21
Nach der Show waren Jane und Laura im Studio und sprachen mit Miller, als Kirstin Rynn hereinspaziert kam. »Kann ich Sie kurz sprechen, Dave?« Sie stand da und wartete, während die beiden Frauen sich verzogen.
Als Jane durch die Türe ging, hörte sie Kirstin Miller fragen, ob irgendwelche nützlichen Informationen hereingekommen seien. Laura hatte darum gebeten, früher zum Lunch gehen zu dürfen, deshalb blieben sie im Regieraum und gingen die Anrufe durch, die sie zu anderen Themen bekommen hatten.
Etwa zehn Minuten später kam das Paar heraus, Kirstin voran. Sie sagte nichts, als sie den Regieraum durchquerte, aber Jane bemerkte ein selbstgefälliges Lächeln auf ihrem Gesicht.
»Gute Neuigkeiten«, sagte Miller, der zurückhing. »Wir brauchen uns keine Sorgen mehr um Dervla zu machen. Kirstin nimmt sie uns ab. Sie gibt ihr eine eigene Show.«
»Ich habe gestern einen Werbespot dafür gehört«, sagte Jane. »Findest du das nicht unverantwortlich von ihr?«
»Unverantwortlich? Inwiefern?«
»Jemandem Sendezeit zu geben, der eine ungesunde Fixierung auf dich hat. Sie könnte alles Mögliche sagen, wenn sie auf Sendung ist.«
»Ach, darüber haben wir gesprochen. Sie garantiert mir, dass die ganze Zeit eine Verzögerung eingebaut ist.«
Kirstin hatte alles sehr geschickt gehandhabt. Millers Sorge um seine Tochter machte ihn blind für die Tatsache, dass Kirstin die Warnung wegen Dervla nicht weitergegeben und ihr dann hinter seinem Rücken einen Vertrag angeboten hatte. Aber wenigstens wusste Jane, dass Kirstins Optimismus fehl am Platz war.
»Ich muss gehen und mich mit den Ermittlern treffen«, sagte er. »Wir wollen Zita einen Appell in den Sechsuhrnachrichten machen lassen. Du erreichst mich auf dem Handy, wenn etwas sein sollte.«
»Gehst du morgen zu Yvettes Beerdigung?«, fragte Laura.
»Auf keinen Fall. Das wäre ein gefundenes Fressen für die Boulevardpresse. Abgesehen davon, the show must go on und so weiter.«
Zur Lunchzeit sagte Jane, sie würde für den Rest des Tages freinehmen, und fuhr nach Hause. Sie musste unbedingt mit Dervla sprechen. Ben war in seinem Arbeitszimmer, aber sie hatte ihn angerufen und gesagt, sie würde die Kinder früher holen, und er solle einfach weiterarbeiten, wenn sie kam.
Sobald die beiden beschäftigt waren, machte sie die Tür halb zu und ging in ihr Arbeitszimmer auf der anderen Seite des Flurs, wo sie mit einem Ohr nach ihnen lauschen konnte.
Sie öffnete Skype und fügte Dervla ihren Kontakten hinzu. Dann sprang ein Feld mit den Worten Bitte lassen Sie es mich sehen, wenn Sie online sind auf. Sie klickte auf Okay und schickte die Anfrage ab.
Sie stellte ihre Kamera ein und machte einen Testanruf, um ihr Mikrofon zu überprüfen, dann fuhr sie mit dem Cursor über Dervlas Eintrag auf ihrer Kontaktliste und sah, dass Dervla online war. Sie klickte wieder und hörte den typischen Wählton. Nun erschien ein weiteres Feld mit der Mitteilung Verbindung wird hergestellt …
»Ist dort Jane Wade?« Die bekannte Leierstimme.
»Ja, hier ist Jane.«
»Wollen Sie von Angesicht zu Angesicht sprechen?«
»Ah, ja gern.« Rachel klickte auf das Feld, und ein Fenster mit einem briefmarkengroßen Bild von ihr selbst in der Ecke ging auf. Der Rest des Fensters schien eine unscharfe Topfpflanze in einem Regal zu zeigen.
»Ich muss die Kamera erst einstellen. Moment.« Der Kamerawinkel veränderte sich, und jetzt konnte Jane eine Gestalt ausmachen. Als das Bild scharf wurde, sah Jane, dass Dervla an einem Schreibtisch saß und eine dunkle Brille und Kopfhörer trug. »Ist das okay für Sie?«
Jane betrachtete die Frau. Sie hatte kurzes schwarzes Haar und trug einen schwarzen Rollkragenpullover, was zusammen mit der großen Sonnenbrille die Blässe ihres Teints und ihre feinen Gesichtszüge betonte. Soweit Jane erkennen konnte, trug sie weder Make-up noch Lippenstift. Sie hätte Mitglied einer Avantgarde-Rockband sein können. Es war nicht das, was Jane erwartet hatte. Aber was hatte sie erwartet?
»Ja, ich kann Sie jetzt sehen«, sagte Jane. »Sehen Sie mich ebenfalls?«
»Ja.« Es war natürlich unmöglich, irgendeinen Tonfall in ihrer Antwort zu entdecken, aber Jane spürte, dass es für Dervla keine Rolle spielte, ob sie sie sah oder nicht.
»Sie haben mich gestern nicht angerufen.« Die Knöchel ihrer Finger waren beim Schreiben auf der Tastatur gerade noch sichtbar. Aber ihr Mund hatte sich nicht bewegt.
Auch wenn sie wusste, dass Dervla auf diese Weise kommunizierte, war es dennoch verwirrend. »Zuerst passte es einfach gerade nicht. Und dann bekam ich einen ziemlichen Schock, als ich hörte, dass Rachel Miller verschwunden war. Wussten Sie, dass das passieren würde?«
»Nein. Ich hatte keine Ahnung davon. Tatsächlich war ich am Samstag nicht auf der anderen Seite. Der erste ganze Tag ohne Anfall seit langer Zeit.«
Konnte Jane ihr glauben? Sie ging offen und ehrlich mit ihrer Krankheit um, darauf ließ sich immerhin aufbauen. McNamee hatte ihr offenbar gesagt, wie viel er Jane verraten hatte. »Was wollten Sie Dave dann am Freitag mitteilen?«
»Er war in London, oder?«
»Ja.«
»Manchmal sehe ich Kleinigkeiten. Aber das bedeutet nicht, dass sie unwichtig sind. Ich hätte ihm genug verraten, um ihn eine Entscheidung treffen zu lassen. Vorbestimmung mit der Option auf freien Willen, wenn man so will.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, was Sie meinen.«
»Nicht alles wird mir offenbar. Und wenn ich es nicht sehe, dann besteht die Möglichkeit, es zu vermeiden.«
Es war, wie Jane gedacht hatte. »Also könnten Sie mir zum Beispiel verraten, dass das Dach meines Fitnessklubs morgen einstürzen wird, aber da ich nicht als eins der Opfer erwähnt werde, habe ich die Möglichkeit, nicht hinzugehen. Das Interventionsparadox greift nicht.«
»Ja. Aber Sie könnten es trotzdem riskieren hinzugehen. Das tun Menschen ständig, ohne dass jemand wie ich sie warnt. Sie haben Affären, sie spielen, sie lügen – obwohl sie wissen, es kann katastrophal schiefgehen, vielleicht sogar ihr Leben ruinieren.«
»Was ist an dem Tag schiefgegangen, an dem Sie die Pflegeeinrichtung verließen?«
»Das ist eine Sache zwischen Dave Miller und mir.«
Jane hätte gern ihren Gesichtsausdruck gesehen, aber die dunklen Gläser verhinderten es. Und da die Worte nicht aus ihrem Mund kamen, fiel es schwer zu begreifen, dass Dervla tatsächlich mit ihr kommunizierte. Sie kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf, um sich neu zu konzentrieren. »Sie verstehen, warum wir Sie nicht mehr in die Sendung lassen können.«
»Ich kann ihm mit meinen Vorhersagen nicht schaden, oder? Sie sind einfach.«
»Es sind nicht Ihre Vorhersagen, womit Sie ihn bedrohen. Es ist der Umstand, dass Sie ihn dafür verantwortlich machen, was an jenem Tag passiert ist.«
»Es ist eine Erinnerungslücke, die er füllen muss. Das ist alles.«
»Aber wie soll er das tun? Es ist jedenfalls sinnlos, darüber zu diskutieren, da Sie nicht wieder in die Sendung kommen werden. Besonders jetzt nicht, da seine Tochter verschwunden ist. Manche unserer Hörer glauben sogar, dass Sie etwas damit zu tun haben.«
»Nun, das stimmt nicht. Also sollte ich es besser aufklären.«
»Und wie soll das Ihrer Ansicht nach geschehen?«
»In meiner eigenen Sendung. Ich kann das Angebot dieser Frau annehmen.«
»Sie will nur Geld mit Ihnen machen. Sie wären eine Art Zirkusnummer.«
»Das ist mir egal. Ich würde auch gut daran verdienen.«
»Eine tägliche Show? Womit würden Sie die füllen?«
»Ich kann die Hokuspokus-Wahrsager-Nummer so gut abziehen wie jeder andere.«
»Und alle Glaubwürdigkeit verlieren?«
Dervla warf den Kopf in den Nacken. Jane begriff, dass sie lachte, aber das einzige Geräusch, das sie hörte, war die synthetische Sprache aus dem Computer. »Glaubwürdigkeit? Ich garantiere Ihnen, je mehr Unsinn ich von mir gebe, desto mehr Anhänger werde ich haben.«
Zum ersten Mal bemerkte Jane ihre Zähne. Klein und spitz. Die Lippen ein bisschen grausam, zu einem höhnischen Lächeln verzogen. Aber vielleicht deutete sie es falsch. Sie musste ihre Augen sehen.
»Ich denke, wir sollten das jetzt beenden«, sagte Dervla abrupt.
»Äh … okay. Werden Sie drangehen, wenn ich Sie wieder anrufe?«
»Kommt drauf an. Schauen Sie hier nach Nachrichten.«
»Eine letzte Frage. Tragen Sie die ganze Zeit diese Brille?«
»Ja. Wie heißt es so schön: Die Zukunft ist so strahlend, dass ich eine Sonnenbrille brauche.« Das Fenster brach in sich zusammen, als sie die Verbindung trennte.
Das war eine unerwartete Antwort. Dervla schien Humor zu haben. Jane amüsierte sich über ihre eigene Wahl eines Fitnessklubs als Ort, um das Funktionieren des Interventionsparadoxes zu illustrieren. Sie war seit einigen Jahren nicht mehr in der Nähe von einem gewesen. Andererseits hatte sie angefangen, wieder in die Kirche zu gehen. Es hatte ursprünglich mit den Kindern zu tun, aber inzwischen genoss sie die gemeinsamen Werte und die gelegentliche geistige Erbauung, die sie dort fand. Es stimmte wohl, dass alles seine Zeit hatte.