Kapitel 22
Am Sonntagmorgen um zehn nach acht kommt ein Riesenschwarm Killerbienen nach Dallas, genau nach Plan. Dabei hatte mein Spot im Fernsehen nur eine lausige Sehbeteiligung von fünfzehn Prozent.
Nächste Woche gewährt mir der Sender eine volle Minute, und ein paar Schwergewichte, Pharmagesellschaften, Autohersteller, Ol- und Tabakkonzerne, bewerben sich als garantierte eventuelle Sponsoren für den Fall, dass ich mit einem noch größeren Wunder aufwarten kann. Aus lauter falschen Gründen zeigen auch die Versicherungsgesellschaften großes Interesse.
Zwischen jetzt und nächste Woche klappere ich Florida ab, jeden Abend in einer anderen Stadt. Jacksonville, Tampa, Orlando, Miami. Tender Bransons Wunder-Tournee. Jeden Abend ein Wunder.
Meine Wunder-Minute, wie der Agent und der Sender das nennen wollen, erfordert praktisch keinen Produktionsaufwand. Jemand richtet eine Kamera auf dich, du hast dich gekämmt und dir einen Schlips umgebunden, machst ein feierliches Gesicht und sprichst genau ins Objektiv.
Morgen kippt der Leuchtturm von Ipswich Point um.
Nächste Woche wird der Mannington-Gletscher in Alaska kalben und ein Touristenboot, das sich zu nah herangewagt hat, zum Kentern bringen.
In der Woche darauf werden in Chicago, Tacoma und Green Bay Mäuse auftauchen, die tödliche Viren in sich tragen.
Man macht genau dasselbe wie ein Nachrichtensprecher, nur eben im Voraus.
Für mich sieht der Plan so aus, dass ich Fertility dazu bringe, mir ein paar Dutzend Prophezeiungen auf einmal zu geben; dann kann ich meine Wunder-Minuten für eine ganze Saison auf einmal produzieren. Und habe ich erst einmal ein ganzes Jahr im Kasten, bleibt mir Zeit für persönliche Auftritte, für Werbefeldzüge und Signierstunden. Vielleicht auch für irgendeine Beratertätigkeit. Oder Nebenrollen in Film und Fernsehen.
Fragt mich nicht, wann, ich weiß es nämlich nicht mehr, aber irgendwann in dieser Zeit habe ich vergessen, dass ich mich umbringen wollte.
Wenn die Presseagentin auf die Idee käme, Selbstmord auf meinen Terminplan zu setzen, wäre ich tot. Neunzehn Uhr, Donnerstag, Rohrreiniger trinken. Kein Problem. Aber bei all den Killerbienen und meinen ständigen Terminen quält mich immerzu die Frage, was wohl geschieht, wenn ich Fertility nicht wiederfinde. Außerdem habe ich unablässig mein Gefolge am Hals. Das Team hetzt mich immer weiter, die Presseagentin, die Planer, der persönliche Fitnesstrainer, der Kieferorthopäde, der Dermatologe, der Diätberater.
Die Killerbienen haben ihrem Namen nicht viel Ehre gemacht. Es gab keine Toten, aber immerhin eine Menge Aufmerksamkeit. Jetzt brauchte ich eine Zugabe.
Den Einsturz eines Stadions.
Den Einbruch eines Bergwerks.
Eine Zugentgleisung.
Allein bin ich nur, wenn ich auf dem Klo sitze, aber selbst da bin ich eingekreist.
Fertility bleibt verschwunden.
Auf nahezu allen öffentlichen Herrentoiletten sind in die Trennwände zwischen den einzelnen Kabinen Löcher gebohrt beziehungsweise eher gekratzt. Irgendwelche Leute kratzen mit den bloßen Fingernägeln Löcher in dieses zolldicke Massivholz. So etwas muss Tage, ja Monate in Anspruch nehmen. Man sieht diese Löcher auch in Marmor- und Stahlwänden. Wie Spuren von Ausbruchsversuchen im Gefängnis. So ein Loch ist groß genug, dass man hindurchsehen oder -sprechen kann. Man kann auch einen Finger, die Zunge oder den Penis hindurchstecken, um also wenigstens immer mit einem kleinen Teil des Körpers auszubrechen.
Solche Offnungen werden »glory holes« genannt.
Mit demselben Ausdruck bezeichnet man auch eine Goldader.
Weil man da alle Pracht und Herrlichkeit findet.
Ich sitze auf der Toilette im Flughafen von Miami, und neben mir ist so ein Loch in der Kabinenwand, und um das Loch herum haben Männer, die hier vor mir gesessen haben, ihre Botschaften eingegraben.
John M war hier, 14/3/64.
Carl B war hier, 8. Jan. 1976.
Grabinschriften.
Manche sind noch ganz frisch. Manche sind übermalt, aber so tief eingekratzt, dass sie durch Jahrzehnte von Farbe immer noch lesbar sind.
Tausend Augenblicke haben hier ihre Schatten hinterlassen, tausend Stimmungen, Bedürfnisse, an die Wand geschrieben von Männern, die längst verschwunden sind. Hier ist der Beleg, dass sie da gewesen sind. Sie sind gekommen. Sie sind gegangen. Die Sozialarbeiterin würde von Primärquellen sprechen.
Eine Geschichte des Unannehmbaren.
Hier kriegst du gratis einen geblasen. Samstag, 18. Juni 1973.
All das ist in die Wand gekratzt.
Worte ohne Bilder. Sex ohne Namen. Bilder ohne Worte. Eine nackte Frau, die langen Beine weit gespreizt, dicke runde Brüste, lange wehende Haare und kein Gesicht.
Ein freischwebender mannsgroßer Penis spritzt riesige Tropfen auf ihre haarige Vagina.
Der Himmel, steht dort geschrieben, hängt voller Mösen.
Himmel ist ein Schwanz im Arsch.
Fahr zur Hölle, Schwuchtel.
Da war ich schon.
Friss Scheiße.
Hab ich schon.
Das sind nur einige wenige der Stimmen hier, aber plötzlich flüstert eine richtige Stimme, eine Frauenstimme: »Du brauchst mal wieder eine Katastrophe, stimmt’s?«
Die Stimme kommt durch das Loch, aber als ich nachsehe, sind da nur zwei geschminkte Lippen. Rote Lippen, weiße Zähne, ein Stückchen feuchter Zunge. »Ich wusste, dass du hierher kommen würdest. Ich weiß alles.«
Fertility.
In dem Loch klebt jetzt ein graues Auge, vergrößert mit blauem Lidschatten und Eyeliner und blinzelnden, dick mit Mascara bestrichenen Wimpern. Die Pupille weitet sich erst und wird dann ganz klein. Dann scheint der Mund zu sagen: »Hetz dich nicht. Dein Flugzeug hat ein paar Stunden Verspätung.«
An der Wand neben dem Mund steht: Ich lutsche und schlucke.
Daneben steht: Ich will sie nur lieben, aber sie lässt mich einfach nicht.
Der Anfang eines Gedichts: Warm in dir ist die Liebe … Der Rest des Gedichts von Ejakulat verwischt.
Der Mund sagt: »Ich habe hier einen Termin.«
Ihr schlimmer Job.
»Mein schlimmer Job«, sagt sie. »Viel zu tun.«
Darüber reden wir nie.
»Ich will nicht darüber reden«, sagt sie.
Gratuliere, flüstere ich. Zu den Killerbienen, meine ich.
An der Wand steht: Wie nennt man ein Credistenmädchen, das gern einen bläst?
Tot.
Wie nennt man einen credistischen Schwulen, der sich in den Arsch ficken lässt?
Der Mund sagt: »Du brauchst dringend eine Katastrophe, stimmt’s?«
Eher gleich fünfzehn bis zwanzig, flüstere ich.
»Nichts da«, sagt der Mund. »Du entwickelst dich wie alle anderen, denen ich jemals vertraut habe«, sagt sie. »Du wirst gierig.«
Ich will doch nur Menschen retten.
»Du bist gierig und stur.«
Ich will Menschen vor Katastrophen retten.
»Du bist wie ein Hund, der Männchen macht.«
Ich mache das nur, damit ich mich umbringen kann.
»Ich will nicht, dass du stirbst.«
Warum?
»Warum was?«
Warum will sie, dass ich lebe? Etwa, weil sie mich mag?
»Nein«, sagt der Mund. »Ich hasse dich zwar auch nicht, aber ich brauche dich.«
Aber sie mag mich nicht?
Der Mund sagt: »Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, wie langweilig es ist, ich zu sein? Immer alles schon von weitem kommen zu sehen? Das ist kaum zu ertragen. Nicht nur für mich allein.«
Der Mund sagt: »Das ödet uns alle an.«
Die Wand sagt: Ich habe Sandy Moore gefickt.
Rund herum haben zehn andere gekratzt: Ich auch.
Und dazu hat ein anderer gekratzt: Hat hier irgendwer Sandy Moore nicht gefickt?
Und daneben steht: Ich.
Und daneben steht: Schwuchtel.
»Wir alle sehen dieselben Sendungen im Fernsehen«, sagt der Mund. »Wir alle hören dieselben Sendungen im Radio, wir alle sagen einander dieselben Sachen. Es gibt keine Überraschungen mehr. Immer nur dasselbe. Nur noch Wiederholungen.«
Die roten Lippen in dem Loch sagen: »Wir alle sind mit denselben Fernsehsendungen aufgewachsen. Uns allen ist dasselbe künstliche Gedächtnis eingepflanzt. An unsere wirkliche Kindheit haben wir so gut wie keine Erinnerung, dafür erinnern wir uns an Begebenheiten aus allen möglichen Fernsehserien. Wir alle haben dieselben Ziele. Wir alle haben dieselben Ängste.«
Die Lippen sagen: »Die Zukunft ist nicht strahlend.«
»Schon bald werden wir alle zur selben Zeit dieselben Gedanken haben. Wir werden alle gleich sein. Synchron. Vereinheitlicht. Identisch. Wie Ameisen. Insektenhaft. Wie Schafe.«
Alles kommt aus zweiter Hand.
Wir sind Wiederkäuer.
»Die große Frage, die die Leute stellen, lautet nicht: ›Was ist das Wesen unserer Existenz?‹«, sagt der Mund. »Die große Frage, die die Leute stellen, lautet: ›Wo kommt das her?‹«
Ich lauschte dem Loch, wie ich den Beichten der Leute am Telefon gelauscht habe, wie ich an den Grabnischen nach Lebenszeichen gelauscht habe. Ich fragte sie, warum sie mich denn braucht.
»Weil du in einer anderen Welt aufgewachsen bist«, sagt der Mund.
»Weil höchstens du mich noch überraschen kannst. Du gehörst nicht zur Massenkultur, noch nicht. Du bist meine einzige Hoffnung, dass ich noch einmal etwas Neues erlebe. Du bist der Märchenprinz, der diesen Bannfluch der Langeweile brechen kann. Diese Trance der tagtäglichen Eintönigkeit. Alles schon erlebt. Alles schon getan. Du bist eine Kontrollgruppe, die nur aus einem Menschen besteht.«
Aber nein, sage ich. Ich bin gar nicht so anders.
»Doch, das bist du«, sagt der Mund. »Und dass du anders bleibst, ist meine einzige Hoffnung.«
Dann gib mir deine Prophezeiungen.
»Nein.«
Warum?
»Weil ich dich dann nie wiedersehen würde. Die Welt der Menschen würde dich verschlingen, und ich würde dich verlieren. Von jetzt an gebe ich dir pro Woche nur noch eine Prophezeiung.«
Und wie?
»So«, sagt der Mund. »So wie jetzt. Und keine Sorge. Ich werde dich finden.«