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Unmittelbar nach der Sendung am nächsten Tag ging Jane zusammen mit dem Team und anderem Personal von TalkNation in den Sitzungssaal, um zu hören, was Kirstin zu verkünden hatte.

Die meisten Stühle, die sonst um den Konferenztisch standen, waren entfernt worden und der Tisch selbst an die Wand geschoben. Kirstin, die ein schwarzes Nadelstreifenkostüm trug, stand an der Stirnwand auf einem Podium. Hinter ihr saßen zwei Frauen und ein Mann. Jane kannte den Mann – er war ein bekannter Zeitungsastrologe. Senderangestellte trudelten ein, standen in Gruppen beisammen und spekulierten im Flüsterton darüber, was sie wohl gleich zu hören bekommen würden.

»Guten Tag, und danke, dass Sie gekommen sind«, begann Kirstin. »Es ist mir eine große Freude, eine aufregende Neuerung in unserem Programm zu verkünden. Ab nächster Woche wird Dervla, die Hellseherin, die Sie in der Dave Miller Show gehört haben, mit ihrer eigenen einstündigen Sendung ins Nachmittagsprogramm rutschen. Sie kennen ohne Frage bereits den Werbespot, aber nun kann ich Ihnen einige Einzelheiten nennen. Die Sendung wird ›Psyline‹ heißen, und angesichts des enormen Interesses an Themen wie Astrologie, Hellsehen, Tarot-Lesen, Fernheilung und so weiter werden wir unseren Hörern das volle Spektrum an parapsychologischem und spirituellem Rat bieten sowie sie täglich mit Dervlas verblüffend genauen Vorhersagen von Ereignissen im In- und Ausland in Erstaunen versetzen. Sie wird das Team anführen, das Sie hier hinter mir sehen …« Sie drehte sich um und gestikulierte in Richtung der drei dort Sitzenden, dann wandte sie sich wieder ihrem Publikum zu. »Den Kern des Programms werden Dervlas tägliche Vorhersagen bilden, von denen sich einige auf lokale und nationale Ereignisse beziehen werden, aber der Höhepunkt wird ihre Voraussage eines großen internationalen Zwischenfalls sein, dem am nächsten Tag Berichte von Augenzeugen vor Ort folgen. Wir beabsichtigen, diesen speziellen Programmpunkt an andere Radiosender zu verkaufen, und erhalten bereits Anfragen aus aller Welt.« Sie sah auf die Uhr, dann warf sie einen Blick in ihr Publikum. »Wir warten noch auf die Ankunft einiger Reporter und Fotografen, dann werde ich unser Psyline-Team vorstellen. Gibt es in der Zwischenzeit Fragen?«

»Hat das Ganze damit zu tun, dass Dave gerade nicht auf Sendung ist?«

Jane konnte den Fragesteller nicht sehen, aber sie erkannte die Stimme. Es war Declan Nagle aus der Nachrichtenredaktion. Offenbar geht das Gerücht um, dass Kirstin Dervla aus Millers Show gestohlen hat, dachte Jane.

Ein Anflug von Verärgerung huschte kurz über Kirstins stark geschminktes Gesicht. »Daves gegenwärtige Situation hat nichts mit dieser Entscheidung zu tun. Tatsächlich hatte er bereits vor Rachels Verschwinden – und wir hoffen auf ein schnelles Ende ihrer Gefangenschaft – voll und ganz meinen Plan unterstützt, Dervla ihre eigene Sendung zu geben. Niemand begreift besser als Dave, dass ein todsicherer Quotenbringer wie unsere Hellseherin Dervla eine größere Rolle im Programm von TalkNation spielen muss, vor allem, wenn man bedenkt, dass sie auch von einem Konkurrenzsender unter Vertrag genommen werden könnte. Und durch ihre gegenwärtige Abwesenheit in der Sendung könnten sich Letztere ermutigt fühlen, einen Vertrag mit ihr abzuschließen.«

»Es hat also doch mit Daves Abwesenheit zu tun.«

Kirstin warf Nagle einen vernichtenden Blick zu. »Ich glaube, ich habe Ihre Frage beantwortet.« Sie sah sich gezwungen lächelnd um. »Noch jemand? Ja, Ali?«

»Kommt sie ins Studio?«

»Nein. Sie wird von zu Hause tätig sein, was sie bevorzugt. Aber wir legen eine ISDN-Leitung zu ihrem Haus, um ihre, äh, Stimme auf Studioqualität zu bringen.«

Jane hob die Hand.

»Ja, Jane?« Kirstin zeigte auf sie.

»Das heißt, Sie wissen, wo sie wohnt?«

»Es wäre merkwürdig, wenn wir es nicht wüssten«, sagte sie geringschätzig und zeigte auf einen anderen Fragensteller.

Sie weiß es in Wirklichkeit nicht, sagte sich Jane. Sie wartete einige weitere Fragen und deren Beantwortung ab, ehe sie die Hand wieder hob. Kirstin tat, als würde sie sie nicht sehen, deshalb stellte sie ihre Frage einfach unaufgefordert. »Hat Dervla einen Vertrag unterschrieben?«

»Äh, technisch gesehen nicht, noch nicht. Aber wir sind uns über die Bedingungen einig.«

»Wer vertritt sie?«

»Sie sich selbst, im Moment. Warum fragen Sie?«

»Trifft es nicht zu, dass Sie ihr angeboten haben, sie in den Verhandlungen mit dem Sender zu vertreten?«

Ein Murmeln ging durch die Zuhörer.

Kirstin schüttelte den Kopf und zwang sich zu einem weiteren Lächeln. »Nein, das ist nicht der Fall. Ich habe ihr lediglich die Namen einiger Talentagenturen genannt, aus denen sie wählen kann, wenn sie es wünscht.«

»Talentent, zum Beispiel?«

»Und wenn? Daran ist nichts Unrechtes.« Kirstin blickte sich im Raum um. »Machen wir weiter. Noch Fragen?«

»Warum haben Sie die Warnung ignoriert, die Sie wegen Dervla erhalten haben?« Jane war entschlossen, es jetzt in aller Öffentlichkeit mit ihr auszutragen.

»Warnung? Welche Warnung?« Kirstin schaute höchst unbehaglich drein.

»Dass sie eine Gefahr für Dave Miller darstellt.«

Einen Augenblick lang war Kirstin sprachlos. Dann sah sie einen Ausweg. »Ach so! Für seine Hörerzahlen, meinen Sie. Wenn Dervla zu einem anderen Sender gehen würde, tja, dann wäre sie natürlich eine Bedrohung. Und genau deshalb sind wir hier.«

Die Menge lachte. Kirstin nutzte die Gelegenheit und zeigte auf jemanden in der vordersten Reihe des Publikums. »Ja, Michael von der Frühstücksshow, Sie haben eine Frage …«

Jane spürte, dass es sinnlos war. Und was hätte sie überhaupt davon? Wenn es stimmte, dass Dervla ihr Versprechen wahr gemacht und Kontakt mit Kirstin aufgenommen hatte, dann, weil es ihren eigenen Zwecken diente. Kirstins Pläne waren auf lange Sicht irrelevant.

Jane wartete das Ende der Versammlung nicht ab. Auf ihrem Weg zurück ins Büro traf sie einen Fotografen des Irish Mirror, der in Richtung Sitzungssaal unterwegs war.

»Ist diese Versammlung bald vorbei?«, fragte er.

»Ihr wisst, worum es geht, oder?«

»Ist diese Hellseherin nicht da, wie heißt sie gleich noch, Dervla?«

Jane sah einen weiteren Fotografen den Flur entlangkommen. Sie musste lachen. Kirstin hatte die Presse offenbar mit der Andeutung angelockt, sie würden die Hellseherin zum ersten Mal zu Gesicht bekommen.

»Wenn sie da ist, dann in Verkleidung«, antwortete sie. »Ihr könnt Kirstin Rynn fragen, sie soll sie euch zeigen.«