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Jane hatte Zeit gehabt nachzudenken, als alle auf der Versammlung gewesen waren. Sie musste herausfinden, wovor Dervla Miller hatte warnen wollen. Und da ihr Erlebnis im Park zum Teil einer Mediennachricht geworden war, wenn auch keiner, die sich direkt auf sie bezog, vermutete sie, dass Dervla auch in Millers Fall etwas vorhergesehen hatte, worüber später berichtet worden war. Und sie erinnerte sich an ihre Bemerkung über Menschen, die alles aufs Spiel setzen, um ihre Triebe zu befriedigen. Sie hatten zu diesem Zeitpunkt über Millers Reise nach London gesprochen. Hatte sie unabsichtlich etwas zum Ausdruck gebracht, was ihr gerade durch den Kopf ging?
Ehe das Team von der Versammlung zurückströmte, setzte sie Kopfhörer auf, und als sie eintrafen, tat sie, als würde sie konzentriert eine Audioquelle aus dem Internet niederschreiben. Die ganze Bande war sehr besorgt um ihr Wohlergehen gewesen, als sie am Morgen zur Arbeit gekommen war, und sie wusste ihre Anteilnahme sehr zu schätzen. Allerdings war die Rede davon gewesen, zusammen zum Mittagessen zu gehen, damit sie die Ereignisse des Vortags in allen Einzelheiten zu hören bekamen – was ihr überhaupt nicht behagte. Sie wollte jedoch nicht unhöflich sein, deshalb hob sie die Kopfhörer kurz an und sagte: »Ich fürchte, ich schaffe es nicht zum Lunch. Ich muss diesen Bericht für Kirstin machen.«
Während die anderen beschlossen, trotzdem auszugehen, saß Joe an seinem Schreibtisch, las eine Zeitschrift und aß eine Banane, die er aus seiner Tasche geholt hatte. Als er die Bananenschale in einen Abfallbehälter warf, ergriff Jane die Gelegenheit und ging zu seinem Schreibtisch.
»Wie war der Rest der Versammlung?«, fragte sie, verschränkte die Arme und lehnte sich an den Schreibtisch neben seinem.
»Okay – bis zu dem Punkt, als Carmel fragte, ob schon jemand zur Arbeit bei der neuen Show eingeteilt sei, und vorschlug, dass die entsprechenden Leute eine Gefahrenzulage verlangen sollten.«
»Kirstin glaubt wahrscheinlich, dass ich sie dazu angestiftet habe.«
»Die Pressekonferenz ging auch nicht ganz reibungslos über die Bühne. Sie wurde mehrmals gefragt, wieso Dervla nicht da sei, worauf sie im Grunde nichts zu sagen wusste.«
»Joe, ich muss dich um einen Gefallen bitten«, kam Jane zur Sache.
»Ja, gern.«
»Ein bisschen Detektivarbeit. Ich will herausfinden, was Dave letztes Wochenende in London getan hat.«
»Er hat sich ›From Presley to Punk‹ angesehen.«
»Ja, ich weiß. Aber das war Freitagabend. Er ist bis Sonntag geblieben.«
»Aber woher soll ich wissen, was er sonst noch gemacht hat?«
»Habt ihr nicht ein paar Tage zuvor einen Kaffee zusammen getrunken?«
»Ja, aber soweit ich mich erinnere, hat er hauptsächlich über die Show gesprochen. Und warum sollte er mir seine Pläne verraten?«
»Ich weiß, er plaudert gern über Männerthemen mit dir – Fußball, technische Spielereien … Frauen …«
Joe lächelte. »Du glaubst also, er ist fremdgegangen, oder? So etwas würde er mir bestimmt nicht erzählen.«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Er stellt sich gern als Kumpel dar, wenn es ihm passt.«
»Das tut er, aber es klingt nicht echt.«
Interessante Beobachtung, sagte sich Jane.
»Warum willst du es überhaupt wissen?«
»Dervla wollte ihm etwas über seine Reise sagen. Ihn irgendwie warnen, da bin ich mir ziemlich sicher.«
»Wegen Rachel, meinst du?«
»Nein, nicht wegen Rachel. Wegen etwas, das in London geschehen würde – geschehen ist.«
»Irgendwelche Tipps, in welche Richtung es geht?«
»Ich stelle es mir folgendermaßen vor: Es muss etwas sein, worüber irgendwo berichtet wurde – im Radio, in einer Zeitung, im Internet. Es könnte etwas gewesen sein, was er gesehen hat – so wie ich Zeugin der Schießerei nach dem Begräbnis wurde. Aber er kann nicht namentlich erwähnt worden sein, sonst hätten es die Medien hier bei uns aufgegriffen.«
Joe kratzte sich am Kopf. »Da fällt mir sofort die berühmte Nadel im Heuhaufen ein. Gibt es keine weiteren Anhaltspunkte?«
Jane schüttelte den Kopf. »Dervla hat es heruntergespielt. Es war für sich genommen kein großes Ereignis. Aber ich habe darüber nachgedacht, warum sie mir erzählt hat, auf Yvettes Begräbnis würde ein Todesfall folgen. Es ist so, dass sie Zusammenhänge spürt – und ich meine nicht nur, dass der Typ, der erschossen wurde, auf ihrer Beerdigung war. Ich glaube, dass er sie mit Drogen versorgt hat.«
»Du meinst also, das, was in London passiert ist, stand in Zusammenhang mit … ja, mit was eigentlich?«
»Wieso nicht mit der Sendung, fürs Erste? Ansonsten …«
Joe hatte den Zeigefinger hochgereckt, weil ihm etwas eingefallen war. »Erinnerst du dich noch an Max Garland? Privatklubs?«
»Ja. Das war am Tag des Brands im Hafentunnel.«
»Er hat Miller eingeladen, seinen Klub zu besuchen, wenn er das nächste Mal in London sein würde.«
»Ja, du hast recht. Aber was hilft uns das?«
»Es macht die Nadel, nach der wir suchen, ein ganzes Stück größer.«
Jane lächelte und ging an ihren Schreibtisch zurück.
In ihrer Mailbox war eine neue Nachricht. Von Kirstin Rynn.
»Kommen Sie um 16.00 Uhr in mein Büro.«
»Verdammt«, sagte Jane laut. Das war die Strafe dafür, dass sie vorhin das Team angelogen hatte. So lange bleiben zu müssen, nur für das Vergnügen, von Kirstin eins aufs Dach zu kriegen, war das Letzte, wonach ihr der Sinn stand. Sie sah auf die Uhr an der Wand hinter Millers Schreibtisch. 13.45 Uhr. Sie rief Ben an und bat ihn, die Kinder den zweiten Tag in Folge abzuholen. Er meckerte zwar, aber nicht ernsthaft. Jane dachte jedoch, dass sie einen Plan B für solche Situationen haben sollten. Er war immer derjenige, der kurzfristig alles liegen und stehen lassen sollte. Das erschien ihr nicht fair.
Um fünf vor vier kreuzte Jane vor dem Schreibtisch von Kirstins Sekretärin auf. Er stand im rechten Winkel zum Büro der Geschäftsführerin, und gegenüber davon war eine Nische mit einem niedrigen Tisch und ein paar Sesseln. Deirdre ging zu Kirstin hinein und kam umgehend wieder heraus. »Sie telefoniert gerade, aber danach ist sie frei.« Sie steckte einen Stapel Kuverts in ihre Handtasche. »Ich bin auf dem Weg zur Post. Geben Sie ihr noch ein paar Minuten. Sie weiß, dass Sie da sind.«
Jane dankte Deirdre und setzte sich. Der einzige Lesestoff auf dem Tisch war Werbematerial für den Sender. Sie beachtete es nicht und setzte sich nur auf die Kante des Sessels, als könnte sie die Dinge beschleunigen, indem sie eine solche Haltung einnahm. Während sie wartete, kam ein Junge vorbei, der den Evening Herald verteilte, und als sie die Schlagzeile sah, nahm sie eine.
WO IST RACHEL?
Dave und Zita Miller mussten einen weiteren Rückschlag hinnehmen, nachdem sich herausstellte, dass das geheimnisvolle Mädchen auf einem Schnappschuss in Schottland nicht ihre verschwundene Tochter Rachel ist, sondern ein seekrankes Schulmädchen, das von ihrem Bruder von der Fähre geführt wird. Damit hat die Polizei nach drei Tagen noch immer keinen Hinweis auf den Verbleib von Rachel Miller. Fortsetzung auf Seite 2
Sie machte sich nicht die Mühe, auf Seite zwei zu blättern. Minuten vergingen. Jane konnte so gerade noch hören, dass Kirstin mit jemandem sprach, aber sie verstand kein Wort. Aus reiner Langeweile versuchte sie, ein Muster herauszuhören, etwas, das ihr verriet, ob das Gespräch privat oder geschäftlich war, ob es ein Gespräch auf Augenhöhe war oder ob Kirstin das Kommando führte. Aber es war nicht leicht zu interpretieren, denn während Jane zuhörte, änderte sich die Melodie von Kirstins Stimme mehrmals, von Plauderton zu fragend – sie hatte ein langes, unmissverständliches »Waas?« gehört –, und dann folgte noch etwas, das Wut oder Empörung gewesen sein konnte. Auf jeden Fall eine heftige Gefühlsregung. Danach Stille.
Jane wartete. Nach einer Zeit, die sie für angemessen hielt, ging sie zur Tür, um zu klopfen. Sie hob gerade die Hand, als ein Geräusch aus dem Büro sie stattdessen das Ohr an die Tür legen ließ. Sie hörte eine Frau weinen. War noch jemand da drin? Sie hatte keine zweite Stimme gehört, Kirstin hatte telefoniert, dessen war sie sich sicher. Es musste Kirstin sein, die weinte. Jane trat einen Schritt von der Tür zurück. Was sollte sie tun? Wenn sie draußen wartete, konnte es wer weiß wie lange dauern, bis Kirstin herauskam. Und wenn sie so aus dem Häuschen war, wollte sie ihr Treffen vielleicht sowieso verschieben. Jane klopfte, dann legte sie das Ohr wieder an die Tür.
Keine Antwort.
Was sollte sie jetzt tun? Es war bereits zwanzig nach vier. Wenn Kirstin nicht einmal auf ihr Klopfen reagieren konnte, dann war sie wohl kaum in der Verfassung, mit ihr zu reden. Aber was konnte sie so fertiggemacht haben? Sie griff nach der Klinke und drückte die Tür vorsichtig auf.
Kirstin saß am Schreibtisch, sie hatte die Ellbogen aufgestützt und das Gesicht komplett in den Händen verborgen.
»Kirstin«, flüsterte Jane. »Was ist passiert? Sind Sie in Ordnung? Kann ich etwas tun?«
Kirstin ließ die Hände langsam von ihrem Gesicht gleiten. Es war blass und von Wimperntusche verschmiert. Ihre Augen waren voller Angst, wie die eines in die Enge getriebenen Tiers. »Ich werde sterben«, sagte sie und wurde von neuerlichem Weinen geschüttelt.
Jane nahm vor ihrem Schreibtisch Platz. »Sie …« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Kirstin hatte die Diagnose erhalten, dass sie unheilbar krank war. Das also hatte sie mitgehört. »Das tut mir leid, Kirstin. Ich wusste nicht, dass Sie krank sind … Ich hätte Sie nicht stören sollen …«
»Ich bin nicht krank«, heulte sie auf und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Ich bin absolut gesund.« Sie sank wieder in ihrem Sessel zusammen und drehte den Kopf dann langsam zum Fenster. Es ging auf die Liffey hinaus, der Fluss spiegelte die Lichter der City in der einbrechenden Dunkelheit. »Aber morgen um diese Zeit werde ich wahrscheinlich tot sein.« Ihre Stimme war jetzt ausdruckslos, beinahe resigniert.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Jane.
Kirstin drehte sich wieder zu ihr um. »Es ist diese Hellseherin, diese Hexe, oder was auch immer sie ist«, zischte sie. »Sie hat es mir gerade gesagt. ›Es ist unausweichlich‹, hat sie in ihrer dämlichen Stimme verkündet.«
Jane zuckte unwillkürlich, als ihr ein Schauder über den Rücken lief. »Was genau hat sie gesagt?«
»Was genau? Welche Rolle spielt das, verdammt noch mal? Ich bin tot, so oder so.«
»Es ist wichtig, Kirstin. Erzählen Sie mir, was sie zu Ihnen gesagt hat. Wie kam sie darauf?«
Kirstin sah wieder aus dem Fenster. »Wir haben über die neue Show gesprochen. Alles lief wunderbar, bis sie sagte, es sei schade, dass ich sie nicht werde hören können. Ich fragte, wie sie das meinte, und sie antwortete, mehr wolle sie mir nicht sagen. Ich bedrängte sie …« Kirstin fand ein zerknülltes Papiertaschentuch in ihrem Ärmel und wischte sich über die Augen, dann starrte sie weiter aus dem Fenster.
»Sie bedrängten sie und dann?«
Kirstin sah Jane wieder an. »Sie sagte, es würde irgendwann in den nächsten vierundzwanzig Stunden einen Unfall geben. Und ich würde ihn nicht überleben.«
Jane konnte keinen Gedanken fassen. Was sagt man zu jemandem, der gerade sein Todesurteil erhalten hat? »Was für ein Unfall?«, war alles, was sie herausbrachte.
»Ein Autounfall, hat sie gesagt.«
Die Todesangst war aus Kirstins Augen gewichen und von einem dumpfen Ausdruck ersetzt worden, den Jane nicht deuten konnte – Groll? Wut? Sie suchte in Gedanken fieberhaft nach einem praktischen Rat. »Dann fahren Sie morgen nicht zur Arbeit. Noch besser, verlassen Sie gar nicht das Haus.«
»Und wie soll ich Ihrer Ansicht nach heute Abend nach Hause kommen? Überhaupt hat sie nicht gesagt, dass es morgen sein wird. Es könnte heute Abend sein.«
»Sie wohnen in Sandyfort, oder? Fahren Sie mit der Luas-Linie nach Hause.«
»Die Luas? Auf der Yvette Daly getötet wurde? Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Dann bleiben Sie hier.«
»Hier? Im Büro, meinen Sie?«
»Sicher. Bitten Sie eine Freundin, ein paar Sachen vorbeizubringen.« Kirstin lebte allein. »Und eine Schlafdecke. Bestellen Sie etwas aus dem Schnellimbiss«, fügte sie fröhlich an. »Alles wird bestens.« Jane krümmte sich innerlich. Sie ließ es klingen, als ginge es um eine Übernachtungsaktion von Teenagern.
»Ist das Ihr Ernst, verdammt? Sie hat mich verhext, dagegen ist nichts zu machen. Sie wird so oder so einen Weg finden, mich zu töten.«
»Sie ist nicht darauf aus, Sie zu töten. Sie berichtet nur, was sie …« Es hatte keinen Sinn, es erklären zu wollen. »Aber wenn sie sagt, es ist ein Unfall, dann steigen Sie um nichts in der Welt in ein Auto.«
Kirstin fischte ein neues Taschentuch aus der Packung und schnäuzte sich. »Im Ernst? Sie glauben wirklich, das funktioniert?«
»Es ist Ihre größte Chance.«
»Wie lächerlich das aussehen würde. Hier zu schlafen.« Sie schüttelte den Kopf. »Was sollte ich den Leuten sagen?«
»Sie sind der Boss. Sie müssen nichts erklären.«
Kirstin lächelte grimmig. »Schöner Boss. Lass mir von dieser Frau so einen Bammel machen. Aber warten Sie mal …« Ihr Augen leuchteten auf. »Vielleicht hat sie ein Spiel mit mir gespielt. Vielleicht wollte sie mich erschrecken.« Sie setzte sich aufrecht und trommelte mit den Fingern auf den Tisch, während ihr Verstand fieberhaft arbeitete. »Wir hatten nämlich eine kleine Meinungsverschiedenheit. Ich habe ihr gesagt, wir würden eine ISDN-Leitung in ihr Haus legen und müssten deshalb wissen, wo sie wohnt. Sie hat sich ziemlich geziert deswegen. Wir haben ein bisschen gestritten.«
»Sie glauben, sie will Ihnen Angst machen – wegen ihrer Adresse?«
»Es geht darum, wer das Sagen hat. Wer als Erster blinzelt.«
»Ja, klar.« Jane stand auf, um zu gehen. Sie bezweifelte, dass Dervla ein Spiel spielte, aber wenn Kirstin das lieber glaubte, konnte sie nicht viel dagegen tun. Wahrscheinlich schützte sich ihr Verstand mit diesem Selbstbetrug automatisch vor der Aussicht, dass sie sterben musste.
»Und übrigens«, sagte Kirstin, »habe ich Ihre wenig hilfreichen Bemerkungen heute Nachmittag nicht vergessen.« Sie wurde mit jeder Minute, die verging, wieder mehr die alte Kirstin. »Aber es ist wohl nur fair, wenn wir das für den Augenblick beiseitelassen.«
Jane sagte nichts. Wenigstens blickte Kirstin über den morgigen Tag hinaus.