Kapitel 42

Ihr Name war Fertility Hollis. So hieß sie wirklich, ohne Quatsch, und ich brenne darauf, meiner Sozialarbeiterin am nächsten Tag von ihr zu erzählen.

Entsprechend den Vorschriften habe ich mich einmal wöchentlich für eine Stunde mit meiner Sozialarbeiterin zu treffen. Im Gegenzug erhalte ich Übernachtungsgutscheine. Das Programm berechtigt mich zum Empfang von Unterhaltszuschüssen. Käse, Milchpulver, Honig und Butter auf Kosten der Regierung. Jobvermittlung gratis. Und das sind nur einige der Vergünstigungen, die das staatliche Hilfsprogramm für Überlebende zu bieten hat. Meine schäbige kleine Wohnung und Käsereste. Mein schäbiger kleiner Job, der mir erlaubt, massenhaft Kalbsfleisch im Bus nach Hause zu schmuggeln. Es reicht gerade aus, um über die Runden zu kommen.

Man bekommt nichts wirklich Gutes, man bekommt keinen Behindertenparkausweis, aber einmal die Woche bekommt man für eine Stunde eine Sozialarbeiterin. Meine fährt jeden Dienstag in ihrem unscheinbaren Dienstwagen vor dem Haus vor, in dem ich arbeite, ausgestattet mit professionellem Mitgefühl und den Akten zu meiner Vorgeschichte und ihrem Fahrtenbuch, in das sie die von Klient zu Klient zurückgelegten Kilometer einträgt. Diese Woche hat sie vierundzwanzig Klienten. Letzte Woche hatte sie sechsundzwanzig.

Jeden Dienstag kommt sie und hört mir zu.

Jede Woche frage ich sie, wie viele Überlebende landesweit noch übrig sind.

Sie sitzt in der Küche und macht sich über Daiquiris und Tortillachips her. Die Schuhe hat sie weggetreten, ihre mit Klientenakten voll gestopfte Stofftragetasche liegt zwischen uns auf dem Tisch; sie packt ein Klemmbrett aus, blättert in den Formularen für die Wochenberichte herum und legt meines schließlich nach oben. Sie fährt mit der Fingerspitze über eine Zahlenkolonne und sagt: »Einhundertsiebenundfünfzig Überlebende. Landesweit.«

Sie trägt das Datum ein, sieht auf die Uhr und notiert die Zeit auf meinem wöchentlichen Meldeformular. Sie hält mir das Klemmbrett hin, damit ich den Eintrag kontrolliere und mit meiner Unterschrift bestätige. Zum Beweis, dass sie hier war. Dass wir miteinander geredet haben. Sie hat mir einen Bleistift gegeben. Wir haben unsere Herzen ausgeschüttet. Höre mich, heile mich, rette mich, glaube mir. Es ist nicht ihre Schuld, wenn ich mir, nachdem sie gegangen ist, den Hals aufschneide.

Während ich unterschreibe, fragt sie mich: »Haben Sie die Frau hier in der Straße gekannt, die in dem großen graubraunen Haus gearbeitet hat?«

Nein. Ja. Okay, ich weiß, wen sie meint.

»Eine große Frau. Langes blondes Haar, zu einem dicken Zopf gebunden. Eine echte Brünhild«, sagt die Sozialarbeiterin. »Na ja, die ist vor zwei Tagen ausgestiegen. Hat sich nachts mit einer Verlängerungsschnur erhängt.« Die Sozialarbeiterin studiert ihre Fingernägel, die Finger erst in die Handfläche gedrückt, dann auseinander gespreizt. Dann wühlt sie wieder in ihrer Stofftasche und holt ein Fläschchen mit knallrotem Nagellack hervor. »Tja«, sagt sie. »Die wäre ich los. War mir sowieso immer unsympathisch.«

Ich gebe ihr das Klemmbrett zurück und frage: Sonst noch jemand?

»Ein Gärtner«, sagt sie. Sie hält sich die kleine Flasche mit dem knallroten Inhalt und dem länglichen weißen Schraubverschluss ans Ohr und schüttelt sie. Mit der anderen Hand blättert sie suchend in den Formularen herum. Dann zeigt sie mir das Meldeblatt von Klient Nummer 134, auf dem ein großer roter Stempel prangt: ENTLASSEN. Darunter das Datum.

Der Stempel ist ein Überbleibsel von einem Programm zur stationären Behandlung. Dort bedeutete ENTLASSEN, dass ein Klient nach Hause gehen konnte. Jetzt bedeutet es, dass ein Klient tot ist. Aber einen Stempel mit dem Wort TOT wollte man nicht anfertigen lassen. Das hat mir die Sozialarbeiterin vor ein paar Jahren erzählt, als die Sache mit den Selbstmorden wieder losging. Asche zu Asche. Staub zu Staub. Typischer Fall von Recycling.

»Er hat irgendein Herbizid geschluckt«, sagt sie. Sie dreht mit beiden Händen an der Flasche. Dreht. Dreht, bis ihr die Knöchel weiß hervortreten. »Diese Leute tun alles«, sagt sie, »um mich als Niete dastehen zu lassen.«

Sie schlägt die Flasche an die Tischkante und versucht dann noch einmal, sie aufzudrehen. »Hier«, sagt sie und reicht sie mir über den Tisch. »Könnten Sie das für mich aufmachen?«

Ich mache die Flasche auf, kein Problem, und gebe sie ihr zurück.

»Haben Sie die beiden gekannt?«, fragt sie mich.

Hm, nein. Gekannt habe ich sie nicht. Ich weiß, wer sie waren, aber ich kenne sie nicht von damals. Ich bin zwar nicht mit ihnen aufgewachsen, habe sie aber in den vergangenen Jahren ab und zu mal hier in der Gegend gesehen. Sind immer noch in den von der Kirche vorgeschriebenen Kleidern rumgelaufen. Der Mann mit Hosenträgern, weiter Hose und langärmligem Hemd, dessen Kragenknopf auch an den heißesten Sommertagen geschlossen war. Die Frau in dem mausgrauen Kittel, den die Credistinnen meines Wissens als Kleid zu tragen hatten. Auf dem Kopf das Häubchen. Der Mann trug immer den vorschriftsmäßigen breitkrempigen Hut, Stroh im Sommer, schwarzer Filz im Winter.

Ja. Okay. Die sind mir gelegentlich über den Weg gelaufen. Waren ja auch kaum zu übersehen.

»Als Sie sie gesehen haben«, sagt die Sozialarbeiterin, während sie sich mit dem kleinen Pinsel, rot auf rot, über die Fingernägel streicht, »waren Sie da aufgeregt? Oder haben Sie Trauer empfunden, wenn Sie Leute aus Ihrer alten Kirche gesehen haben? Haben Sie geweint? Oder hat es Sie vielleicht wütend gemacht, wenn Sie Leute in der Kleidung gesehen haben, die damals von Ihrer Kirche vorgeschrieben war?«

Das Telefon klingelt.

»Erinnert Sie das an Ihre Eltern?«

Das Telefon klingelt.

»Macht es Sie wütend, was aus Ihrer Familie geworden ist?«

Das Telefon klingelt.

»Erinnern Sie sich noch an die Zeit vor den Selbstmorden?«

Das Telefon klingelt.

»Wollen Sie nicht rangehen?«, sagt die Sozialarbeiterin.

Gleich. Erst muss ich aber in meinem Terminkalender nachsehen. Ich halte ihr das dicke Buch hin, damit sie die Liste all der Dinge sieht, die ich heute noch zu erledigen habe. Meine Arbeitgeber rufen mich an, weil sie mir ein Bein stellen wollen. Gott behüte, dass ich im Haus bin und ans Telefon gehe, falls ich genau in dieser Minute draußen sein sollte und den Pool reinigen müsste.

Das Telefon klingelt.

Laut Terminkalender müsste ich jetzt die Vorhänge im blauen Gästezimmer dämpfen. Was auch immer das sein soll.

Die Sozialarbeiterin mampft Tortillachips, und ich mache ihr ein Zeichen, dass sie leise sein soll.

Das Telefon klingelt, und ich gehe ran.

Der Lautsprecher schreit: »Was können Sie uns über das Bankett heute Abend sagen?«

Immer mit der Ruhe, sage ich. Nichts Kompliziertes. Lachs ohne Gräten. Karotten, mundgerecht geschnitten. Geschmorte Endivien.

»Was ist das denn?«

Zerkochte Blätter, sage ich. Die essen Sie mit der kleinen Gabel, die ganz links außen liegt. Zinken nach unten. Geschmorte Endivien kennen Sie bereits. Ich weiß, dass Sie geschmorte Endivien kennen. Die haben Sie voriges Jahr auf einer Weihnachtsparty gegessen. Die haben Ihnen sehr gut geschmeckt. Nehmen Sie nur drei Bissen, sage ich in das Freisprechtelefon. Ich verspreche Ihnen, Sie werden begeistert sein.

Der Lautsprecher fragt: »Könnten Sie die Flecken von der Kaminumrandung entfernen?«

Meinem Terminkalender zufolge steht diese Arbeit erst morgen an.

»Oh«, sagt der Lautsprecher. »Das haben wir vergessen.«

Ja. Klar. Das habt ihr vergessen.

Drecksbande.

Man könnte mich den perfekten Diener nennen, aber das wäre völlig daneben.

»Sonst noch was, was wir wissen sollten?«

Heute ist Muttertag.

»O Scheiße. Mist, verfluchter!«, sagt der Lautsprecher. »Haben Sie was geschickt? Oder müssen wir das erledigen?«

Selbstverständlich. Ich habe ihren Müttern jeweils einen schönen Blumenstrauß geschickt, und der Florist bucht den Betrag von ihrem Konto ab.

»Was haben Sie auf die Karte geschrieben?«

Ich habe geschrieben:

Meiner innig geliebten Mutter an die ich immer in Liebe denke. Dein liebender Sohn/Deine liebende Tochter hat nie eine Mutter gehabt, die ihn/sie mehr geliebt hat. In tiefster Liebe. Und dann die jeweilige Unterschrift.

Und als PS: Eine Trockenblume ist so reizend wie eine frische.

»Klingt gut. Das müsste die mal wieder für ein Jahr ruhig stellen«, sagt der Lautsprecher. »Denken Sie daran, alle Blumen auf der Sonnenveranda zu gießen. Das steht im Terminkalender.«

Dann legen sie auf. Die brauchen mich eigentlich nie an irgendetwas zu erinnern. Müssen einfach nur immer das letzte Wort behalten.

Juckt mich aber nicht.

Die Sozialarbeiterin wedelt sich mit den frisch lackierten Fingernägeln vor dem Mund herum und bläst sie trocken. Zwischendurch fragt sie: »Ihre Familie?«

Bläst wieder auf die Nägel.

»Ihre Mutter?«, fragt sie.

Bläst auf die Nägel.

»Denken Sie noch an Ihre Mutter?«

Bläst auf die Nägel.

»Glauben Sie, sie hat etwas gespürt?«

Bläst auf die Nägel.

»Das heißt, als sie sich getötet hat?«

Matthäus, Kapitel vierundzwanzig, Vers dreizehn:

»Wer aber beharret bis ans Ende, der wird selig.«

Meinem Terminkalender zufolge müsste ich noch den Filter der Klimaanlage reinigen. Im grünen Wohnzimmer Staub wischen. Die Messingtürknäufe polieren. Die alten Zeitungen zum Papiercontainer bringen.

Die Stunde ist fast abgelaufen, und wieder bin ich nicht dazu gekommen, über Fertility Hollis zu reden. Wie wir uns in dem Mausoleum kennen gelernt haben. Eine Stunde lang gingen wir dort herum, und sie erzählte mir von den verschiedenen Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts und wie die jeweils den gekreuzigten Jesus abgebildet hätten. Im ältesten Flügel des Mausoleums, dem Zufriedenheits-Flügel, ist Jesus ausgemergelt und romantisch, da hat er große feuchte Frauenaugen mit langen Wimpern. In dem nach 1930 erbauten Flügel ist Jesus ein sozialistischer Realist mit den gewaltigen Muskeln eines Superhelden. In den vierziger Jahren, im Heiterkeits-Flügel, wird Jesus zu einer abstrakten Montage aus Flächen und Würfeln. In den fünfziger Jahren ist Jesus poliertes Obstbaumholz, ein Skelett der dänischen Moderne. In den Sechzigern ist Jesus aus Treibholz zusammengenagelt.

Die Siebziger haben keinen eigenen Flügel, und in dem der Achtzigerjahre gibt es keinen Jesus, nur profane Oberflächen aus glänzendem Messing und grünem Marmor wie in einem Warenhaus.

Wir streiften durch Zufriedenheit, Heiterkeit, Friede, Freude, Erlösung, Verzückung und Verzauberung, und Fertility erzählte mir von Kunst.

Sie sagte, ihr Name sei Fertility Hollis.

Ich sagte, ich sei Tender Branson. Das entspricht so ziemlich dem, was man meinen richtigen Namen nennen könnte.

Von jetzt an wird sie die Grabnische ihres Bruders jede Woche besuchen. Nächsten Mittwoch ist sie wieder da, hat sie mir versprochen.

»Das ist jetzt zehn Jahre her«, sagt die Sozialarbeiterin. »Möchten Sie nicht endlich einmal von Ihren Gefühlen gegenüber Ihrer toten Familie sprechen?«

Tut mir Leid, sage ich, aber ich muss jetzt wirklich wieder an die Arbeit. Ich sage ihr, unsere Stunde sei vorbei.