Kapitel 32
Nächste Woche soll eine Tankstelle explodieren. Aus einer Tierhandlung werden alle Kanarienvögel entweichen, der komplette Bestand von Hunderten von Kanarienvögeln. Fertility hat das alles in zahlreichen Träumen vorhergesehen. In einem Hotel gibt es eine undichte Wasserleitung. Seit Wochen rinnt das Wasser ins Mauerwerk, löst Mörtel, lässt Holz faulen und Metall rosten, und am nächsten Dienstag um fünfzehn Uhr und vier Minuten wird der riesige Kristallkronleuchter im Foyer von der Decke krachen.
In ihrem Traum prasseln Bleikristallsplitter herab, dann steigen Wolken von Mörtelstaub auf. Irgendein Träger reißt einer rostigen Schraube den Kopf ab. In Fertilitys Traum landet der Schraubenkopf, plopp, auf dem Teppich neben einem alten Mann und seinem Koffer. Er hebt den Schraubenkopf auf, dreht ihn auf der Handfläche hin und her und betrachtet eingehend den Rost und den glänzenden Stahl im Innern der Bruchstelle.
Eine Frau, die ihren Koffer auf Rädern hinter sich herzieht, bleibt neben dem Mann stehen und fragt ihn, ob er in der Schlange wartet.
Der alte Mann sagt: »Nein.«
Die Frau sagt: »Danke.«
Der Mann hinterm Empfangsschalter schlägt auf die Glocke und sagt: »Page!«
Ein Page tritt vor.
In diesem Augenblick stürzt der Kronleuchter ab.
So exakt sind Fertilitys Träume, und in jedem weiteren Traum achtet sie auf andere Einzelheiten. Die Frau trägt ein rotes Kostüm, Jacke und Rock mit einem goldenen Kettengürtel von Christian Dior. Der alte Mann hat blaue Augen. An der Hand, die den Schraubenkopf hält, glänzt ein goldener Ehering. Der Page hat ein Piercing im Ohr, aber den Ohrring trägt er jetzt nicht.
Hinter dem Empfangschef, sagt Fertility, steht eine komplizierte französische Barockuhr in einem verschnörkelten Glassturz mit vergoldeter Bleifassung; das Ziffernblatt wird von Muscheln und Delphinen getragen. Die Uhr zeigt vier Minuten nach drei.
Das alles hat Fertility mir mit geschlossenen Augen erzählt. Ob sie sich wirklich daran erinnert oder das alles nur erfunden hat, konnte ich nicht beurteilen.
Erster Brief an die Thessalonicher, Kapitel fünf, Vers zwanzig:
»… die Weissagung verachtet nicht.«
Der Kronleuchter wird in der Sekunde seines Falls ausgehen, und alle, die darunter stehen, werden den Blick nach oben wenden. Was danach geschieht, kann sie nicht sagen. An der Stelle wacht sie jedes Mal auf. Da enden die Träume immer, in dem Moment, in dem der Kronleuchter fällt oder das Flugzeug abstürzt. Oder der Zug entgleist. Der Blitz einschlägt. Die Erde bebt.
Sie führt jetzt einen Kalender bevorstehender Ereignisse. Den zeigt sie mir. Ich zeige ihr den Terminkalender meiner Arbeitgeber. Für nächste Woche stehen bei ihr an: die Explosion in der Bäckerei, die Flucht der Kanarienvögel, der Tankstellenbrand, der Kronleuchter im Hotel. Fertility sagt, ich soll mir was aussuchen. Wir werden dann was zu essen mitnehmen und uns einen schönen Tag machen.
Bei mir steht für die nächste Woche an: den Rasen mähen, zweimal. Das Kaminbesteck aus Messing polieren. Die Verfallsdaten aller im Gefrierschrank eingelagerten Lebensmittel überprüfen. Die Konservendosen im Vorratsraum umstellen. Meinen Arbeitgebern Geschenke zum Hochzeitstag besorgen, die sie sich gegenseitig überreichen wollen.
Ich sage: Klar, ich mache alles mit.
Das war kurz nachdem die Feuerwehrleute uns, Cha-Cha-Cha tanzend und völlig unversehrt, in der ausgebrannten Damenbekleidungsabteilung entdeckt hatten. Sie nahmen unsere Aussagen zu Protokoll, ließen uns Versicherungsformulare unterschreiben, die sie jeder Verantwortung entbanden, und begleiteten uns dann nach unten auf die Straße. Als wir wieder draußen sind, frage ich Fertility: Warum?
Warum ruft sie vor so einer Katastrophe nicht irgendwo an und warnt die Leute davor?
»Weil niemand schlechte Neuigkeiten hören will«, sagt sie schulterzuckend. »Wenn Trevor solche Träume hatte, hat er die Leute jedes Mal gewarnt, aber das hat ihm immer bloß Schwierigkeiten eingebracht.«
Niemand habe an eine so unglaubliche Gabe glauben wollen, sagt sie. Man habe Trevor als Terroristen und Brandstifter verdächtigt und angezeigt.
Als Pyromanen, wie es im Statistischen Manual psychischer Störungen heißt.
In einem anderen Jahrhundert hätte man ihn der Zauberei beschuldigt.
Also hat Trevor sich umgebracht.
Mit etwas Unterstützung durch meine Wenigkeit.
»Und deswegen sage ich den Leuten nichts mehr«, sagt Fertility. »Wenn ein Waisenhaus abbrennen würde, ja, dann würde ich vielleicht was sagen. Aber diese Leute haben meinen Bruder umgebracht. Wüsste nicht, warum ich denen irgendeinen Gefallen tun sollte.«
Ich könnte also auch Menschenleben retten, indem ich Fertility jetzt die Wahrheit sagte, dass ich ihren Bruder getötet habe. Aber das tue ich nicht. Wir sitzen schweigend an der Bushaltestelle, bis ihr Bus um die Ecke biegt. Sie schreibt mir ihre Telefonnummer auf einen Kassenzettel, den sie vom Boden aufgehoben hat. Mit dem Zettel kann ich über dreihundert Dollar machen, wenn ich ihn in den Laden zurückbringe und meine Masche abziehe. Fertility sagt, ich soll mir eine Katastrophe aussuchen und sie dann anrufen. Und schon nimmt der Bus sie mit zur Arbeit, zum Abendessen, zum Träumen, was weiß ich.
Meinem Terminkalender zufolge staube ich jetzt Fußleisten ab. Ich schneide die Hecken. Ich mähe den Rasen. Ich reinige die Autos. Eigentlich müsste ich jetzt bügeln, aber ich weiß, dass das die Sozialarbeiterin für mich erledigt.
Dem Statistischen Manual psychischer Störungen zufolge müsste ich jetzt in einen Laden gehen und etwas stehlen. Irgendwelche aufgestauten sexuellen Energien abarbeiten.
Fertility zufolge müsste ich jetzt ein Lunchpaket packen, das wir verzehren wollen, während wir dabei zusehen, wie irgendwelche Leute ums Leben kommen. Ich sehe uns beide auf einem samtenen Zweiersofa im Foyer des Hotels, Dienstagnachmittag, wir sitzen in der ersten Reihe und schlürfen Tee.
Der Bibel zufolge müsste ich, ich weiß nicht was.
Der credistischen Lehre zufolge müsste ich tot sein.
Da mir nichts von all dem sonderlich zusagt, gehe ich einfach nur so in der Stadt herum. Vor der Bäckerei riecht es nach Brot; in fünf Tagen, sagt Fertility, wird es hier einen Knall geben. In der Tierhandlung flattern Hunderte von Kanarienvögeln in ihrem stinkenden, überfüllten Käfig hin und her. Nächste Woche werden sie alle frei sein. Und was dann? Bleibt in eurem Käfig, möchte ich ihnen sagen. Es gibt Besseres als Freiheit. Es gibt Schlimmeres, als ein langes langweiliges Leben im Haus irgendeines Fremden zu führen und nach dem Tod in den Kanarienhimmel einzugehen.
An der Tankstelle, die nach Fertilitys Voraussage explodieren wird, arbeiten die Tankwarte an den Zapfsäulen; sie wirken recht zufrieden, jedenfalls nicht unzufrieden, sie sind jung, sie wissen nicht, dass sie, je nachdem, wer in welche Schicht eingeteilt wird, nächste Woche tot oder arbeitslos sind.
Es wird ziemlich schnell dunkel.
Vor dem Hotel: Hinter den großen Fenstern des Foyers lauert der Kronleuchter über potenziellen Opfern. Eine Frau mit einem Mops an der Leine. Eine Familie: Mutter, Vater, drei kleine Kinder. Die Uhr hinterm Empfang zeigt an, dass es noch lange währt bis nächsten Dienstag fünfzehn Uhr vier. Man könnte noch tagelang gefahrlos dort stehen, nur eine Sekunde darüber hinaus wäre nicht ratsam.
Man könnte an den Portiers mit ihren goldenen Tressen vorbei hineingehen, um dem Geschäftsführer zu sagen, dass sein Kronleuchter abstürzen wird.
Alle seine Lieben werden sterben.
Auch er wird eines Tages sterben.
Gott wird wiederkehren und Gericht über uns halten.
Seine Sünden werden ihn in die Hölle jagen.
Man kann den Menschen die Wahrheit sagen, aber sie glauben einem erst, wenn das Ereignis eingetreten ist. Wenn es zu spät ist. Bis dahin geht ihnen die Wahrheit bloß auf den Sack und bringt einem jede Menge Ärger ein.
Also gehe ich einfach nach Hause.
Ich muss das Abendessen vorbereiten. Ein Hemd für morgen bügeln. Schuhe putzen. Den Abwasch machen. Neue Rezepte ausprobieren.
Für die so genannte Hochzeitssuppe braucht man sechs Pfund Knochenmark. Dieses Jahr sind innere Organe in. Meine Arbeitgeber essen ganz vorn mit. Niere. Leber. Aufgeblasene Schweineblasen. Den Zwischenmagen der Kuh, gefüllt mit Brunnenkresse und Fenchel à la Wiederkäuer. Sie wollen Tiere, die mit den unwahrscheinlichsten anderen Tieren gefüllt sind, Huhn gefüllt mit Kaninchen. Karpfen gefüllt mit Schinken. Gans gefüllt mit Lachs.
Es gibt so vieles, was ich noch vervollkommnen muss.
Wenn man ein Steak in Speck wickelt, umhüllt man es mit Fettstreifen von einem anderen Tier; auf die Weise wird es beim Garen geschützt. Ich bin gerade damit beschäftigt, als das Telefon klingelt.
Natürlich ist es Fertility.
»Du hattest Recht mit diesem Verrückten«, sagt sie.
Ich frage: Womit?
»Mit diesem Kerl, Trevors Freund«, sagt sie. »Der braucht wirklich Hilfe. Ich habe mich mit ihm getroffen, genau wie du es gewollt hast, und hinter uns im Bus war einer von diesen Kulttypen. Das müssen Zwillinge sein. Sie haben sich jedenfalls ziemlich ähnlich gesehen.«
Vielleicht täuscht sie sich da ja, sage ich. Die meisten dieser Kultleute sind doch tot. Die waren verrückt und dumm, und fast alle sind inzwischen tot. Steht in der Zeitung. Alles, woran die geglaubt haben, hat sich als falsch herausgestellt.
»Der Typ im Bus hat ihn gefragt, ob es nicht sein kann, dass sie miteinander verwandt sind, aber Trevors Freund hat Nein gesagt.«
Dann waren sie eben nicht verwandt, sage ich. Man würde doch den eigenen Bruder erkennen.
»Das war ja das Traurige«, sagt Fertility. »Er hat ihn erkannt. Er hat sogar einen Namen genannt, Brad oder Tim oder so was.«
Adam.
Ich sage: Und warum ist das traurig?
»Weil die Lüge so offensichtlich und kläglich war«, sagt sie. »Er versucht ganz eindeutig, als normaler glücklicher Mensch aufzutreten. Das war so traurig, dass ich ihm sogar meine Telefonnummer gegeben habe. Also, ich will ihm irgendwie helfen, seine Vergangenheit zu akzeptieren. Außerdem«, sagt Fertility, »habe ich das Gefühl, dass er gewaltig in der Scheiße steckt.«
Was denn für eine Scheiße, frage ich. Wie meint sie das?
»Unglück«, sagt sie. »Das Ganze ist noch ziemlich undeutlich für mich. Katastrophen. Schmerzen. Massenmord. Frag mich nicht, woher ich das weiß. Das ist eine lange Geschichte.«
Ihre Träume. Die Tankstelle, die Kanarienvögel, der Kronleuchter im Hotel, und jetzt ich.
»Pass auf«, sagt sie. »Wir müssen noch besprechen, wie wir uns mal treffen können. Aber nicht jetzt.«
Warum?
»In meinem schlimmen Job geht es zur Zeit ziemlich hoch her. Falls also jemand bei dir anruft, der sich Dr. Ambrose nennt, und dich fragt, ob du Gwen kennst, sag einfach, du kennst mich nicht. Sag ihm, wir sind uns noch nie begegnet, okay?«
Gwen?
Ich frage: Wer ist Dr. Ambrose?
»Das ist nur sein Name«, sagt Fertility. Sagt Gwen. »Er ist kein richtiger Arzt, glaube ich. Eher so was wie mein Manager. Eigentlich will ich das gar nicht machen, aber ich habe einen Vertrag mit ihm.«
Ich frage, was das für ein Vertrag ist.
»Nichts Illegales. Ich hab das alles unter Kontrolle. So ziemlich.«
Was denn?
Sie sagt es mir, und dann gehen die Alarmglocken und Sirenen los.
Ich fühle mich immer kleiner.
Die Alarmglocken und Blaulichter und Sirenen sind überall.
Ich fühle mich immer weniger.
Hier im Cockpit von Flug 2039 ist soeben der erste der vier Motoren ausgegangen. Wir sind am Anfang vom Ende.