch auf dem Weg nach oben musste sie am Empfang ihres Geräts drehen. Sie war in einem toten Bereich angekommen, wo das Gebäude das Signal aussperrte, und noch vor dem drängenden Jingle für die Nachrichten war es ganz weg.

Wenig später erreichte Jane die Sicherheitstür, fuhr mit ihrer Karte durch das Prüfgerät und betrat das eigentliche Gebäude. Das Signal kehrte rechtzeitig zur Wettervorhersage zurück. Es war jetzt schon dunkel morgens. Und manchmal war es Nacht, bis sie nach Hause kam. Aber wenigstens versprach die Vorhersage klaren Himmel und herbstlichen Frost. Wie leicht wir eine Wettervorhersage akzeptieren, überlegte sie, als sie mit ihrer Umhängetasche an die Schwingtür stieß und im Rückwärtsgang den Flur zum Sender betrat. Wenn wir Wetterdaten analysieren und eine Prognose für mehrere Tage erstellen lassen, warum können wir dasselbe nicht auch bei anderen Themen tun? Ein Zyniker würde vermutlich antworten, dass Wettervorhersagen trotz aller angewandten Wissenschaft noch immer unzuverlässig seien, wozu sollte es also gut sein, andere Dinge vorauszusagen zu wollen? Doch dieser Zyniker hätte Dervla nicht gehört.

Und jetzt glaubten einige aus dem Team, die Hellseherin würde ihre Aufmerksamkeit ihnen selbst zuwenden, weil der Mann, der bei einem außergewöhnlichen Unfall getötet worden war, im Lauf des Jahres in ihrer Sendung aufgetreten war.

Als Jane in den Empfangsbereich von TalkNation vorstieß, kollidierte sie mit einer schlanken Brünetten in einem eng sitzenden Kleid und hohen Absätzen. Der Stapel Zeitungen, den die Frau getragen hatte, ergoss sich auf den Teppich.

»Herrje, tut mir leid, Laura …« Jane stellte ihre Tasche ab und ging in die Hocke, um der Programmassistentin Laura Moore beim Aufsammeln der Zeitungen zu helfen, die sie vom Empfangstisch geholt hatte. Als Jane eine der Boulevardzeitungen aufhob, erblickte sie das Foto eines blonden Models auf der Titelseite. Yvette Daly in einer Zeitung posieren zu sehen, war jedoch nichts Ungewöhnliches, deshalb beachtete Jane die Schlagzeile neben ihrem kurvenreichen, mit einem Badeanzug bekleideten Körper nicht.

»Schrecklich die Sache mit Yvette, nicht wahr?«, sagte Laura, als Jane die Zeitung auf den Stapel werfen wollte.

Erst jetzt las sie die Schlagzeile.

MODEL TOT UNTER BRÜCKE GEFUNDEN

Sie griff erneut nach dem Blatt und stand auf, um zu lesen.

Bei einer Toten, die heute am frühen Morgen unter der Luas Bridge in Dundrum gefunden wurde, soll es sich um das prominente Model Yvette Daly handeln. Die Zweiundzwanzigjährige hatte schwere Verletzungen erlitten, die möglicherweise davon rühren, dass sie von einer Tram überfahren wurde. Die Luas-Linie führt nahe an ihrem Haus vorbei.

Es gab keine weiteren Einzelheiten. Die Meldung war offensichtlich in letzter Minute ins Blatt gerückt worden.

»O mein Gott … Yvette?«, sagte Jane.

»Ja. Es ist schrecklich.«

»Was ist ihr eingefallen, auf den Trambahngleisen zu laufen?«, fragte Jane.

»Vielleicht hat sie eine Abkürzung nach Hause genommen.« Laura neigte dazu, vernünftig klingende Erklärungen abzugeben, die einer genaueren Prüfung oft nicht standhielten.

Jane schüttelte den Kopf. Wenn Yvette von einer Tram angefahren wurde, wie war sie dann unter der Brücke gelandet? Sie folgte Laura in den Bürotrakt, bog dann aber links ab. Zwei Mitglieder des Teams saßen an einem runden, mit Zeitungen übersäten Tisch: eine Frau mit weichen Gesichtszügen und einer schwarz gerahmten Brille und ein Mann mit trüben Augen und feinem, sandfarbenem Haar. Sie blickten auf und erwiderten ihren halbherzigen Gruß. Sie sahen es ihr im Gesicht an.

»Wann hast du es erfahren?«, fragte Ali McBride leise. Sie war die zweite Produzentin der Sendung. Joe war einer von zwei Rechercheuren.

»Ich habe es eben erst in der Zeitung gesehen. Wie kann das passiert sein? Warum sollte sie auf den Gleisen gehen?«

Ali zog an einer der dunklen Korkenzieherlocken, die ihr in die Stirn hingen. »Wie wir gerade erfahren haben«, sie reckte den Hals und wies zu einem der Schreibtische, an dem die Rechercheurin Carmel O’Hagan hinter einer Trennscheibe ein leises, aber intensives Telefongespräch führte, »wurde Yvette nicht von einer Tram angefahren.«

»Glaubt man, dass sie von der Brücke gefallen ist?«, sagte Jane.

Die beiden anderen wechselten einen Blick. Jane brauchte einen Moment, bis sie verstand. »O Gott – sie ist gesprungen …«

»Ja …«, begann Joe und verzog das Gesicht, um Jane auf seine nächsten Worte vorzubereiten, »und wie es aussieht, hat sie sich erhängt.«

»Großer Gott.«

»Wie gehen wir damit um?«, fragte Ali, stand auf und folgte Jane zu ihrem Schreibtisch.

Jane setzte ihre Baskenmütze ab, schüttelte das Haar aus und ließ sich am Schreibtisch nieder. Sie versuchte, auf professionelles Denken umzuschalten. Es stand außer Frage, dass sie die Geschichte bringen würden. Yvette Daly war nicht nur regelmäßiger Gast in der Sendung gewesen, sondern auch eines der bekanntesten Models des Landes, und ihr Gesicht und ihr Körper hatten die Zeitungsseiten beinahe täglich geziert. Manches war beruflicher Natur: Produktvorstellungen, Modeaufnahmen, PR-Drehs. Anderes war privat: die jüngste Trennung, ein neuer Freund, Gerüchte über eine Drogensucht. Soweit es Yvette betraf, war alles beruflich. »Es gibt keine schlechte Publicity«, pflegte sie zu sagen – ein zynischer alter PR-Slogan, den sie so verinnerlicht hatte, als wäre er frisch für sie geprägt worden. Sie hatte auch eine herzerwärmende Naivität an sich.

»Was willst du machen?«

Jane hatte vergessen, dass Ali neben ihr stand. Sie war untersetzt und bevorzugte knielange Röcke, zu denen sie tief ausgeschnittene, feminine Oberteile trug, die den Blick auf ihr üppiges Dekolleté lenkten.

»Nicht so schnell, Ali. Ich muss erst Dave anrufen und es ihm sagen.«

»Carmel hat einen der Sanitäter ausfindig gemacht, die vor Ort waren. Er wollte nicht reden, aber sie sagt, sie versucht, ihn umzustimmen.«

In diesem Augenblick legte Carmel den Telefonhörer auf und schwenkte in ihrem Sessel herum. »Er macht es«, sagte sie triumphierend. »Er hat gleich dienstfrei und wird auf dem Nachhauseweg sein.« Sie sah Jane an ihrem Schreibtisch sitzen. »Ah, hallo Jane. Hat Ali dir gesagt, dass ich …?«

Jane schüttelte den Kopf. »Ich finde es zu gruslig.«

»Niemand sonst wird ihn haben«, sagte Carmel, und ihre Wangen waren noch geröteter als sonst.

»Ja, und gute Arbeit, dass du ihn ausgegraben hast, aber Yvette ist eine Freundin von uns, und wir müssen an ihre Familie denken. Wir lassen Dave einen Nachruf auf sie machen. Und dann können die Leute anrufen. Viele Menschen werden über sie sprechen wollen.«

»Gut«, erwiderte Carmel barsch und schwenkte zu ihrem Bildschirm zurück. Jane wusste, dass ihre Wangen inzwischen wahrscheinlich glühten. Wieder so ein typischer Tag im Büro, dachte sie. Nur dass es nicht stimmte. Nichts war dieser Tage typisch.

Sie brauchte unbedingt einen Kaffee. Sie klaubte ein paar Münzen für den Automaten aus ihrer Handtasche, aber beim Blick auf die Wanduhr hinter Millers Schreibtisch überlegte sie es sich anders. Es war 7.15 Uhr. Er würde jetzt aufstehen – und sie wollte ihm die Neuigkeit mitteilen, bevor er sie aus dem Radio erfuhr. Sie griff nach dem Telefon auf ihrem Schreibtisch.

Joe kam auf dem Weg zu seinem Schreibtisch vorbei und fragte pantomimisch, ob sie einen Kaffee wolle.

Sie lächelte, nickte und wählte Millers Handynummer.

»Ja.« Selbst ein einzelnes Wort enthielt alle Zutaten der Stimme – im Eichenfass gereifter Shiraz mit Leder- und Tabaknoten, wie ein Kritiker geschrieben hatte.

»Ich habe eine schlechte Nachricht für dich, Dave. Man hat Yvette Daly heute Morgen tot aufgefunden.«

»Yvette? Das kann nicht wahr sein. Wo?«

»Unter der Luas Bridge in Dundrum. Sieht aus wie Selbstmord.«

»Ah, Scheiße – Scheiße! So eine blöde …« Er hielt die Luft an, dann atmete er schwer aus.

»Wir müssen es bringen.«

»Sicher, keine Frage. Obwohl es mich in eine unangenehme Lage bringt.«

»Wieso das?«

»Ich war gestern Abend auf einer Ausstellungseröffnung mit ihr. Ein Cousin von ihr, Designer. Ich bin nur mitgegangen, weil mich Yvette persönlich darum gebeten hat. Am Ende war sie total weggetreten. Ich musste sie in ein Taxi setzen und nach Hause schicken.«

»Sie war betrunken?«

»Nein, ich war betrunken. Sie war weggetreten.«

Drogen.

»Dann warst du einer der Letzten, die sie lebend gesehen haben?«

»Ja, vermutlich.«

Bestimmt kein Tag wie jeder andere im Büro. Joe kam mit ihrem Kaffee und stellte ihn auf den Schreibtisch. Sie nickte zum Dank und trank einen Schluck, ehe sie fortfuhr. »Carmel hat einen der Sanitäter aufgetrieben, der vor Ort war. Aber ich halte nichts davon. Auf keinen Fall zu diesem Zeitpunkt.«

»Ja, sehe ich auch so.«

»Fühlst du dich dazu in der Lage, zu Beginn der Sendung über sie zu sprechen? Anschließend können wir anrufen lassen.«

»Sicher.«

»Okay. Bis gleich dann.« Jane legte das Telefon beiseite und schüttelte zum x-ten Mal an diesem Morgen den Kopf. Sie sah, dass Laura an ihren Schreibtisch zurückgekehrt war. Das ganze Team war startklar. Sie warf rasch einen Blick aus der Fensterfront des Büros. Die Sonne ging über der Bucht von Dublin auf, und ein lachsfarbener Himmel verwies auf die bevorstehenden Frostnächte. Sie trank noch einen Schluck Kaffee, bevor sie hinter ihrem Schreibtisch hervortrat und sich in die Mitte des Büros stellte. »Okay, Leute. Wir haben es mit einer ungewöhnlichen Situation zu tun.«

Alle Augen waren auf sie gerichtet. Selbst die von Carmel.

»Dave war gestern Abend mit Yvette aus …«

»O mein Gott«, jammerte Carmel. »Ich habe es euch doch gesagt.«

»Du meinst Dervla, oder?«, sagte Joe und nahm einen Knopfhörer aus dem Ohr. Er hatte begonnen, sich etwas anzuhören und eine Mitschrift zu machen.

»Natürlich meine ich Dervla«, sagte Carmel. »Sie hat es jetzt auf uns abgesehen.«

»Rede keinen Unsinn, Carmel«, sagte Ali, ohne die Stimme zu heben. »Und überhaupt ist – war – Yvette nicht eine von uns …«

»Wirklich?« Carmels Stimme zitterte vor Erregung. »Wie oft, glaubst du, war sie in diesem Jahr bisher in der Sendung? Ich habe es vorhin überprüft. Vier Modethemen, eins über Make-up, sechs Berichte, als sie auf Celebrity Island war, und wir hatten vor, sie von jetzt bis Weihnachten noch ein paar Mal zu bringen. Und nicht nur das, sie hat Dave ständig bei gesellschaftlichen Anlässen getroffen. Immerhin hat er sie seit ihrer Kinderzeit, äh, aufgebaut.« Die provokative Wortwahl war typisch für sie.

»Aber Dervla hat in ihrer gestrigen Prophezeiung nichts von Yvette gesagt«, bemerkte Laura besänftigend.

»Nicht namentlich«, sagte Ali. »Aber wie war das mit der Schlagzeile für Dave? Dass man ihn wegen des Tods eines Models vernehmen würde?«

»Und dann war da dieses Zeug über Mode und Kunst«, sagte Joe.

»Was genau hat sie gesagt?«, wollte Ali wissen.

»Ich habe es mir noch einmal angehört«, sagte Joe und wandte sich seinem Bildschirm zu. »Sie hat mit einem Rätsel geendet. ›Ob man es Kunst oder Mode nennt, wenn Körper und Geist gewaltsam getrennt?‹«

»Ha!« Carmel sprang von ihrem Stuhl auf. »Körper und Geist …«

Niemand beachtete sie.

»Weiß jemand, wie die Ausstellung hieß?«, fragte Jane.

»Auf Daves Schreibtisch liegt eine Einladung«, sagte Joe und ging zum hintersten Schreibtisch des Büros. Er wühlte ein wenig herum, ehe er ein buntes Rechteck hochhielt und laut vorlas. »Hot Hijab … Im Rahmen unserer Serie Art in Fashion laden wir Sie zu einer Ausstellung mit handbedruckten Seidentüchern ein, die von islamischer Kunst beeinflusst wurden …«

»Ihr hört nicht zu«, sagte Carmel und strich sich das glatte Haar kampfbereit hinter die Ohren. »Sie hat sich sogar mithilfe eines Halstuchs erhängt.«

»Zufall«, sagte Ali.

»Wie oft haben wir das in den letzten Wochen gesagt? Wie oft?« Carmels Stimme überschlug sich beinahe.

»Beruhige dich, Carmel«, sagte Jane.

»Du hörst dich an wie der Jammerlappen in Aliens«, sagte Joe und kicherte in sich hinein.

»Ihr glaubt alle, es ist reiner Zufall«, sagte Carmel. »Aber ich bin diejenige, die gerade mit dem Sanitäter telefoniert hat, der am Schauplatz war. Er sagte, Yvette hat sich ein Ende eines langen Halstuchs um den Hals gebunden und das andere an das Geländer der Brücke. Dann ist sie gesprungen.«

»Es ist wieder diese Jahreszeit, oder?«, sagte Laura. Sie wirkte überrascht, als alle sie ansahen. »Für Halstücher, meine ich.«

»Ein Zufall also, wie wir schon sagten«, übersetzte Ali.

»Glaubst du?« Carmels Gesichtsausdruck war beinahe manisch. »Dann ratet mal, was danach passiert ist – nachdem sie gesprungen ist? Warum schwere Verletzungen gemeldet wurden. Weil sie auseinandergerissen wurde. Die Wucht des Sturzes hat ihr den Kopf abgerissen.« Sie sah die anderen der Reihe nach an. »Also erzählt mir nicht, dass es Zufall war. Oder dass Dervla – wer immer sie ist – es nicht auf uns abgesehen hat.«