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Eine halbe Stunde später fuhr Jane auf den Parkplatz von Johnnie Fox’s Pub & Restaurant, einem Laden, dem es zu keiner Jahreszeit an Gästen zu mangeln schien. Direkt hinter ihr war ein Streifenwagen, gefolgt von einem Zivilwagen mit zwei bewaffneten Detectives, und der Polizeihubschrauber im drei Flugminuten entfernten Baldonnel stand auf Abruf bereit. Sobald die Neuigkeit von der Entführung auf dem Dienstweg bei Kinsella eingetroffen war, war das Team, das Rachel Millers Verschwinden bearbeitete, alarmiert worden und hatte die Sache in die Hand genommen. Bens Vorstellung, die Polizei solle »von da an übernehmen«, hatte nicht beinhaltet, dass seine Frau zu dem Plan gehören würde. Aber die Beamten erklärten, Janes Mitarbeit sei entscheidend, damit die Entführer auch tatsächlich zu dem Treffen erschienen.

Sie fand einen freien Platz und parkte. Die beiden Detectives stellten ihr Fahrzeug in der Nähe ab und verschwanden in die Dunkelheit. In der Zwischenzeit bezogen die Polizisten im Streifenwagen seitlich vom Gebäude Stellung, von wo sie einen guten Blick auf Jane hatten. Sie rief Kirstin an, sobald sie fertig war. »Sie müssen fast hier sein«, sagte sie, als sich Kirstin meldete.

»Es ist nicht mehr weit, glaube ich. Sind Sie … tatsächlich dort?«

»Ja. Ich bin in meinem Auto. Ich habe zu Ben gesagt, ich brauche etwas frische Luft.«

»Danke, danke. Aber ich habe Angst, Jane. Und diese Straße ist wirklich gefährlich …« Sie nahm das Handy offenbar vom Mund und rief: »Langsam, um Himmels willen!« Es klang, als säße sie auf dem Beifahrersitz. »Der Bursche ist nicht an Linksverkehr gewöhnt.«

»Schicken Sie eine SMS, wenn Sie beim Pub sind. Ich sage Ihnen dann, wo ich stehe.«

»Ich weiß nicht, was passieren soll, wenn wir dort sind, da keiner von uns … Sie wissen schon. Aber danke, dass Sie das tun, Jane. Ich werde es nicht vergessen.«

Jane schickte eine SMS an eine Nummer, die sie von der Polizei bekommen hatte. »Sie sind fast hier.«

Die Scheinwerfer des Streifenwagens wurden zur Antwort aufgeblendet.

Eine Weile tat sich nichts. Die Zeit schien immer langsamer zu vergehen, wenn man auf die Ankunft von jemandem wartete. Jane ließ das Fenster herunter, und ein eisiger Wind blies vom Moor herüber. Sie blickte nach oben und sah einen klaren Himmel mit einem strahlenden Mond. Auf dieser Höhe war es kalt genug, damit sich Eis auf der Straße bilden konnte. Diese Erkenntnis trug zu ihren Befürchtungen wegen Kirstin bei – und zu ihren Schuldgefühlen, weil sie sie allein im Büro zurückgelassen hatte. Aber wenn sie es bis zum Pub schaffte, konnten sie immerhin für ihre weitere Sicherheit sorgen.

Bald dachte Jane bei jedem Wagen, der auf den Parkplatz fuhr, das müssten sie sein, und sie wartete auf die SMS, die folgen würde. Aber es geschah nichts. Aus fünf Minuten wurden zehn und fünfzehn, und inzwischen trafen weniger Autos oder Taxis vor dem Lokal ein. Dann war eine Weile gar keines mehr gekommen, weshalb Jane überrascht war, als ihr Handy eine Nachricht anzeigte: Schon was gehört?

Es war von der Polizei. Sie wollte gerade antworten, als eine zweite SMS eintraf: Hilfe

Diesmal war sie von Kirstin.

Jane antwortete: Wo sind Sie? Können Sie reden?

Hilfe

Es war offensichtlich, dass Kirstin gerade noch diese Mitteilung zuwege gebracht hatte, und sie wiederholte.

Jane tippte: Bin unterwegs, und schickte es ab. Dann stieg sie aus und rannte zu dem Streifenwagen. »Ich glaube, es hat einen Unfall gegeben«, rief sie dem Fahrer durch das geöffnete Fenster zu. »Sie sind die Pineforest Road heraufgekommen. Rufen Sie einen Krankenwagen.« Ehe sie jemand zurückhalten konnte, war sie wieder zu ihrem Auto gelaufen und fuhr vor der Polizei auf die Straße hinaus.

Sie kannte viele Stellen, wo ein Fahrzeug von der Bergstraße abkommen und einen Hang hinunterstürzen konnte. Hauptsächlich ging es auf ihrer Seite in die Tiefe, die andere grenzte vor allem an höheres Gelände und war von Wald gesäumt. Das bedeutete, dass ihre Scheinwerfer wenigstens die wahrscheinlichere Straßenseite ausleuchteten. Doch letzten Endes brauchte sie sie nicht, um die Unfallstelle zu finden. Einen Kilometer voraus, jedoch unterhalb der Straße, sah sie zwei Bleistifte aus Licht in das Tal hinunterstoßen und glitzernde Quarzfelsen und von Eis überzogene Moorgrasbüschel beleuchten.

Mit den Polizeifahrzeugen im Schlepptau verlangsamte sie, als sie zu einer Kurve kamen, von der ein Feldweg ins Tal hinunterführte. Jane parkte ihren Wagen am oberen Ende des Feldwegs und ließ genügend Platz, damit die Polizisten ihre Autos dahinter abstellen konnten.

Sie hatte nicht daran gedacht, nach einer Taschenlampe im Handschuhfach zu suchen, aber im Mondlicht sah sie, dass das schleudernde Fahrzeug gegen eine alte Granitmauer auf der linken Seite der Einfahrt zu dem Feldweg geprallt war und mehrere Steine aus ihr gelöst hatte. Sie lagen auf dem ausgefurchten, vom Frost harten Boden inmitten von Glassplittern und Metallteilen. Als sie um eine Kurve bog, sah sie ein Paar Rücklichter in einem sonderbaren Winkel leuchten, und als sie näher kam, erkannte sie, dass der Wagen – ein SUV, wie sie jetzt sah, nicht Kirstins Porsche – halb auf die Beifahrerseite gekippt war und von der Steinmauer gestützt wurde.

Von der Straße her drang das Blaulicht des Streifenwagens wie ein Hubschrauberrotor durch die Dunkelheit, und Jane hörte eine laute, verzerrte Stimme, die vermutlich danach fragte, wohin sie den Rettungswagen schicken sollten.

Etwa zehn Meter von der Straße entfernt hatte sich der SUV in dem Feldweg verkeilt, der sich an dieser Stelle verengte. Jane legte den Kopf schief, um das Nummernschild zu lesen, und war bestürzt, als sie sah, dass der Wagen in Nordirland zugelassen war. Sofort kam ihr McNamee in den Sinn, aber sie hatte keine Zeit, sich mit den Schlussfolgerungen aufzuhalten.

Um zur Vorderseite des Wagens zu gelangen, musste Jane unter den Rädern durchkriechen und sich an dem emporgehobenen Chassis vorbeizwängen. Der Geruch von ausgelaufenem Benzin stieg ihr in die Nase, und sie überlegte kurz, ob Gefahr bestand, dass der Wagen Feuer fing. Aber der Motor war aus, deshalb sagte sie sich, dass es unwahrscheinlich war. Die Motorhaube war vom Glas der zersprungenen Windschutzscheibe übersät, aber die Front des Wagens war relativ unversehrt. Drei Meter weiter war ein Gatter, aber im Licht der Scheinwerfer sah man niemanden davor oder auf der Wiese dahinter liegen.

»Warten Sie«, rief einer der Polizisten. »Lassen Sie uns das machen.«

Jetzt bin ich schon so weit gekommen, dachte sie, dass es keinen Sinn hat umzukehren. Sie verließ das gleißende Licht der Scheinwerfer und näherte sich der Beifahrerseite, die am stärksten beschädigt zu sein schien. Ein scharfer Geruch, den sie nicht einordnen konnte, hing in der frostigen Luft. Ein matter, orangefarbener Schimmer kam von den Armaturen, und als Jane in den Wagen blickte, sah sie Kirstin angeschnallt auf dem Beifahrersitz. Sie lag auf der Seite, ihr Kopf ruhte auf der Mauer, er lag auf einer Art flachem Kissen auf, wie es schien. Das Dach war oberhalb ihrer Schulter eingeknickt, wodurch sie zwischen Dach und Mauer eingeklemmt war. Die Tür war zum größten Teil weggerissen, und doch saß Kirstin da, ein Gebilde aus Fleisch und Knochen, auf wundersame Weise intakt inmitten von zerquetschtem Metall und unnachgiebigem Stein. So wenig von dem Wagen lag auf der Mauer auf, dass man die Illusion haben konnte, es sei Kirstins Kopf, der ihn davon abhielt, weiter nach unten zu rutschen.

Wo waren die beiden »Herren«? Als sie eine Stimme hörte, erstarrte sie. Aber es waren die Polizisten, die im Gespräch den Feldweg herunterkamen. »Jemand ist im Wagen eingeklemmt«, rief sie ihnen zu.

»Warten Sie«, antwortete einer der Beamten. »Rühren Sie nichts an.«

Jane fand mit einem Fuß Halt in der Wand und pflanzte den zweiten auf den Kotflügel des Wagens, dann zog sie sich näher zu Kirstin hinauf. Ihre Augen waren geschlossen, aber zu Janes Überraschung hatte sie nicht einen Kratzer im Gesicht, obwohl ein verdrehtes Stück des Türrahmens wie eine gezackte Krone lose um ihre Stirn lag. Was wie ein Kissen ausgesehen hatte, war ein Airbag, dem die Luft ausgegangen war. Der beißende, rauchige Geruch war jetzt stärker, und Jane nahm an, er hatte mit der Sprengladung zu tun, die den Airbag aufgeblasen hatte.

Sie spähte in den Wagen, in dem jedoch sonst niemand zu sein schien, auch wenn der Mond tiefe Schatten erzeugte und sie sich nicht ganz sicher war. Sie betrachtete Kirstin wieder. War sie tot? Sie streckte die Hand aus und berührte ihre Wange. Sie war warm. Dann bemerkte sie auf der Mauer hinter ihr etwas, das unpassenderweise wie ein Hochzeitshut aussah, nasse schwarze Federn hingen von ihm herab und hatten sich teilweise in dem zerbrochenen Türrahmen verfangen. Jane konnte sich erst keinen Reim darauf machen, bis sie sah, dass es an Kirstins Hinterkopf befestigt war, und nun begriff sie zu ihrem Entsetzen, dass es Kirstins Kopfhaut war.

Die Oberseite ihres Kopfs, dort, wo das Haar hätte sein sollen, glänzte farblos im Mondlicht und schien leise zu pulsieren. Erst dachte sie, die Bewegung sei Blut, das aus der Wunde floss, aber nichts davon lief an ihrem Gesicht hinab. Sie blickte noch einmal auf den Lappen mit dem Haar daran, und jetzt verstand sie. Kirstins Schädeldach war abgetrennt worden, und das Gehirn lag frei. Gegen Übelkeit ankämpfend, rief sie zu den Polizisten zu: »Hilfe, hier herunter!«

Kirstin öffnete die Augen.

Erschrocken wartete Jane, ob es sich um eine Art unfreiwillige Bewegung handelte. Aber dann hob Kirstin die Hand, die von einer anderen Verletzung voll Blut war, und in ihr hielt sie das Handy, das sie irgendwie noch hatte benutzen können. Es gab ein metallisches Ächzen und ein leichtes Zittern unter Janes Fuß, als sich der Wagen weiter absenkte. Die Bewegung veranlasste Kirstin, den Griff um das Handy zu lösen. Oder vielleicht glaubte sie – nachdem sie es während des Unfalls und danach festgehalten hatte –, dass sie es nun nicht mehr brauchte. Ihre Lippen bewegten sich, aber Jane hörte nichts. Sie beugte sich so weit in den Wagen, wie sie konnte. »Ich habe keine Angst, Jane, ich habe keine Angst«, flüsterte Kirstin, und die Andeutung eines Lächelns spielte um ihre Lippen.

Erneut lief ein Zittern durch den Wagen, und Jane spürte, dass er sich diesmal wirklich bewegen würde. Plötzlich sackte er mit weit größerer Wucht ab, Metall schrammte quietschend über die Steine. Jane sprang zurück und wartete, bis der Wagen schließlich weniger als einen Meter über dem Erdboden zum Stillstand kam.

Kirstin saß immer noch in ihrem Sitz, aber ihr Kopf war an die Mauer gedrückt worden, und ihre Augen quollen weiß wie zwei gekochte Eier aus dem Höhlen. Jane wandte sich ab und taumelte in die Arme eines uniformierten Beamten, der sie vorsichtig vom Schauplatz führte.

Am Ende hatte es sich für Kirstin nicht nur als unmöglich erwiesen, der Prophezeiung zu entkommen, vielmehr hatte sich diese auf eine besonders grausame Weise erfüllt, als hätte der Versuch, sie zu vereiteln, das Ergebnis nur umso schlimmer gemacht.