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Der Verkehr war furchtbar, und bis Jane zu Hause ankam, hatte Ben die Kinder gefüttert und bereitete gerade ein Bad für sie vor. Sie fragte, ob er gegessen habe, und er sagte, er sei mit einem Kunden beim Lunch gewesen und würde sich später noch einen Happen aus dem Kühlschrank nehmen. Jane hatte selbst noch nicht viel gegessen, aber nach ihrer Begegnung mit Kirstin verspürte sie keinen Appetit. Sie bot ihm an, das Baden der Kinder zu übernehmen, aber er sagte, er würde es gern tun und sie auch noch zu Bett bringen. »Du siehst müde aus«, sagte er. »Leg dich ruhig ein bisschen hin.«
Dankbar ließ sich Jane auf einer Couch nieder und zappte eine Weile durch alle Fernsehkanäle. Aber sie kam in Gedanken nicht von Kirstins Lage los. Es wirkte einerseits so surreal und andererseits so beängstigend, dass man verstehen konnte, warum Kirstin es als fiese Retourkutsche deutete. Es zeigte aber auch, dass es in Kirstins Welt als akzeptable Masche galt, jemandem Todesangst zu machen. Doch darum ging es nicht. Dervlas Vorhersagen trafen immer ein, darum ging es. Jane wusste es, und doch hatte sie Kirstin den Eindruck vermittelt, als könne sie dem Schicksal entrinnen, das Dervla für sie gesehen hatte. Und es war wiederum auch keine gänzlich falsche Hoffnung, denn tief im Innern und trotz des persönlichen Augenscheins, war Jane überzeugt, dass man genau das tun konnte.
Was würde Dervla sagen?
Jane beschloss, es herauszufinden.
Sie ging in ihr Arbeitszimmer und schaltete den Computer ein.
Als sie sich in Skype einloggte, streckte Ben den Kopf zur Tür herein und erinnerte sie daran, dass er am nächsten Abend wegen dieser Konzerthallengeschichte wieder nach Galway fahren und über Nacht bleiben würde. Jane versprach, am nächsten Tag rechtzeitig zu Hause zu sein und sich am Freitagmorgen selbst um die Kinder zu kümmern.
Dann sagte er: »Ich will ja nicht in dich dringen, aber du siehst aus, als hätte dich ein Zug angefahren. Gibt es etwas, das du mir erzählen willst?«
»Nein, Schatz«, sagte sie und schickte ihn mit einem beiläufigen Winken fort. »Vermutlich steckt mir die Sache von gestern noch in den Knochen.« Sie konnte ihm nicht erzählen, dass es schon wieder mit Dervla zu tun hatte.
Dervla war online und antwortete zu Janes gelinder Überraschung sofort. »Wollen Sie visuellen Kontakt?«
»Nein. Ich möchte Ihnen nur eine Frage stellen.«
»Geht es um Kirstin Rynn?«
»Sie können wohl hellsehen.«
»Sehr witzig.«
»Es ist nicht sehr witzig für Kirstin. Falls Sie sie zum Narren halten, meine ich.«
»Das würde ich nie tun.«
»Genau das dachte ich mir. Und da liegt das Problem.«
»Will heißen?«
»Dass Sie es völlig ernst meinen. Was bedeutet, Kirstin kann nichts dagegen tun, dass sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden bei einem Autounfall getötet wird, richtig?«
»Sie könnte es versuchen, aber es wird nicht funktionieren. Es sei denn natürlich, mir ist ein Fehler unterlaufen.«
»Sind Ihnen schon Fehler unterlaufen?«
»Nicht, was die Fakten selbst angeht. Aber bei ihrer Interpretation.«
»Und könnte das eine dieser Gelegenheiten sein?«
»Was ich gesehen habe, war unmissverständlich. Ihr Name. Ihr Job. TalkNation. Getötet bei einem Unfall am Stadtrand von Dublin. Nur ein Fahrzeug beteiligt. Kein Wort von anderen Opfern.«
»Haben Sie ein Bild des verunglückten Wagens gesehen? Welche Farbe hatte er?«
»Schwarz. Sah aus wie ein SUV.«
»Sie fährt einen roten Porsche.«
»Und? Vielleicht ist sie in einem fremden Auto mitgefahren.«
»Dann müsste es aber weitere Tote oder Verletzte geben. Sie sagten, davon war keine Rede.«
»So habe ich es empfangen. Vielleicht fehlen Informationen. Das kommt vor.«
»Haben Sie und Kirstin heute gestritten?«
»Ja. Sie wollte meine Adresse wissen. Um eine Leitung mit Rundfunkstandard zu verlegen. Ich sagte, meine Stimme sei vom Computer erzeugt, und es würde kaum einen Unterschied machen. Dann behauptete sie, es sei aus rechtlichen Gründen. Ich weigerte mich. Darauf sagte sie, sie habe bereits ein IT-Sicherheitsunternehmen damit beauftragt, dem Standort meines Computers zu ermitteln. Sie gab einfach nicht auf.«
»Und daraufhin haben Sie beschlossen, ihr zu erzählen, Sie hätten ihren Tod vorausgesehen?«
»Nein. Das entsprang einer weiteren Meinungsverschiedenheit. Sie bat mich, von ihrer Zukunft zu erzählen.«
»Sie hat Sie darum gebeten?« Kirstin war sehr sparsam mit der Wahrheit umgegangen, wie es schien.
»Ja. Sie wollte einige Ideen für die Show ausprobieren und schlug vor, dass ich sie als Gegenstand nehme. Aufgrund dessen, was ich am Morgen vorausgesehen hatte, versuchte ich, es zu umgehen, indem ich anführte, es sei unwahrscheinlich, dass ich überhaupt persönliche Voraussagen machen würde. Wir gerieten erneut in Streit, und in dessen Verlauf ist mir herausgerutscht, dass sie die erste Sendung nicht hören würde. Sie bestand darauf, dass ich erklärte, was das bedeutete.«
»Warum haben Sie sich nicht etwas … Harmloses ausgedacht?«
»Alles in allem erschien es mir besser, sie erfährt es.«
»Erinnern Sie mich daran, dass ich Sie bloß nie frage. Allerdings … Sie haben mir bereits eine Vorhersage geschickt. Warum?«
»Weil ich es gesehen habe.«
»Aber mein Name wurde nicht genannt. Woher also wussten Sie, dass ich Augenzeugin sein würde?«
»Ich wusste es einfach. Ich kann es nicht erklären.«
»Es liegt an Zusammenhängen, oder?«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine die Art und Weise, wie Ihre Vorhersagen immer näher an uns in der Show herankamen, als würden Sie einer Kette von Zusammenhängen folgen. Nicht nur zwischen Ereignissen, sondern auch zwischen Leuten. Und jetzt haben Sie in rascher Folge Dinge vorausgesehen, die mit Dave, mir und Kirstin zu tun hatten.«
»Vielleicht haben Sie recht. Ich habe das noch nie in der Öffentlichkeit gemacht oder mit so vielen Leuten interagiert, zum Teil ist mir deshalb selbst neu, was sich gerade abspielt.«
»Was ist mit der Nachricht, die Sie für Dave hatten, als er nach London aufgebrochen ist? Es hatte etwas mit der Sendung zu tun, oder?«
»Vielleicht.«
»Und noch mit etwas anderem. Aber was?«
»Vielleicht hatte es mit mir zu tun.« Und damit brach sie die Verbindung genauso schnell ab, wie sie es beim letzten Mal getan hatte.
Sei’s drum. Jane musste ohnehin schnell Kirstin erreichen. Zu ihrer Erleichterung nahm sie ihr Telefon im Büro ab.
»Sie sind noch da, Gott sei Dank«, sagte Jane.
»Natürlich. Ich habe Ihren Rat befolgt und beschlossen, den Abend gut auszunutzen. Ich habe mir etwas zu essen bestellt und danach ein Meeting mit ein paar potenziellen Sponsoren von Dervlas Show … Leute, die richtig Geld reinstecken wollen. Ich habe Ihnen doch gesagt, es funktioniert.«
»Schön. Bleiben Sie einfach, wo Sie sind, was immer Sie tun. Und fahren Sie vor allem kein fremdes Auto.«
»Warum sollte ich? Ich habe nicht vor, irgendwohin zu fahren, weder in meinem Wagen noch in einem andern. Und Jane … danke.«
Jane war es egal, ob es Kirstin ehrlich meinte oder nicht. Immerhin hatte sie sie ernst genommen und rührte sich nicht vom Fleck. Mehr konnte Jane im Moment nicht tun. Außer hoffen, dass sich Dervla irrte.