33
Jane schickte eine SMS an Ali, um ihr mitzuteilen, dass Miller am nächsten Tag die Sendung moderieren und sie selbst sie produzieren würde. Dann schickte sie eine an Ken Lally, rief ihn zurück und dankte ihm für die Arbeit der letzten Tage. Sie wollte gerade Debbie anrufen, um sich anzukündigen, als ihr der Gedanke kam, dass sie ihrer Freundin ziemlich viel aufbürden würde, die sich bereits kurzfristig um Scott und Bethann kümmerte. Und nicht nur das, auch die Kinder wären verwirrt, wenn sie jetzt dort auftauchte. Es gab andere Leute, die sie anrufen konnte, aber angesichts der späten Stunde war es wohl am besten, Millers Idee aufzugreifen und sich ein Hotelzimmer zu nehmen – allein. Das Clarion am Kai würde am günstigsten liegen, wenn sie morgens zur Arbeit musste, deshalb suchte sie es online heraus und buchte ein Zimmer. Ehe sie eine Reisetasche packte, beschloss sie, KOSS und die Hüter des Siebten Siegels zu googeln. Sie ließ den Blick über die erste Seite mit Ergebnissen wandern und wurde von einer Überschrift angezogen:
2012: Irland und der Weltuntergang
Weltuntergangsankündigungen mit einem irischen Aspekt gab und gibt es zuhauf von Leuten, die glauben, dass die astronomische Uhr der Maya, die am 21. Dezember 2012 ausläuft, zur selben Zeit ersonnen wurde, zu der die Bauten im irischen Boyne Valley errichtet wurden, und dass beide Unternehmungen von einem katastrophalen solaren oder geologischen Ereignis angestoßen wurden, das auch die Ursache für die zeitgleiche Sintflut der Bibel vor mehr als fünftausend Jahren war.
Es gibt keine Verweise auf 2012 in christlichen apokalyptischen Schriften vom Johannesevangelium angefangen. Auch taucht das Jahr, wenig überraschend, nicht in frühmittelalterlichen Schriften auf, die sich mit den Zeichen vor dem Jüngsten Gericht befassen. So dachte man zumindest bis zur Wiederentdeckung der Vision von Gorman, einer Handschrift aus dem 8. Jahrhundert, die in der Bibliothek des Katharinenklosters am Berg Sinai aufbewahrt wurde und die eine in den USA beheimatete extremistische Millenniumssekte namens Hüter des Siebten Siegels als Quelle der Prophezeiung benutzte.
Wissenschaftler, die den Text studierten, seit er Ende der Neunzigerjahre zu zirkulieren begann, entdeckten einen Verweis darauf, dass der Jüngste Tag »innerhalb einer Lebensspanne, nachdem die aufgehende Sonne das Grab der Hohen Könige wieder beleuchtet«, stattfinden werde. Dies wurde als Hinweis auf das Ganggrab in Newgrange im Boyne Valley aufgefasst, von dem man zu der Zeit, als die Vision von Gorman verfasst wurde, glaubte, es sei die letzte Ruhestätte der alten Könige von Tara. Die aufgehende Sonne dringt zur Wintersonnwende durch ein eigens dafür eingebautes »Sonnenfenster« in eine Kammer des Bauwerks, und dieses Phänomen wurde in der heutigen Zeit erstmals 1969 beobachtet. Die Berechnung des Jüngsten Tages durch den irischen Mönch ist vage, verglichen mit dem präzisen Datum 21. Dezember 2012 der Maya. Aber wenn der Weltuntergang innerhalb einer Lebensspanne von 1969 an stattfinden sollte, wann wäre er dann? Die durchschnittliche Lebenserwartung zur Zeit der Prophezeiung betrug fünfzig Jahre oder weniger. Bedenkt man die Bedeutung der Spanne von vierzig Jahren in der Bibel sowie an anderer Stelle in Gormans Prophezeiungen, dann kann man dafür plädieren, vierzig als Ausgangspunkt zu betrachten. Zählt man dazu noch einmal drei Jahre, um die enorm wichtige keltische Triade – die regelmäßig zur Zeitmessung verwendet wurde – zu repräsentieren, schon tritt eine faszinierende Übereinstimmung auf – wir sind genau beim 21. Dezember 2012.
Dies hat natürlich seine Anziehungskraft auf Leute, die glauben, dass die Hügelgräber im Boyne-Tal astronomische Rechenmaschinen sind, zur selben Zeit erbaut, zu der die Maya ihre »Lange Zählung« erfanden. Und dass es einen Zusammenhang zu der Großen Flut gibt, die zeitgleich den Nahen Osten verwüstete. Für sie verknüpft die Vision von Gorman alle diese Fäden mit ihren Wurzeln in der Bibel, ihrem Verweis auf das Sonnenfenster im Boyne-Tal und ihrer Bestätigung der Wintersonnenwende 2012 als dem entscheidenden Datum. Doch leider ist dies auch ihr schwächstes Glied – denn das Jahr könnte ebenso gut 2013 oder später sein.
Und was soll überhaupt passieren? Bedeutet das Ende der Zeit Weltuntergang oder den Anbruch eines neuen Zeitalters? Die Maya schwiegen sich dazu aus, aber Gorman hält düstere Aussichten bereit: Feuer und Asche, Tod und Chaos werden auf der Tagesordnung stehen, keine strahlende neue Morgendämmerung in Sicht. Hoffen wir, dass er sich in diesem Punkt geirrt hat oder dass uns wenigstens noch ein paar weitere Jahre bleiben.
Bis sie zu Ende gelesen hatte, waren alle Erinnerungen wieder da. Die vierzig Prophezeiungen des Gorman. Mehr als ein Jahrzehnt zuvor hatte KOSS versucht, sie eintreten zu lassen, indem sie sie in Szene setzten, häufig auf die grausigste Art und Weise, doch ohne die erhofften Resultate. Vielleicht setzten sie jetzt ihre Hoffnungen auf die mögliche Übereinstimmung des Maya-Datums mit den Ergebnissen der neueren Gorman-Forschung. Aber wie konnten sie wissen, ob es auch stimmte? Mithilfe von Dervla, natürlich. Deshalb wollten sie sie in die Hände bekommen. In Unkenntnis der Beschränkungen ihrer Gabe wollten sie von ihr wissen, was in rund einem Monat zur Zeit der Wintersonnenwende geschehen würde. Je nachdem, ob sich etwas Bedeutsames tat oder nicht, hatten sie offenbar jeweils eine Art Plan. Und es war besser, im Voraus Bescheid zu wissen, als wieder fälschlicherweise Alarm zu schlagen.
Sie hatte gerade ihre Tasche gepackt und das Licht im Schlafzimmer gelöscht, als ihr Handy läutete. McNamees Name leuchtete auf, deshalb stellte sie die Tasche ab und nahm den Anruf entgegen.
»Sie sind immer noch zu Hause?«, fragte er.
Sie zögerte plötzlich, es ihm zu sagen. Dervla war wieder in der Show, möglicherweise würde sie am nächsten Tag Rachels Aufenthaltsort aufdecken und – egal, was Miller gesagt hatte – eine saftige Belohnung von ihm kassieren. Neligans Argwohn in Bezug auf die beiden war ihr noch frisch in Erinnerung. Außerdem hatte McNamee seine Weigerung, mit der nordirischen Polizei zu sprechen, eigentlich nicht begründet.
»Ich fasse Ihr Schweigen als Zeichen für Paranoia auf«, sagte er. »Und ich kann es Ihnen nicht verübeln. Aber ich komme nicht vor morgen früh nach Dublin, Sie haben also noch Zeit genug, um zu fliehen.«
Jane lächelte für sich. »Sehr witzig. Sie klingen schon viel besser.«
»Ich nehme starke Schmerzmittel.«
»Warum kommen Sie nach Dublin?«
»Um von dort nach Sydney zu fliegen.«
»Ach so?«
»Einer der Gründe für meinen Australienaufenthalt im letzten Monat war, dass ich dort einen Job angenommen habe. Die Queen’s University habe ich bereits informiert, es ist also keine Überraschung für sie. Aber ich habe beschlossen, wegen der Geschehnisse hier meine Abreise vorzuverlegen – ich kann mich ebenso gut in der Sonne erholen, statt hier zuzuschauen, wie das Wetter immer schlechter wird. Und außerdem …« Er hielt inne. Jane konnte ihn durch die Nase atmen hören. »Ich kämpfe gegen einen Hustenreiz an, weil es mich wirklich umbringt, wenn ich huste, Schmerzmittel hin oder her. Wo war ich gerade? Ach ja, außerdem habe ich erfahren, dass morgen jemand von Matlas aus den Staaten eintreffen wird, um ›ihr Kapital zurückzuholen‹, wie sie es nannten. Mit ein bisschen Glück bin ich in der Luft, bevor er auch nur landet.«
»Das ist eine weitere Bestätigung dafür, dass sie für keine der jüngsten Brutalitäten verantwortlich sind. Tatsächlich weiß ich, wer Sie überfallen hat, und ich glaube, ich weiß, warum sie Dervla haben wollen.«
»Diese KOSS, nicht wahr? Wer zum Teufel sind die?«
»Eine in den USA beheimatete Sekte, die von Endzeitprophezeiungen besessen ist. Im Augenblick interessieren sie sich für den 21. Dezember 2012.«
»Die Maya-Sache?«
»Ja, aber mehr noch die Sprüche eines irischen Mönchs namens Gorman. Sie versuchen festzustellen, ob seine Vorhersage des Zeitenendes mit dem der Maya zusammenfällt oder nicht, und sie glauben, Dervla kann ihnen dabei helfen. Am Tag nach dem Brand im Hafentunnel hat meine Kollegin Ali einen Anruf von einem Mann mit amerikanischem oder kanadischem Akzent entgegengenommen, der Dervlas Adresse verlangte. Ali hat es abgelehnt, sie ihm zu geben, und er bat um den Namen des verantwortlichen Produzenten. Ein, zwei Tage, nachdem Dervla das Nordlicht vorhergesagt hatte, sind sie mir dann nach Hause gefolgt – es kann sonst niemand gewesen sein. Die Prophezeiungen für 2012 beinhalten eine Umwälzung im Magnetfeld der Erde, deshalb müssen sie sehr beeindruckt gewesen sein, dass Dervla ein solches Schauspiel voraussagen konnte.«
»Mann, sie ist wirklich sehr gefragt.«
»Die Hüter sind die Sorte Leute, die töten, um ihre Ziele zu erreichen. Halten Sie es unter diesen Umständen für klug, wenn sie mit ihrer neuen Show weitermacht?«
»Nein, ganz und gar nicht. Und vielleicht werde ich sie zu ihrer eigenen Sicherheit überreden müssen, von dort wegzuziehen, wo sie jetzt ist. Das wird allerdings nicht leicht werden – Autisten mögen keine Veränderung ihrer Umgebung. Wenn Sie in der Zwischenzeit ihre Adresse haben wollen, können Sie sie von mir aus bekommen.«
Will ich sie wirklich wissen?, fragte sich Jane. »Also gut, schicken Sie mir eine SMS. Und Sie wissen, dass sie morgen Vormittag Dave helfen wird, seine Tochter zu finden.«
»Ja, sie hat mir von ihrem Gespräch mit ihm erzählt. Und mich zusammengestaucht, weil ich dachte, sie habe böse Absichten ihm gegenüber. Sie sagte, dass sie auf diesen PR-Bildern seine Augen ausgestochen hat, war wahrscheinlich eine unterbewusste Reaktion darauf, dass er sie als Kind nackt gesehen hatte.«
»Klingt plausibel.«
»Und, Jane, ich weiß, Dervla ist nicht sehr gesittet. Deshalb danke ich Ihnen in ihrem Namen dafür, dass sie die ganze Mühe auf sich genommen haben. Dieses Puzzleteil zu finden, war ihr wirklich sehr wichtig.«