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»In der letzten Woche hatten wir mehrmals eine Hellseherin in der Sendung, die sich Dervla nennt und mit scheinbar unheimlicher Genauigkeit Vorhersagen macht. Und während viele von Ihnen glauben, dass sie wirklich die Gabe des Vorherwissens besitzt, sind andere, zu denen ich mich selbst zähle, weiterhin nicht überzeugt. Damit soll nicht gesagt sein, dass Dervla mit ihren Informationen nicht allen anderen voraus war – das war sie. Aber das ist für sich genommen noch kein Beweis für Präkognition. Am Telefon ist jetzt der Autor von Countdown to Doomsday, einem Buch über aktuelle Weltuntergangsprophezeiungen, um das Thema mit mir zu diskutieren. Guten Morgen, Derek Cooke.«

»Guten Morgen, Dave.«

»Lassen Sie uns zunächst über Zeit sprechen, Derek, und wie wir sie in unserem Alltag erfahren.«

»Gern, Dave. Ich denke, für die meisten von uns vergeht die Zeit wie ein kontinuierliches ›Jetzt‹, das die Vergangenheit hinter sich lässt … wie eine Teermaschine, die einen Straßenbelag aufträgt, könnte man sagen. Und auch wenn es uns nicht bewusst ist, dass wir in die Zukunft als solche eintreten, ist ein Teil unseres Verstands ständig damit beschäftigt, vorwegzunehmen, vorauszublicken und zu -planen, sich vorzustellen, was kommen wird. Die Zukunft ist also wie eine nicht geteerte Straße, die sich vor uns erstreckt und darauf wartet, dass wir sie befahren.«

»Auch wenn wir also tatsächlich immer nur hier und jetzt, in genau diesem Augenblick leben – unserem Gefühl nach existieren wir nicht gänzlich in der Gegenwart.«

»Nein. Denn wenn das Bewusstsein nur an einem Punkt im Hier und Jetzt existierte, ohne Erinnerung an die Vergangenheit und ohne eine Vorstellung von der Zukunft, hätten wir überhaupt kein richtiges Bewusstsein von uns selbst. Es scheint, als seien Erinnerung und Vorausschau wesentlich für unser Funktionieren.«

»Okay. Aber Erinnerung an die Vergangenheit ist eine Sache, die Zukunft zu kennen eine ganz andere. Wie Sie sagen, können wir vorwegnehmen, uns vorstellen, was passieren wird. Aber gibt es eine wissenschaftliche Basis für Präkognition?«

»Nun, man muss sagen, die Vorstellung, es sei möglich, die Zukunft im Voraus zu wissen, erhielt im 20. Jahrhundert unerwarteten Auftrieb durch die Theorien Einsteins. Zunächst einmal bewies er, dass Zeit relativ ist, dass sie unter verschiedenen Umständen verschieden schnell vergeht. Dann behauptete er, die Art und Weise, wie unser Verstand die Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einteilt, sei ein gedankliches Konstrukt, eine Illusion, die uns durch unser tägliches Leben bringt, aber in Wirklichkeit existierten alle Augenblicke in der Zeit in einer ewigen Gegenwart. Hellseher haben dies aufgegriffen und behaupten, sie seien in der Lage, die Illusion der linearen Zeit abzuschütteln; wenn sie Vorhersagen machten, würden sie also schlicht Zeugen von Ereignissen, die da draußen in dem Meer der Zeit, das uns umgibt, bereits existierten.«

»Klingt überzeugend – aber es gibt ein Problem, oder?«

»Mehrere Probleme, Dave. Das erste, das immer auftaucht, wenn Leute behaupten, zukünftige Ereignisse zu kennen, ist das Interventionsparadox.«

»Erklären Sie.«

»Okay. Angenommen, ich bin ein Hellseher und sage irgendein Unglück voraus, aber als Folge davon werden Vorkehrungen getroffen und das Unglück kann abgewendet werden, dann habe ich im Grunde die Zukunft nicht vorausgesagt, oder? Andersherum ausgedrückt, wenn das Ereignis nicht eintritt, wie kann ich es dann überhaupt gesehen haben? Hellseher umschiffen diese Klippe, indem sie behaupten, sie würden mögliche Zukunftsvarianten sehen, die durch den freien Willen veränderbar sind – was ihnen auch eine praktische Ausrede verschafft, falls sie eine falsche Vorhersage machen. Aber das ignoriert dann das Konzept, von dem wir gerade gesprochen haben, dass zukünftige Ereignisse bereits da draußen in der Zeit seien, fertig und abgeschlossen. Dass es keinen freien Willen und keine alternativen, möglichen Zukunften gibt. Es gibt nur eine – und sie ist vorbestimmt und unvermeidlich. In diesem Fall kann man sie unmöglich kennen, denn wenn man es täte, könnte man Maßnahmen ergreifen, sie zu verändern, und dann wäre es eben nicht die Zukunft, die bereits fertig ›da draußen‹ existiert. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Entweder die Zukunft existiert also bereits, aber wir haben keine Möglichkeit, an ihr herumzudoktern – in diesem Fall können wir sie auch nicht kennen. Oder aber sie existiert nicht, und wir können nur raten, wie sie aussehen wird. In diesem Fall, Derek, sind Sie und ich so schlau wie jeder andere.«

»Genau. Es geht nur um Ahnungen und Raten und manchmal auch regelrechten Schwindel. Und heutzutage ist es mit Internet und allen möglichen satellitenverbundenen Geräten leichter geworden, eine Verwirrung in Bezug auf die Zeit herzustellen.«

Jane wusste, dass Miller in diesem Moment zu Ali hinausgrinste. Er hätte Cookes Skript genauso gut selbst schreiben können.

»Trotzdem hat es diejenigen, die unbedingt glauben wollen, dass Präkognition mit Wissenschaft vereinbar ist, nicht davon abgehalten, neuerdings nach einer anderen Theorie zu greifen«, fuhr Cooke fort. »Eine, die andeutet, dass wir im Multiversum leben, einem Ort paralleler Universen, wo man auf das Interventionsparadox verzichten kann.«

»Wie das?«

»Folgendermaßen: Ein Hellseher erzählt mir etwas, das morgen passieren wird, und ich unternehme Schritte, um es zu verhindern, und habe Erfolg. Aber das ist in Ordnung, denn auch wenn ich in diesem Universum erfolgreich war, war ich es in einem anderen nicht. Die Zukunft in diesen Universen bleibt unberührt, und die Vorhersage des Hellsehers ist korrekt. Es ist, als könnte man den Kuchen behalten und essen zugleich.«

»Hm. Ein bisschen wie Star Trek, nicht?«

»Stimmt. Aber gleichzeitig, Dave, würde ich mich der Vorstellung, dass es möglich ist, die Zukunft zu kennen, nicht gänzlich verschließen.«

»Ach so?«

Jane hörte Miller an, dass er überrascht war.

»Ich denke, wir stehen kurz vor neuen Entdeckungen über die Zeit. Und sie kommen von einer Disziplin, die sich Quanteninformationswissenschaft nennt.«

»Und was genau ist das?« Miller klang jetzt weniger besorgt.

»Ich bin kein Experte, aber offenbar handelt es sich um eine Mischung aus Informationstheorie und Quantenmechanik. Was mir daran gefällt, ist, dass es uns über diese ziemlich ärgerliche subatomare Welt kleinerer Teilchen mit lächerlichen Namen hinausführt und dem näherbringt, was die Essenz des Universums in Wirklichkeit ist. Und Sie erraten schon, was ich meine, nicht wahr, Dave?«

»Äh … Information?«

»Ja, richtig – Information. In dem Sinn, dass alles, was uns Menschen in der physikalischen Welt begegnet, durch unsere Sinne als Information zu uns gelangt, die wir mit unserem nicht materiellen Verstand interpretieren. Einstein hatte recht mit seiner Vermutung, dass unsere Erfahrung der linearen Zeit ein subjektiver, mentaler Prozess ist. Dennoch glaubte er immer noch an die objektive Welt außerhalb unseres Verstands. Aber es gibt immer mehr Hinweise, dass unser Verstand dazu beiträgt, diese Welt zu erschaffen. Was wir bisher für getrennte Sphären hielten – Stoffliches und Nichtstoffliches, Geist und Materie –, sind in Wirklichkeit miteinander verwoben. Die Quantenmechanik, zum Beispiel, zeigt, dass unser Verstand eine materielle Welt beeinflussen kann, von der man bisher dachte, sie würde unabhängig von uns dahinticken. Und so sind diese alten Philosophen wieder en vogue, die behaupteten, die Welt sei davon abhängig, wie wir sie wahrnehmen, und der dogmatische wissenschaftliche Materialismus der letzten hundertfünfzig Jahre gerät in Misskredit.«

»Ich verstehe, mehr oder weniger. Aber was hat das alles mit Vorauswissen zu tun?«

»Wir müssen das, was im menschlichen Gehirn geschieht, wenn es versucht, die Zukunft vorwegzunehmen, mit Quantenberechnungen über wahrscheinliche Ergebnisse zusammenspannen. Das wird Hellseher überflüssig machen, weil die Arbeit von Quantencomputern erledigt wird.«

»Und was ist mit dem Interventionsparadox?«

»Theoretisch müsste es möglich sein, Informationen über die Zukunft zu gewinnen, solange wir nicht beabsichtigen oder versuchen, sie zu ändern – wodurch das Interventionsparadox ja erst ausgelöst wird.«

»Sie sagen also, falls wir je in der Lage sein sollten, die Zukunft vorherzusagen, wird es auf unvorstellbar leistungsstarke Computer hinauslaufen, die Zuckungen elektrischer Aktivitäten in unserem Gehirn analysieren?«

»So sehe ich es jedenfalls, Dave.«

»Ehe Sie sich verabschieden, Derek: Als Sie das letzte Mal bei uns auf Sendung waren, sprachen Sie über die Flut apokalyptischer Vorhersagen für die Zeit von 2012 bis 2015. Wie stehen die Dinge inzwischen?«

»Nun, im Vorfeld zu 2012 waren Untergangsanhänger natürlich in heller Aufregung, aber da sie keinerlei Anzeichen für ein Zeitenende sehen, obwohl der Mayakalender in Kürze ausläuft, haben sich manche mit der Vorstellung angefreundet, dass es darum geht, in einen Neuanfang zu gleiten. Wie der aussehen soll, ist nicht klar, aber das hält sie nicht davon ab zu spekulieren. In der Zwischenzeit hat die Bibel ihren Platz als Spitzenreiterin in Sachen Endzeit zurückerobert, und zwar mit etwas, das manchmal als die Blutmondprophezeiung bezeichnet wird. Diese hat mit einer Reihe von Mond- und Sonnenfinsternissen zu tun, die zwischen jetzt und 2015 stattfinden. Dem Propheten Joel zufolge wird ›die Sonne in Dunkelheit getaucht und der Mond in Blut, ehe der große und schreckliche Tag des Herrn kommt‹.«

»Hm. Ich glaube nicht, dass heutzutage noch jemand viel auf Bibelprophezeiungen gibt. Das war schon viel zu oft falscher Alarm.«

»Und doch, schauen Sie, was gerade in Bethlehem passiert. Die Situation im Nahen Osten kann sich immer noch zu einem Armageddon wandeln. Deshalb habe ich ein Buch geschrieben, in dem auch diese Blutmondprophezeiungen vorkommen. Es ist in allen guten Buchhandlungen erhältlich.«

»Natürlich, Derek. Lassen Sie mich den Titel noch einmal sagen …«

Die Hörerreaktionen auf Millers Interview mit Cooke waren gemischt, aber Jane sah, dass negative Kommentare zu Dervla zunahmen – es war Miller gelungen, ihre Glaubwürdigkeit ein wenig anzukratzen. Aber noch immer meldete sie sich nicht.

Sie waren halb durch die zweite Stunde, und Jane war in Gedanken gerade woanders, als Ali sie anrief, dass Dervla bereitstünde, mit Miller zu reden.

Jane notierte die Uhrzeit in einem Reporterblock, den sie über Dervla führte. Einmal mehr war es kurz vor 11.30, eine Uhrzeit, die ihr aus welchem Grund auch immer zu passen schien.

Miller begann mit der Frage, ob sie gehört habe, was Cooke zuvor in der Sendung gesagt hatte.

»Über Hellseher? Über mögliche Zukunftsvarianten? Ich sage keine Zukunftsvarianten vorher, Dave. Ich kenne die Zukunft, so wie Sie die Vergangenheit kennen. Und was ich weiß, lässt sich nicht verändern. Vor allem nicht, wenn Leute sterben.«

»Wenn Sie eine Vorhersage machen, kann also niemand seinem Schicksal entrinnen.«

»Glauben Sie an Gott, Dave?«

»Ich habe immer gesagt, dass ich es tue.«

»Ich fasse das als ein Ja auf. Glauben Sie, dass Gott uns einen freien Willen geschenkt hat?«

»Ich glaube, wir haben einen freien Willen, ja.«

»Obwohl Gott Ihr Schicksal möglicherweise bereits kennt?«

»Es ist komplizierter … Vorherwissen ist nicht dasselbe wie Vorbestimmung.«

»Kluge Antwort, Dave. Und lassen Sie uns einen Moment bei Gott bleiben. Haben Sie jemals einen schweren elektrischen Schlag bekommen – so einen, wie man ihn von einer Hauptstromleitung bekommt? Es ist, als würde man Gott die Hand schütteln. So habe ich es jedenfalls beschrieben, als es mir einmal passiert ist. Und heute Nacht wird es eine Demonstration einer solchen Kraft über der Bucht von Dublin geben. Dublin Bay, Dave, wissen Sie noch?«

»Ich werde es mir merken.«

»Nein, ich meinte, erinnern Sie sich?«

»Mhm, aber was wird heute Nacht passieren?«

»Eine spektakuläre Ton- und Lichtshow. Licht, dann Dunkelheit, dann wieder Licht.«

Jane hatte angestrengt nach einem leichten Aussetzer in der Unterhaltung gelauscht, aber es gab keinen. Miller war gewandt über die Frage hinweggegangen, ohne zum Löschknopf Zuflucht zu nehmen.

»Es wäre ein Wunder, wenn niemand ums Leben käme. Aber es ist keine Nacht für Wunder. Jemand wird sterben, nicht wenn sich die Dunkelheit herabsenkt, sondern wenn das Licht zurückkommt. Wenn er auf halbem Weg zwischen Himmel und Erde ist. So viel Feuer und Asche, um eine einzige arme Seele auszulöschen. Es ist beinahe biblisch, Dave.«

»Wir kommen heute Morgen anscheinend nicht von der Bibel weg. Aber sagen Sie mir, müssen Ihre Vorhersagen immer Tod und Zerstörung einschließen?«

»Nein, aber wenn man in die Zukunft schaut, hallen tragische Ereignisse stärker wider als andere. Jeder Hellseher kann ihnen das sagen. Das ist wahrscheinlich eins der wenigen Dinge, die ich mit ihnen gemeinsam habe.«

»Richtig, Sie sind ja keine Hellseherin. Aber was sind Sie dann?«

Schweigen.

»Ich wiederhole. Was sind Sie, Dervla?«

»Ich bin Ihr Schicksal, Dave.«

Miller erwiderte nichts und ging auf eine Werbepause. Jane war klar, dass Dervla das Interview beendet hatte, und in einem gut gewählten Augenblick noch dazu. Und ihr Timing beim Abfeuern des Abschiedsschusses war makellos. Sie kapierte langsam, wie diese Radiosache lief.