18
Blätter wirbelten über die Straße und wurden über die Windschutzscheibe geblasen, als Jane vom Flughafengelände fuhr. Sie schaltete TalkNation ein, um die Nachrichten und das Wetter zur vollen Stunde zu erwischen. Fünf Minuten später kam ihr zu Bewusstsein, dass beides vorbei war, und sie sich an keine einzige Meldung erinnerte. Zu viele Dinge gingen ihr durch den Kopf.
Diese Geschichte, dass Dervla Dave Millers Stimme im Radio gehört und etwas, das er sagte, falsch aufgefasst hatte. Dass sie, zum Beispiel, die Therapieeinrichtung verlassen hatte, um an einem Ereignis, von dem er gesprochen hatte, teilzunehmen. Es klang plausibel – nur hatte seine populäre Morgensendung auf TalkNation vor fünfzehn Jahren noch gar nicht existiert. Jane wusste es mit Sicherheit, weil sie auf den Monat genau vor fünfzehn Jahren ihre erste Radioreportage in einer von Dave Miller präsentierten Kunstsendung gemacht hatte. Beide hatten damals für den staatlichen Sender RTE gearbeitet. Artspeak, wie die Sendung hieß, war einfach nichts, was sich ein elfjähriges Mädchen anhören würde. Es war natürlich nicht ausgeschlossen, aber höchst unwahrscheinlich. Verständlich, dass McNamees Team diesen Umstand übersehen hatte, aber so, wie es aussah, hatten die geheimnisvollen Ereignisse an dem Tag, an dem Dervla verschwand, wenig oder nichts mit der Stimme von Dave Miller zu tun.
Ich habe es Ihnen gerade gesagt. Ich wusste, es würde passieren, bevor es passiert ist … Aus irgendeinem Grund hörte sie jetzt Dervlas Stimme in ihrem Kopf. Lassen Sie mich fortfahren, und Sie haben eine große internationale Geschichte in Ihrer Sendung, bevor sie passiert. Dervla sprach zu ihr. Was zum Teufel …? Sie erwachte aus ihrer Träumerei. Die Stimme kam aus dem Autoradio. Es war ein Ausschnitt aus Millers Show. Dann ertönte über einer dramatischen Hintergrundmusik die Stimme von Kirstin Rynn. »Sie haben sie vielleicht in der Dave Miller Show gehört, aber eine einzigartige Begabung wie die von Dervla verdient ihren eigenen Sendeplatz, deshalb liefert sie Ihnen von nun an die Nachrichten von morgen schon heute täglich in ihrer eigenen Geisterstunde, hier und nur hier auf TalkNation. Weitere Einzelheiten bald – bleiben Sie dran.«
Ein Hupen des Wagens hinter ihr ließ Jane aufschrecken. Sie hatte während des Trailers so verlangsamt, dass sie den Verkehr aufhielt. Sie fuhr an den Straßenrand, holte ihr Handy aus der Tasche und rief McNamee an. »Ich weiß, Sie fahren gerade, aber ich musste es Ihnen sagen. Es gibt einen Werbespot für Dervlas neue Show – ihre eigene Show – auf TalkNation. Man erfährt nicht genau, wann es losgeht, deshalb sind die Details vermutlich noch nicht klar, aber sie arbeiten daran. Kirstin muss irgendwie in Kontakt mit ihr gekommen sein.«
»Verdammt. Das ist Wahnsinn. Hören Sie, überlassen Sie es mir. Ich kann im Augenblick nichts unternehmen, aber ich melde mich später bei Ihnen.«
Jane überlegte, ob sie Miller anrufen sollte, aber er war immer noch in London und pflegte wahrscheinlich gerade seinen zweiten Kater des Wochenendes. Und es gab zu viel zu erklären. Er wusste nichts von McNamees E-Mail, oder dass sie ihn getroffen hatte. Und jetzt der Werbespot und wie er aufgemacht war. Miller mochte froh sein, dass er Dervla los war, aber die Andeutung, dass er ihr Talent unterdrückt hatte, würde ihn sehr verärgern. Noch ernster war der Umstand, dass Kirstin bereit war, einer Frau eine Plattform zu bieten, die eine ungesunde Fixierung auf ihn hatte und vor der sie sogar gewarnt worden war. Als der bekannteste Moderator des Senders hatte er sicher eine bessere Behandlung verdient.
Sollte sie Kirstin anrufen und mit ihr darüber sprechen? Und was wollte sie sagen? Ihr vorwerfen, dass sie Dervla einer Sendung stahl, die sie ohnehin loswerden wollte? Andeuten, dass sie von ihrer Rolle als Dervlas Agentin wusste? Aber das konnte sie nur herausgefunden haben, indem sie in ihrer E-Mail geschnüffelt hatte. Was war mit der Gefahr für Miller? Sie hatte den Verdacht, dass Kirstin sogar zynisch genug wäre, die Vorstellung einer Feindschaft zwischen Dervla und Miller als Publicity für ihre neue Show zu benutzen.
Und natürlich hatte sie keine Möglichkeit, mit Dervla selbst zu kommunizieren. Wo war sie in diesem Augenblick überhaupt? Saß sie mit ihrer Katze auf dem Schoß in einer Wohnung in Dublin? Oder mit einem Quantencomputer verbunden in einem Forschungslabor in der Schweiz? McNamee hatte es sorgsam vermieden, ihr den kleinsten Hinweis zu liefern.
Sie rief Ben an.
Er antwortete mit einem knappen: »Ja.«
»Hallo, Liebling. Ich bin auf dem Weg. Müsste in etwa einer halben Stunde zu Hause sein.«
»Gut«, sagte er und unterbrach die Verbindung.
Was ist dem denn über die Leber gelaufen, fragte sie sich.
Als sie daheim ankam, war niemand im Haus. Sie schenkte sich ein Glas Wasser ein und setzte sich an den Tisch. Eine der Sonntagszeitungen lag offen da, so wie Ben sie gelesen hatte. Es sah ihm nicht ähnlich, sie ausgebreitet liegen zu lassen, dachte sie. Sie war vorhin nicht zum Zeitunglesen gekommen, deshalb drehte sie das Blatt um, und ihr Blick fiel auf die größte Schlagzeile:
MILLERS EHE LAUT FREUNDEN STABIL
Dave Millers Freundschaft mit dem Model Yvette Daly war seiner Frau Zita bekannt und kein Grund für Reibungen zwischen ihnen, wie Freunde des Paars beteuern. Das Model, das den Konsum von Kokain in der Vergangenheit bereits zugegeben hatte, hat möglicherweise einen ganzen Drogencocktail genommen, der sie am frühen Freitagmorgen in den Selbstmord trieb. Sie war zuletzt am Donnerstagabend in Begleitung des Rundfunkmoderators gesehen worden, doch trotz Spekulationen über die Natur ihrer Beziehung war dies nach Aussage von Freunden Millers nicht weiter bemerkenswert. »Yvette war häufig Gast in seiner Sendung«, sagte einer. »Sie trafen sich häufig, um ihren nächsten Beitrag zu besprechen. Davon abgesehen kannten sie sich seit Yvettes Schulzeit, und Dave hat sie bei ihrer Karriere enorm unterstützt.«
Der Radiomann ist jedoch bekannt dafür, dass er früher enge Beziehungen mit Mitarbeiterinnen seiner Sendung geknüpft hat. Eine von ihnen, die attraktive Rothaarige Jane Wade (39), ist vor Kurzem nach drei Jahren Abwesenheit als verantwortliche Produzentin zu der Show zurückgekehrt. Sie und Miller wurden vor Kurzem allein in einem Speisezimmer des Ailesbury Hotels gesehen, und nach Meinung eines TalkNation-Insiders könnte dies der Grund für einen Krach zwischen Miller und dem Model am Donnerstagabend gewesen sein.
Eine kalte Faust griff nach Janes Herz. Deshalb war Ben so kurz angebunden gewesen. Er wusste von ihrem One-Night-Stand mit Miller, der passiert war, bevor sie zusammen gewesen waren. Aber der Artikel deutete an, sie hätten damals eine Affäre gehabt, die sie jetzt neu belebten. Ihre Furcht verwandelte sich in Zorn. Was fiel ihnen ein, diesen Schmutz zu drucken? Es war so unfair. Und egal, was sie davon hielt, für Ben war es wirklich schwer. Was den »Insider« bei TalkNation betraf, so glaubte sie keine Sekunde, dass dieser existierte.
Aber warum nahm Ben sofort das Schlimmste an? Oder tat er es gar nicht? Wahrscheinlich war er verletzt, weil er dabei lächerlich aussah. Absolut verständlich.
Sie hörte seinen Wagen draußen vorfahren. Sie ging in die Diele und hatte die Tür offen, bevor er sie erreichte. Von den Kindern war nichts zu sehen. »Du hättest es mir sagen sollen«, sagte sie ruhig.
»Du hättest es mir sagen sollen.« Er schob sich an ihr vorbei.
»Sei nicht so, Ben«, sagte sie und folgte ihm ins Wohnzimmer. »Ich wusste nicht, dass etwas in der Zeitung stehen würde.«
»Das meine ich nicht. Ich meine, du hättest mir von dir und Miller erzählen sollen.«
»Verdammt noch mal, Ben, da ist nichts zwischen mir und Miller. Wo sind die Kinder?«
»Ich habe sie bei Debbie gelassen. Ich sagte, wir müssen reden.«
»Es gab keinen Gr…«
»Sie hat die verdammte Zeitung gesehen und angerufen, um uns zu warnen. Ich kam mir vor wie ein Idiot.«
»Dafür gibt es keinen Grund. Da versucht die Presse doch wieder nur, eine Story zu konstruieren. Du solltest inzwischen wissen, wie das läuft.«
»Leugnest du, dass du mit ihm im Ailesbury warst?«
»Du weißt, dass ich dort war.«
»Allein mit ihm?«
»Im Restaurant, nach dem Lunch. Und ich habe ihm gesagt, dass ich nicht an ihm interessiert bin, wenn du es genau wissen willst.«
»Ach ja? Und wieso ist dieses Thema überhaupt zur Sprache gekommen?«
Jane ließ sich in einen Sessel plumpsen. »Das ist lächerlich. Wir fangen an, uns im Kreis zu drehen.«
Ben setzte sich ihr gegenüber, griff nach einer Zeitschrift und warf sie wieder auf den Tisch. »Es hat mir nicht gefallen, dass du wieder dort arbeiten gegangen bist. Ich hatte Angst, es könnte die Dinge zwischen uns ändern. Sieht aus, als hätte ich recht gehabt.«
»Ich glaube, es hat dir nicht gefallen, dass ich wieder arbeiten gehe, Punkt. So ist es doch, oder?«
Ben tat den Gedanken mit einer Handbewegung ab. »Das stimmt nicht, und du weißt es.«
»Dann geht es also nur um diesen idiotischen Zeitungsartikel und die Tatsache, dass Miller und ich zufällig …« Sie rang um die richtigen Worte.
»Miteinander gebumst haben.«
Jane wusste, es war ein absichtlicher Schlag unter die Gürtellinie. Sie sprang auf und lief in die Küche. Das Wasserglas, das sie bereits benutzt hatte, stand auf dem Tisch. Sie griff es sich unterwegs, füllte es an der Spüle und blieb davor stehen, um auf den Garten hinauszublicken und das Wogen in ihrer Brust zu beruhigen. Doch sobald sie den Kopf zurücklegte, um zu trinken, liefen ihr Tränen über die Wangen.
Ben erschien in der Küchentür. »Das war unnötig«, sagte er. »Es tut mir leid.«
»Ja«, schniefte sie und hasste sich dafür. »Ja, es war unnötig. Die ganze Sache war unnötig.« Sie drehte sich um und sah ihm in die Augen. »Aber es wird wieder passieren. Du weißt es, ich weiß es. Aber ich werde nicht …« Ihr Handy läutete in ihrer Tasche, die sie auf einem Stuhl abgestellt hatte. Sie beschloss, es zu ignorieren. »Ich gebe meinen Job nicht auf.«
Ben sagte nichts.
»Also überleg dir lieber …« Das Handy war hartnäckig. Sie konnte sich nicht konzentrieren. »Verdammt noch mal.« Sie griff nach der Tasche und riss das Handy heraus, in der Absicht, es auszuschalten. Aber als sie sah, dass es McNamee war, musste sie drangehen. »Hallo.« Sie wollte nicht, dass er irgendwelchen Kummer aus ihrer Stimme heraushörte.
Ben drehte sich um und verließ die Küche.
»Ich hatte Kontakt mit Dervla«, sagte McNamee. »Sie macht keine Sendung für TalkNation. Kirstin Rynn und sie haben noch nicht einmal darüber gesprochen.«
Und es lief schon ein Werbespot dafür. Kirstin pokerte ganz schön hoch.
»Sie will nur mit Miller reden.«
»Das wird nicht passieren, Andrew.«
»Darüber will sie unbedingt mit Ihnen sprechen.«
Janes Herz setzte einen Schlag aus, obwohl sie immer noch mit ganz anderen Emotionen fertigzuwerden versuchte. Sie holte tief Luft. »Mit mir?«
»Persönlich, meine ich. Haben Sie eine Webcam?«
»Äh … ja.« Das kam unerwartet.
»Sie sagt, Sie hätten am Freitag ein paar Worte gewechselt, deshalb glaubt sie, es könnte hilfreich sein, wenn Sie sich gewissermaßen von Angesicht zu Angesicht kennenlernen. Aber erwarten Sie nicht zu viel Augenkontakt – sie trägt immer eine dunkle Brille.«
Dervlas Flausen interessierten sie im Moment nicht sehr. »Wann, schlägt sie vor, sollen wir es machen?«
»Jetzt gleich, wenn möglich.«
»Im Augenblick … kommt es ein bisschen ungelegen.«
»Dann eben, wenn es passt. Ich bin auf dem Weg in den Konferenzraum und überlasse alles Ihnen. Sie ist ziemlich viel online und wird Ausschau halten, ob Sie sie über Skype kontaktieren.«
Sie verabschiedeten sich, und Jane schaltete ihr Handy aus. Dervla – und alles andere – konnte warten. Sie ließ das Handy auf dem Küchentisch liegen und ging ins Wohnzimmer, wo Ben fernsah. Sie setzte sich auf die zweite Couch und starrte auf den Bildschirm, ohne zu sehen, was lief.
Schließlich schaltete er das Gerät aus. »Das hätte ich nicht sagen sollen, Jane, und es wird nicht wieder vorkommen, versprochen. Es ist nur so, dass ich manchmal das Gefühl habe, mein Job sei der weniger wichtige, seit du wieder arbeiten gehst. Vielleicht, weil ich zu Hause arbeite, und dann heißt es schnell: ›Ben, Scotts Lehrerin hat angerufen, er ist krank. Kannst du ihn abholen?‹ Oder: ›Debbie bringt Bethann heute in die Krippe, aber sie kann erst um zehn hier sein …‹«
»Und ich habe mich die letzten zwei Jahre Vollzeit um die Kinder gekümmert, schon vergessen?«
»Ich weiß, ich weiß.«
»Wieso fängst du dann jetzt mit alldem an?«
»Ich glaube, es war, weil du heute, am Sonntag, für den Sender unterwegs warst, wenn wir gern mit den Kindern etwas unternehmen. Und dann musste ich noch diesen Scheißdreck in der Zeitung lesen.«
Jane seufzte. »Es hat alles mit dieser Frau zu tun, dieser Dervla. Sie macht allen Leuten Ärger. Und jetzt will sie mit mir reden.«
»Und …?«
»Ich fühle mich im Moment nicht dazu in der Lage.«
Er stand auf und ging zu ihr hinüber. »Dann lass es bleiben. Wir schnappen uns die Kinder und fahren mit ihnen Pizza essen.« Er setzte sich auf den Rand der Couch und legte die Arme um sie. »Und du kriegst auch eine.«
Bevor sie das Haus verließen, fiel Jane ein, dass ihr Handy in der Küche lag, und sofort spürte sie den Sog. Aber sie wusste, sie würde nachgeben und es einschalten, wenn sie unterwegs waren, deshalb beschloss sie, es zu lassen, wo es war.