8
Am ersten Montag jeden Monats hatten sie nach der Sendung ein Planungstreffen für die nächsten Wochen. Auf dem Weg zum Konferenzraum sagte Ali zu Jane, dass Ed Hogan sie gefragt habe, ob er zu Beginn der Sitzung über etwas berichten dürfe, worum er gebeten worden sei.
»Ich habe zugesagt.«
»In Ordnung«, sagte Jane. Es war wichtig, Ali kleinere Entscheidungen treffen zu lassen, wenn sie selbst nicht da war. Ali hatte sich um die Stelle der verantwortlichen Redakteurin beworben, nachdem Barry Leonard den Sender verlassen hatte. Aber stattdessen war Jane nach drei Jahren Abwesenheit zurückgekommen und hatte die Sendung übernommen – gegen den Wunsch der Geschäftsführerin, wie sie jetzt wusste. Ali war kein nachtragender Mensch, aber sie litt immer noch ein wenig darunter, und Jane wusste es.
»Ich habe außerdem einen Anruf von so einem Typen erhalten, klang nach Amerikaner oder Kanadier. Höflich, aber ein bisschen arrogant. Er wollte eine Adresse von Dervla. Ich sagte, selbst wenn wir eine hätten, was nicht der Fall sei, würden wir sie ohne Erlaubnis nicht herausgeben. Dann bat er mich, ihn zu dem oder der Verantwortlichen durchzustellen. Ich sagte, du würdest im Studio keine Anrufe annehmen, also hat er nach deinem Namen gefragt.«
»Okay, Ali. Ich werde ohne Frage von ihm hören. Dervla bringt uns mit Sicherheit alle möglichen Spinner auf den Hals.«
Sie hatten gerade am Tisch Platz genommen, als Ed Hogan hereinkam.
Jane erläuterte, dass sie Hogan gebeten hatten, sich die Aufzeichnungen von Dervlas Stimme anzuhören und sie zu analysieren.
»Okay, Ed«, sagte Miller. »Erklären Sie es uns in einfachen Worten.«
»Natürlich, Dave. Also, zuerst hab ich es mir natürlich angehört. Und beim Blick auf die digitalen Audiodateien wurde mein Verdacht dann bestätigt. Es gibt immer wieder unnatürliche Unterbrechungen zwischen einzelnen Wortgruppen und Sätzen. Natürliche Sprache hat, selbst wenn man sie durch einen Stimmverzerrer ändert, einen gewissen Fluss, Worte fließen ineinander, Sätze werden durch Luftholen und Stocken unterbrochen, man hebt und senkt die Stimme, und so weiter. Den Äußerungen dieser Dame fehlt dieser natürliche Fluss. Es ist wie bei einem vorab aufgezeichneten Interview, wenn man eine Menge Tonschnipsel einer Person zusammenschneidet, aber es so klingen lassen will, als wäre alles in einem Stück gesagt worden. Das Ohr verrät einem, dass es ein bisschen sprunghaft ist und irgendwie nicht zusammenpasst. In ihrem Fall wurde alles sehr glatt und mit viel Gefühl geschnitten, es gibt keine Sprünge, aber das Ergebnis ist eine Art formelle, mechanische Sprechweise.«
»Was wollen Sie nun damit sagen, Ed?«, fragte Miller mit kaum verhüllter Ungeduld.
»Sie verändert ihre Stimme nicht. Weil da gar keine Stimme ist, die man ändern könnte.«
Miller blieb der Mund offen stehen.
»Na toll, eine körperlose Stimme«, rief Carmel aus.
»Sie ist also total künstlich«, sagte Jane.
»Ja, eine vom Computer erzeugte Stimme, die über eine Tastatur gesteuert wird. Aber damit ist nicht einmal annähernd beschrieben, wie raffiniert die Technik ist. Modernste Sprachsoftware und jede Menge vorprogrammierter Phrasen, Einwürfe und Antworten – ›ja, Dave, nein, Dave‹ – alles, um eine schnelle, normal erscheinende Kommunikation zu unterstützen. Sie kann Sätze im Voraus tippen und sie in das Gespräch mischen. Die Software verändert sogar die Zeiten von Verben, damit sie in den Kontext des Redeflusses passen.«
»Aber es handelt sich nicht um ein Gerät, das irgendein Alien erfunden hat, um mit uns Erdlingen zu reden, oder?«, sagte Jane. »Es ist auf dem Markt erhältlich, wenn ich recht verstehe.«
»Ja, sicher. Sehr teuer, allerdings.«
»Man würde also keines kaufen, nur um seine Stimme zu verschleiern«, sagte Joe.
»Nein, das würde keinen Sinn ergeben. Und überhaupt wurde diese Technik eigentlich für Leute entwickelt, die sonst in ihrer Kommunikation behindert sind.«
Rund um den Tisch wurden Blicke gewechselt.
»Sie meinen … sie kann nicht sprechen?«, sagte Ali.
Hogan zuckte mit den Achseln. »Wer weiß? Und wer sagt, dass es überhaupt eine Frau ist?« Er stieß seinen Stuhl zurück. »Wenn es Ihnen recht ist … Ich werde noch bei einer anderen Besprechung erwartet.«
Jane dankte Hogan und wandte ihre Aufmerksamkeit Miller zu. Er hatte die Ellbogen auf dem Tisch und den Kopf in die Hände gestützt; mit den Daumen bearbeitete er seinen Kiefer, die übrigen Finger massierten die Stirn. Es war offensichtlich, dass eine Erklärung folgen würde.
Er hob den Kopf. »Es ist so, wie ich es die ganze Zeit vermutet habe. Nicht nur eine Person, sondern vermutlich ein ganzes Netzwerk von Leuten, die zusammenarbeiten, um den Eindruck zu erwecken, dass sie zukünftige Ereignisse voraussagen. Sie geben Informationen weiter – vom Computer einer Fluglinie, in den sie eingedrungen sind, aus einer abgefangenen SMS oder einem Handyfoto – aber da alles augenblicklich durch ›Dervla‹ übermittelt wird, wirkt es wie Vorauswissen.«
Die anderen dachten eine Weile darüber nach.
»Der Feuersturm – wie würdest du den erklären?«, fragte Ali schließlich.
»Sie wirkte ein bisschen ratlos, bevor sie mit dem Rätsel daherkam. Hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich die andere Prophezeiung ablehnen würde. Wie ich heute Morgen schon sagte, ich wette, es gab in den nächsten vierundzwanzig Stunden noch weitere Ereignisse rund um die Welt, die zu der Beschreibung gepasst hätten, vielleicht sogar eins, von dem sie bereits wussten, wo sie nur die genauen Einzelheiten noch nicht in Erfahrung gebracht hatten. Die Tatsache, dass am nächsten Tag in Dublin eines stattfand, war einfach ein glücklicher Zufall für sie. So wie alle glauben, sie habe den Tod des Ministers vorhergesagt – aber das hat sie nicht. Sie – oder die Leute hinter ihr – hat ihn nicht vorhergesagt, aber alle glauben, sie wusste, was passieren würde.«
»Was ist, wenn man Henry in der Jauchegrube findet?«, fragte Jane. »Wie würdest du dir erklären, dass sie es wusste?«
»Weil irgendwer dort in der Gegend schon jetzt weiß, was ihm zugestoßen ist. Vielleicht war er nicht allein, als es passiert ist. Vielleicht waren seine Freunde dabei. Dann hat einer rasch einen Blog eingesetzt oder es auf Facebook gepostet …« Ein rascher Blick in die Runde zeigte ihm, dass die meisten skeptisch waren. »Ich will damit nur sagen, es wäre möglich. Alles ist möglich, heutzutage …«
»Dann lasst es uns durchdenken«, sagte Jane. »Angenommen, es gäbe diese Art Netzwerk, sagen wir eine Bande Computerfreaks – warum sollten sie in die Sendung kommen und Vorhersagen machen?« Sie blickte rund um den Tisch. »Irgendwelche Ideen?«
»Um sich einen Spaß zu machen«, sagte Joe ohne eine Spur von Missbilligung.
»Vielleicht starten sie eine parapsychologische Hotline und benutzen die Sendung, um vorab Publicity zu bekommen«, schlug Ali vor. »Wie virale Werbung.«
»Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand ein erfolgreiches Unternehmen startet, nachdem er in der Sendung auf sich aufmerksam gemacht hat«, bemerkte Laura.
»… bekannt aus der Dave Miller Show«, sagte Joe, mit verstellter, tieferer Stimme.
»Die Leute gehen vielleicht gern zu Wahrsagern, aber nicht, um von Tod und Zerstörung zu hören«, sagte Carmel. »Warum akzeptieren wir nicht die einfache Erklärung – Dervla kann tatsächlich die Wahrheit vorhersagen.«
»Ja, und ich bin der Papst«, sagte Miller abschätzig.
»Aber ob sie es kann oder nicht, erklärt noch nicht, warum sie es tut«, versuchte Jane, bei der Sache zu bleiben.
»Du bist inzwischen richtig gegen sie eingestellt, hab ich recht, Dave?«, sagte Carmel, ohne auf Jane einzugehen. »Liegt es an diesen komischen Sachen, die sie über euch beide am Meer sagt?«, fügte sie an, da sie spürte, dass es sich lohnte, diesen Stein umzudrehen.
»Das ist nur sinnloses Gewäsch. Wenn Ed recht hat damit, wie die Sache technisch funktioniert, dann sind es wahrscheinlich Macken in der Software – unbeabsichtigte Kombinationen von Worten und Phrasen.«
»Und ich bin der Pyjama des Papstes«, spottete Carmel.
»Apropos«, sagte Ali. »Der Papst hat die Christen in aller Welt aufgerufen, sich mit den palästinensischen Christen solidarisch zu zeigen, indem sie aus jeder Diözese eine Delegation zur Weihnachtsfeier in Bethlehem schicken. Ich finde, wir sollten die Hörer fragen, was sie davon halten.«
»Okay, wir werden darauf zurückkommen«, sagte Jane nun und öffnete den Kalender für die Sendung. »Schauen wir mal, was wir diesen Monat machen.«
»Wir müssen diesen Monat noch einen guten Feldzug auf die Beine stellen. Sonst kommen wir zu nahe an Weihnachten.«
Die Show hatte sich im Lauf der Jahre einen guten Namen mit erfolgreichen Feldzügen für Verbraucher und Verbrechensopfer gemacht. Zu denen, die Jane einfielen, gehörte eine Gesetzesänderung, wonach Vergewaltiger im Fall einer Wiederholungstat automatisch lebenslänglich bekamen, die Einführung des AMBER Alert Systems für vermisste Kinder und die Aufdeckung eines Kartells in der Autohandelsbranche, die zu einer Gefängnisstrafe für die Drahtzieher führte. Und seit diese Show auf TalkNation gestartet war, hatte sich Miller damit hervorgetan, Missbrauchsopfern katholischer Priester, Mönche und Nonnen eine Stimme zu geben. Jane sah Ali an. »Sag mir noch mal kurz, was bisher gelaufen ist in diesem Jahr.« Sie musste sich vergewissern, dass sie während ihrer Auszeit nichts verpasst hatte.
»Ich würde sagen, das Highlight war, als wir das Unterhaus zu einer Debatte über ein Verkaufsverbot für Kleidung mit sexuellen Slogans und Motiven für Mädchen unter zehn Jahren gedrängt haben.«
»Ja, das habe ich verfolgt«, sagte Jane. »Vermutlich ist mir das Thema bewusster, jetzt, da ich selbst ein Mädchen habe.«
»Es war ein wunderbarer Anblick, Regierung und Opposition ins gleiche Horn stoßen zu sehen«, sagte Joe.
»Das Problem war nur, dass kein entsprechendes Gesetz verabschiedet wurde.«
»Politiker«, sagte Miller verächtlich. »Ich sage euch, es wird immer schlimmer. Ich habe auf der Halloween-Party am Freitag eine Neunjährige mit Playboy-Bunny-Ohren gesehen, und eine andere trug ein T-Shirt, auf dem stand: ›Diese Kleine bläst gern einen‹, und dahinter in winziger Schrift: ›Ballon auf‹.«
»Wie bescheuert muss man als Eltern sein, um seine Tochter so etwas tragen zu lassen?«, fragte Joe.
»Genauso bescheuert, wie wenn man sie ein Jahr später dazu ermuntert, sich wie eine Nutte herauszuputzen«, schäumte Miller.
»Du und Zita, ihr achtet sehr darauf, was Rachel anzieht, oder?«, bemerkte Laura.
»Nicht nur wir. Die Eltern ihrer Freundin Nessa denken genauso. Die Kindheit ist einfach zu kurz heutzutage. Aber machen wir weiter – welche Themen haben wir dieses Jahr noch verfolgt?«
Ali schaute auf ihren Ausdruck. »Wir haben eine Reduzierung der TÜV-Kosten erreicht.«
»Große Sache«, sagte Miller.
»Dann waren da dieses ältere Ehepaar, das von der Bank schikaniert wurde, der Grafschaftsrat, den wir so bloßstellten, dass er schließlich einen Spielplatz anlegte, die Firma, der wir nachwiesen, dass sie medizinischen Abfall ins Grundwasser gelangen ließ.«
»Alles kleinere Themen«, sagte Miller. »Wir brauchen einen echten Knüller.«
Joe hob die Hand. »Ich habe heute Morgen einen Anruf von einem Vater bekommen, dessen Tochter von einem Kerl angegriffen wurde, der bereits wegen eines Gewaltverbrechens im Gefängnis saß. Er war zu diesem Zeitpunkt auf Sonderurlaub draußen und hat die Tankstelle ausgeraubt, in der sie arbeitete. Er hat ihr bei dem Überfall die Zähne ausgeschlagen, und sie wird für immer verunstaltet bleiben. Als es um das Strafmaß für das zweite Verbrechen ging, rechnete es der Richter auf die Haftstrafe an, die er bereits verbüßte. Der Standpunkt des Vaters ist, dass er damit für den Angriff auf seine Tochter nicht bezahlt.«
»Angerechnete Strafen gegen Folgestrafen … hm«, sinnierte Miller. »Insgesamt verwirrend für die Öffentlichkeit. Immer ein umstrittenes Thema. Ich denke, da bist du an einer interessanten Sache dran, Joe.«
»Kann er gut reden?«, fragte Jane.
Joe nickte. »Die Geschichte, was seiner Tochter zugestoßen ist, erzählt er sehr gut.«
»Gut«, sagte Jane. »Kannst du ihn für morgen buchen?«
»Okay.«
»Ich finde, wir sollten jemanden haben, der über Präkognition spricht«, sagte Miller.
»Warum?« Jane war überrascht, dass er sich dem Thema nähern wollte.
»Um den Hörern zu erklären, warum es nicht möglich ist«, sagte er und sah Carmel finster an. »Nichts von diesem esoterischen Quatsch.«
»Der Typ, der Countdown to Doomsday geschrieben hat, wäre vielleicht gut«, sagte Joe. »Er hat auch über Zeitreisen und Präkognition geschrieben.«
»Wie hieß er gleich noch?«, fragte Miller.
»Derek Cooke. Er wohnt irgendwo in West Cork.«
»Ja, er war gut. Frag ihn. Am Telefon wird reichen. Und wenn er am Mittwoch Zeit hat, umso besser.«
Am Ende der Sitzung bat Miller Jane, noch auf ein Wort zu bleiben. Als die andern gegangen waren, sagte er: »Schaff mir Carmel vom Hals, ja? Sie legt es im Augenblick wirklich drauf an.«
Jane wusste, es war nicht das erste Mal, dass es Reibungen zwischen den beiden gab – das ging schon seit Jahren so. Aber aufgrund ihrer Fähigkeiten als Rechercheurin war sie im Team geblieben.
»Ich rede mit ihr. Aber ich glaube, da ist mehr dahinter, als man auf den ersten Blick sieht.«
»Wie meinst du das?«
»Du weißt, dass sie einen Minderwertigkeitskomplex hat, weil sie noch nicht Produzentin geworden ist. Ich glaube, das kam mit meiner Rückkehr als verantwortliche Produzentin alles wieder hoch. Sie hatte natürlich gehofft, Ali würde befördert werden, und sie würde Alis Job bekommen.«
Miller stand auf. »So wie Ali hoffte, sie würde verantwortliche Produzentin werden. Irgendwas nagt immer an ihnen, oder? Liegt es daran, dass sie Frauen sind?«
Es war ein billiger Seitenhieb, aber er war schon aus dem Besprechungszimmer, ehe Jane reagieren konnte.
Als sie ins Büro zurückkam, war außer Carmel niemand da, deshalb beschloss sie, auf der Stelle mit ihr zu reden. »Du bist im Moment ziemlich spitz zu Dave, und er fühlt sich ein bisschen dünnhäutig.«
»Hat er dich geschickt, die Drecksarbeit für ihn zu machen, ja?«
»Wenn du damit meinst, dass er etwas zu mir gesagt hat, dann ja. Als Teamchefin ist es mein Job, die Sache zu klären, und ihn bei Laune zu halten, damit er seine Arbeit machen kann. Das hat oberste Priorität für mich. Könntest du deine Sticheleien also bleiben lassen?«
»Und wo komme ich in der Hackordnung?«
»Du bist ein wertvolles und hoch geschätztes Mitglied des Teams, welches das Biest namens Dave Miller Show füttert. Aber er ist derjenige, der in vorderster Linie steht und wie der Löwenbändiger jeden Tag sein Leben riskiert.«
»Und du umsorgst das Talent, was, Jane?«
»Ja. Also halt dich einfach zurück, in Ordnung? Wieso hast du deine Meinung über Dervla übrigens geändert?«
»Zunächst dachte ich – wie Dave –, es handelte sich um eine Art Experiment von ein paar Computerfreaks, vor allem, als ich hörte, wie sie die Szene aus 2001 gespielt haben – typisch Jungs. Aber dann ist das Flugzeug wie vorhergesagt abgestürzt, und als ich Daves Reaktion gesehen habe, fragte ich mich, wieso ein Haufen pickliger Jungs mit Laptops das Verdienst einstreichen sollten, statt einer Frau mit der Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen. Ich sah Parallelen dazu, wie weise Frauen und Hexen in der Vergangenheit von Männern behandelt wurden.«
»Hm …«, murmelte Jane nichtssagend. Typisch Carmel, einen solchen Aspekt einzubringen. »Und wo bleibt dann der Dialog aus 2001?«
»Das ist doch klar«, sagte sie, und ihr Gesicht hellte sich auf. »Sie wusste, das würde ihn neugierig machen.«
Das ergab allerdings einen Sinn. Und so fragte sie sich einmal mehr – warum?
Henrys Leiche wurde später am Nachmittag von Polizeitauchern gefunden. Jane sah die von einem Zaun umgebene Lagune aus Tierabwässern, in der er ertrunken war, in den Sechsuhrnachrichten. Ein Sprecher der Polizei sagte, sie hätten bereits am Vortag eine vorläufige Durchsuchung der Schweinefarm durchgeführt, und die Jauchegrube sei zugefroren gewesen und habe unberührt gewirkt. Der Reporter fragte daraufhin, ob sie wegen der Behauptungen eines Mediums in der Dave Miller Show noch einmal auf der Farm gewesen seien. Der Sprecher verneinte dies und sagte, sie hätten bereits geplant, die Grube zu durchsuchen, es habe jedoch eine Verzögerung gegeben, weil die Taucher wegen der Gefahr durch Methangas noch auf spezielles Atemgerät warten mussten.
Wenn die Taucher bereits vorgehabt hatten, die Grube zu durchsuchen, ging Jane durch den Kopf, dann könnte Dervla vor ihrem Gespräch mit Henrys Mutter davon gewusst haben. Andererseits konnte Dervla nicht wissen, dass sie die Leiche auch finden würden, es sei denn – in Anklang an Millers Theorie über Henrys Freunde –, die Polizei hätte einen entsprechenden Tipp bekommen, und diese Information wäre dann durchgesickert. Aber bestimmt wären die Eltern doch als Erste benachrichtigt worden, wenn Gerüchte über das Schicksal ihres Sohns die Runde gemacht hätten.
»Schwer zu sagen, oder?«, sagte sie zu Ben.
»Was …?«
Er war halb weggedöst in seinem Sessel, während Bethann ihren flauschigen Spielzeughasen Rufus auf seinen Knien herumhüpfen ließ und ein Gespräch zwischen den beiden aufführte.
»Schwer zu sagen, ob Dervla bereits etwas wusste, als sie in der Sendung verkündete, dass der arme Kerl in der Jauchegrube ertrunken ist. Aber der entscheidende Punkt sind die Einzelheiten, die sie liefern konnte. Nicht einfach: ›Henry ist in einer Jauchegrube ertrunken, da habt ihr es.‹ Das ist irgendwie der Schlüssel …«
»Aber du sagtest doch, dass die Mutter von dem Geldbeutel, dem Wetter und so weiter erzählt hatte. Das hat sie natürlich alles mitgekriegt.«
»Ja, aber …« Plötzlich fiel es ihr ein. »Tatsächlich gibt es eine Sache, die Dervla erwähnt hat. Es würde bedeuten, dass sie wirklich vorausgesehen hat, was mit ihm passiert ist. Und es ist etwas, das ich bei der Polizei überprüfen kann.«
Sie wollte aufstehen, aber Bethann hatte Rufus gerade auf ihren Schoß verlegt und schimpfte ihn wegen etwas aus, das er getan hatte.
»Wirklich? Und das würde dich davon überzeugen, dass sie eine Hellseherin ist?«
»Es würde mich davon überzeugen, dass sie Henrys Schicksal vor allen anderen kannte. Nicht, dass sie eine Hellseherin ist.«
»Warum nicht?«
»Weil der Begriff, unabhängig davon, ob es sich um eine Sie oder um mehrere Leute handelt, wie Miller behauptet, einfach nicht passt. Selbst als sie heute den Ausdruck ›nicht mehr unter uns‹ verwendete, klang es ein wenig gezwungen. Man hat gemerkt, dass sie es nicht gewohnt ist, solche Dinge zu sagen, was für eine Hellseherin ein bisschen sonderbar ist.«
»Was ist sie dann?«
Jane sah im Geiste die Nummer auf dem Wrackteil des Air-China-Flugzeugs vor sich; die Schlagzeile mit den Worten FEUERSTURM und HAFEN. Und vielleicht die detaillierteren Berichte, die am nächsten Tag in manchen Zeitungen stehen würden, als unwiderlegbarer Beweis für Dervlas präkognitive Kräfte.
»Jemand, der die Nachrichten von morgen schon heute kennt.«
»Ein guter Slogan! Wenn sie das Ganze irgendwann geschäftlich betreibt, kannst du ihn ihr verkaufen.«
Jane zwickte Bethann in die Wangen und küsste sie auf den Kopf, dann gab sie dem Mädchen Rufus zurück.
»Könntest du Bethann eine Geschichte vorlesen, während ich telefoniere?«
»Natürlich.«
Jane ging in die Küche und rief einen Pressebeamten der Polizei an, zu dem sie ein herzliches Verhältnis hatte. Nachdem sie erklärt hatte, was sie wollte, rückte er mit der Handynummer des Sergeants heraus, der das Tauchteam leitete, das Henry aus der Grube geborgen hatte.
»Hallo, hier ist Jane Wade von der Dave Miller Show. Ich habe eine Frage an Sie. Es geht um die Leiche, die Sie in der Jauchegrube in Cavan gefunden haben.«
»Wir haben bereits eine Erklärung zu dieser Angelegenheit herausgegeben. Unsere Durchsuchung der Grube stand in keinem Zusammenhang mit Behauptungen, die eine gewisse Person in Ihrer Sendung aufgestellt hat.«
»Ich verstehe, aber das ist nicht der Grund, warum ich mit Ihnen reden wollte.«
»Ich bin nicht befugt, über den Fall zu sprechen.«
»Ich weiß. Ich will nur eine Antwort auf eine einfache Frage.«
»Ich denke, ich habe mich eben deutlich ausgedrückt, also belassen wir es dabei, okay?«
»Hatte Henry eine Taschenlampe bei sich?«
»Ich sagte, ich kann nicht …«
»Sagen Sie einfach Ja oder Nein, und ich lege sofort auf, Sergeant – keine weiteren Fragen. Haben Sie eine Taschenlampe in seiner Jackentasche gefunden?«
Es gab eine Pause.
»Ja.«