Kapitel 38

Zu meinem Job gehören auch Gartenarbeiten. Zuerst sprühe ich alles, sowohl Unkraut als auch die richtigen Blumen, mit dem Zweifachen der empfohlenen Giftmenge ein. Dann bringe ich die Beete mit den künstlichen Blumen in Ordnung, Salbei und Stockrosen. Für dieses Jahr schwebt mir ein Landhausgarten vor. Voriges Jahr habe ich einen künstlichen französischen Garten angelegt. Davor war es ein japanischer Garten, ausschließlich aus Plastikblumen. Ich brauche nur alle Blumen herauszureißen. Ich sortiere sie und stecke sie wieder zu einem neuen Muster zusammen. Die Pflege ist ein Kinderspiel. Ausgebleichte Blüten werden mit roter oder gelber Sprühfarbe wieder aufgepäppelt.

Mit ein wenig Klarlack oder Haarspray kann man verhindern, dass Seidenblüten am Rand ausfransen.

Der Staub auf der falschen Schafgarbe und der künstlichen Brunnenkresse muss mit dem Schlauch abgespritzt werden. Die Plastikblüten, die ich mit Draht an den vergifteten toten Skeletten der ursprünglichen Rosensträucher befestigt habe, brauchen einen frischen Spritzer Parfüm.

Wenn es an die Rosen geht, schütte ich zuerst das Gift aus dem Sprühkanister und fülle ihn dann mit zwölf Litern Wasser, das mit einer halben Flasche Eternity von Calvin Klein versetzt ist. Die Maßliebchen besprühe ich mit in Wasser gelöster Vanille aus der Küche. Die künstlichen Astern bekommen Eau de Cologne. Für die meisten anderen Blumen nehme ich Raumspray mit Blütenduft. Den künstlichen Zitronenthymian sprühe ich mit Möbelpolitur mit Zitrusaroma ein.

Bei meiner Werbung um Fertility Hollis verfolge ich die Strategie, mich absichtlich hässlich zu machen, und dass ich mich schmutzig mache, ist da erst der Anfang. Ein bisschen ungepflegt erscheinen. Es ist zwar gar nicht so einfach, bei der Gartenarbeit richtig schmutzig zu werden, wenn man nie mit der Erde in Berührung kommt, aber immerhin riecht meine Kleidung nach Gift, und ich habe einen leichten Sonnenbrand auf der Nase. Mit dem Drahtstiel einer Plastik-Kalla zerstoße ich eine Hand voll harter Erde, die ich dann in meinen Haaren verteile. Ich reibe mir auch Schmutz unter die Fingernägel.

Gott behüte, dass ich mir Mühe gebe, für Fertility gut auszusehen. Mein Aussehen zu verbessern – das wäre die schlechteste Strategie, die ich einschlagen könnte. Es wäre ein großer Fehler, mich herauszuputzen – mir die Haare zu kämmen, mir womöglich gar ein paar schicke Kleider von meinem Arbeitgeber auszuborgen, etwa ein pastellfarbenes Baumwollhemd oder so, mir die Zähne zu putzen, Deodorant aufzutragen oder wie die das nennen –, um in diesem Aufzug zu meiner zweiten Verabredung ins Columbia Memorial Mausoleum zu gehen: Ich wäre dann nämlich immer noch hässlich, nur dass man mir ansehen würde, dass ich mich sehr bemüht habe, einen guten Eindruck zu machen.

Das wär’s also bei mir. Besser geht’s nicht. Friss oder stirb.

Als ob es mir nicht egal wäre, was sie denkt.

Ein gutes Aussehen gehört nicht zum großen Plan. Mein Plan besteht darin, den Eindruck von brachliegendem Potenzial zu erwecken. Ich will natürlich erscheinen. Sozusagen als Rohstoff. Nicht verzweifelt und bedürftig, sondern voller Möglichkeiten. Nicht hungrig. Klar, ich will so aussehen, als wäre ich der Mühe wert. Gewaschen, aber nicht gebügelt. Sauber, aber nicht poliert. Selbstbewusst, aber bescheiden.

Ich möchte einen ehrlichen Eindruck erwecken. Die Wahrheit glänzt und glitzert nicht.

Ich will durch passive Aggressivität wirken.

Die Hässlichkeit soll mir zum Vorteil gereichen. Die ungünstige Ausgangslage soll mit meinem späteren Ich kontrastieren. Vorher und nachher. Frosch und Prinz.

Es ist Mittwochnachmittag, zwei Uhr.

Dem Terminkalender folgend drehe ich jetzt den Orientteppich im rosa Salon herum, damit die Abnutzung sich gleichmäßig verteilt. Dazu muss man sämtliche Möbel in ein anderes Zimmer bringen, auch das Klavier. Den Teppich zusammenrollen. Die Teppichunterlage zusammenrollen. Staubsaugen. Den Boden nass aufwischen. Der Teppich ist vier mal fünf Meter groß. Dann die Unterlage umdrehen und ausrollen. Den Teppich umdrehen und ausrollen. Die Möbel wieder reinschleppen.

Laut meinem Terminkalender dürfte ich dafür nicht länger als eine halbe Stunde brauchen.

Stattdessen klopfe ich die Trittspuren im Teppich nur aus und kämme die Fransen, die meine Arbeitgeber hoffnungslos verwirrt haben. Dafür verwirre ich die Fransen auf der gegenüberliegenden Seite, sodass es aussieht, als hätte ich den Teppich gedreht. Dann verrücke ich die Möbel, aber nur ganz wenig, und lege Eiswürfel in die Dellen des Teppichs. Wenn das Eis schmilzt, wird der Flor an den eindrückten Stellen sich wieder aufrichten.

Ich wetze mir den Glanz von den Schuhen. Vor dem Schminkspiegel meiner Arbeitgeberin bohre ich mir mit ihrem Mascarastift in der Nase herum, bis die Nasenhaare schön schwarz und buschig aussehen. Dann nehme ich den Bus.

Das Hilfsprogramm für Überlebende stellt einem auch kostenlose Monatskarten für den Bus zur Verfügung. Hinten drauf ist gestempelt: Eigentum des Sozialamts.

Nicht übertragbar.

Auf der Fahrt zum Mausoleum sage ich mir immer wieder, dass es mir scheißegal ist, ob Fertility kommt oder nicht.

In meinem Kopf spulen sich eine Menge halb vergessener Credistengebete ab. Meine Gedanken sind ein Brei aus alten Gebeten und Anrufungen.

 

Lass mich ein untertänigster Diener sein.

Jede Arbeit sei mir eine Zier.

Jede Mühe bringt mich der Erlösung näher.

Lass meinen Schweiß nicht vergebens sein.

Durch meine Werke will ich die Welt erretten.

 

In Wirklichkeit denke ich: O bitte, o bitte, o bitte, mach, dass Fertility Hollis heute Nachmittag da ist.

In der Eingangshalle des Mausoleums läuft die übliche billige Reproduktion von eigentlich schöner Musik, damit man sich nicht so einsam fühlt. Es sind immer dieselben zehn Lieder, aber nur die Musik, ohne Gesang. Die werden aber nur an bestimmten Tagen gespielt. In einigen der alten Galerien im Lauterkeitsund Neue-Hoffnung-Flügel wird überhaupt nie Musik gespielt. Man nimmt sie ohnehin auch sonst nur wahr, wenn man genau hinhört.

Musik als Tapete, als Gebrauchsgegenstand, als ein Mittel wie Fluoxetin oder Alprazolam, das die Gefühle kontrollieren soll. Musik als Raumspray zur Luftverbesserung.

Ich gehe durch den Heiterkeits-Flügel: Von Fertility ist nichts zu sehen. Ich gehe durch den Glaubens-, den Freude- und den Gelassenheits-Flügel, aber auch dort ist sie nicht. Ich klaue aus einer Grabnische ein paar Plastikrosen, um nicht mit leeren Händen dazustehen.

Mich überkommen schon Hass, Zorn, Angst und Resignation, aber dann, vor Grabnische 678 im Zufriedenheits-Flügel, erblicke ich Fertility Hollis mitsamt ihrem roten Haar. Nachdem ich bei ihr angekommen bin, wartet sie zweihundertundvierzig Sekunden, erst dann dreht sie sich um und sagt hallo.

Ausgeschlossen, dass sie dieselbe ist, die mir am Telefon einen Orgasmus ins Ohr geschrien hat.

Ich sage: Hallo.

Sie hält einen Strauß falscher Orangenblüten in den Händen, recht hübsch, aber nichts, was ich stehlen würde. Ihr heutiges Kleid ist aus einem Brokatstoff jener Art, aus der man auch Vorhänge macht, weiß mit weißem Muster. Es wirkt steif und schwer entflammbar. Flecken abweisend. Knitterfest. Bescheiden wie eine Brautmutter in ihrem Faltenrock und der langärmligen Bluse, sagt sie: »Fehlt er Ihnen auch so sehr?«

Ihre gesamte Erscheinung wirkt märtyrerfest.

Ich frage: Er? Wer?

»Trevor«, sagt sie. Sie steht barfuß auf dem Steinfußboden.

Ach so, Trevor, sage ich zu mir selbst. Mein heimlicher sodomitischer Geliebter. Hatte ich glatt vergessen.

Ich sage: Ja, mir fehlt er auch.

Ihre Haare sehen aus wie Heu, auf einer Wiese zusammengeharkt und zum Trocknen aufgehäuft. »Hat er Ihnen mal von der Kreuzfahrt erzählt, auf die er mich mitgenommen hat?«

Nein.

»Das war total illegal.«

Sie blickt von der Grabnische Nummer 678 zur Decke auf, von der aus kleinen Lautsprechern neben den gemalten Wolken und Engeln die Musik herniederrieselt.

»Als Erstes musste ich mit ihm in die Tanzschule. Dort haben wir Tänze wie Cha-Cha-Cha und Foxtrott gelernt. Rumba und Swing. Und Walzer. Walzer war einfach.«

Über uns spielen die Engel ihre Musik; sie scheinen Fertility Hollis etwas zu erzählen, weshalb sie eine Minute lang zuhört.

»Hier«, sagt sie und dreht sich zu mir um. Sie nimmt meine und ihre Blumen und legt sie an die Wand. »Sie können doch Walzer tanzen?«, fragt sie mich.

Falsch.

»Das ist ja nicht zu glauben: Sie kennen Trevor und wissen nicht, wie man Walzer tanzt«, sagt sie und schüttelt den Kopf.

In Gedanken sieht sie wohl Trevor und mich zusammen tanzen. Zusammen lachen. Analverkehr treiben. Das ist das Handicap, mit dem ich es zu tun habe, das und die Vorstellung, dass ich ihren Bruder getötet habe.

»Breiten Sie die Arme aus«, sagt sie.

Ich tue, wie mir geheißen.

Sie stellt sich ganz dicht vor mich und legt mir eine Hand in den Nacken. Mit der anderen nimmt sie meine Hand und streckt sie weit von uns weg. »Legen Sie mir Ihre anderen Hand auf den BH«, sagt sie.

Ich tue das.

»Auf meinem Rücken!«, sagt sie und dreht sich von mir weg. »Legen Sie die Hand auf meinen BH, da wo er mein Rückgrat kreuzt.«

Ich tue das.

Sie erklärt mir auch, wie ich erst den linken und dann den rechten Fuß nach vorn zu stellen habe und wie ich dann die Füße zusammenbringen muss, während sie das Ganze jeweils in entgegengesetzter Richtung tut.

»Der Tanz heißt Boxstep«, sagt sie. »Und jetzt achten Sie auf die Musik.«

Sie zählt: »Eins, zwei, drei.«

Die Musik macht: Eins. Zwei. Drei.

Wir zählen weiter und machen dazu jedes Mal einen Schritt. Wir tanzen. Die Blumen in all den Grabnischen ringsumher beugen sich zu uns herunter. Der Marmor unter uns wird immer glatter. Wir tanzen. Das Licht fällt durch die bunten Fenster. Die Statuen stehen gemeißelt in ihren Nischen. Die Musik kommt schwach aus den Lautsprechern und hallt zwischen den Mauern wider, bis die Töne und Akkorde uns von allen Seiten wie Luft oder Wasser umströmen. Und wir tanzen.

»Eins ist mir von der Kreuzfahrt noch in Erinnerung«, sagt Fertility und schmiegt den Arm in ganzer Länge an meinen. »Ich erinnere mich an die Gesichter der letzten Passagiere, als sie in ihren Rettungsbooten vor den Fenstern des Tanzsaals herabgelassen wurden. Die orangefarbenen Schwimmwesten umrahmten ihre Köpfe, dass es so aussah, als hätte man die Köpfe abgeschnitten und auf orangefarbene Kissen gelegt, und sie haben mit großen Fischaugen zu Trevor und mir hereingeschaut, die wir immer noch im Tanzsaal des Schiffes waren, während das Schiff schon zu sinken begann.«

Sie war auf einem untergehenden Boot?

»Schiff«, sagt Fertility. »Es hieß Ocean Excursion. Versuch das mal dreimal schnell hintereinander zu sagen.«

Und es ist untergegangen?

»Es war schön«, sagt sie. »Die Frau im Reisebüro hatte gesagt, wir sollten bloß nicht zurückkommen und uns beschweren. Es sei ein altes Schiff der French Line, hat sie zur Warnung noch gesagt, nur gehöre es jetzt irgendeiner südamerikanischen Gesellschaft. Ein Schiff im Art-déco-Stil. Hat ausgesehen wie das Chrysler Building, bloß in Seitenlage, und ist die ganze Atlantikküste von Südamerika rauf- und runtergefahren; die Passagiere waren alles Argentinier aus der unteren Mittelklasse, samt ihren Frauen und Kindern. Argentinier. Die Lampen an den Wänden waren alle aus rosa Glas, das wie riesige lanzettförmig geschliffene Diamanten ausgesehen hat. Das ganze Schiff war in dieses rosa Diamantenlicht getaucht, und die Teppiche waren voller Flecken und abgewetzter Stellen.«

Wir tanzen auf der Stelle, und dann beginnen wir zu kreisen.

Eins, zwei, drei, Boxstep. Das Vor und Zurück des Schleifschritts. Das Heben des Absatzes in perfekt kubanischem Schritt-zwei-drei. Ich kreise mit Fertility Hollis im Arm. Wir kreisen und kreisen, kreisen, und kreisen und kreisen.

Und Fertility erzählt, wie die Rettungsboote dann verschwunden waren. Alle Rettungsboote waren weg, und das Schiff zog das leere Tauwerk der Rettungsboote durch den entspannten karibischen Abend. Die Rettungsboote ruderten in den Sonnenuntergang, die Leute in ihren orangefarbenen Schwimmwesten bejammerten lautstark den Verlust ihrer Juwelen und Medikamente. Und sie machten das Kreuzzeichen.

Fertility und ich, eins, zwei, drei, Walzerschritt, zwei, drei über den Marmorboden.

In ihrer Geschichte tanzten Fertility und Trevor durch den Versailles-Saal, dessen Mahagoniparkett sich immer schiefer neigte, während der Bug versank und das Heck die beiden vierblättrigen Kleeblätter der Schiffsschrauben in den Abendhimmel reckte. Eine Schar kleiner vergoldeter Tanzsaalstühle huschte an ihnen vorüber und sammelte sich unter einer Statue der römischen Mondgöttin Diana. Schief hingen die goldenen Brokatvorhänge vor den Fenstern. Sie waren die letzten Passagiere an Bord der SS Ocean Excursion.

Die Turbinen liefen noch, die rosa Kronleuchter nämlich – »Ganz normale Kronleuchter«, sagt Fertility, »nur dass sie auf einem Ozeandampfer starr wie Eiszapfen von der Decke hängen« – die Kronleuchter im Versailles-Saal also strahlten noch, und die Lautsprecher überschwemmten das Schiff mit knisternder Musik: Ein Fahrstuhlwalzer reihte sich an den anderen, und Trevor und Fertility zogen endlos dazu ihre Kreise.

So wie Fertility und ich jetzt unsere Kreise ziehen, auf der Stelle treten und wieder Fußspitze an Fußspitze dutch das Mausoleum gleiten.

Unter Deck stieg die Karibik im Trianon-Speisesaal und nässte hundert leinene Tischtücher.

Das Schiff trieb antriebslos dahin.

Das warme blaue Wasser breitete sich in alle Richtungen bis zum Horizont aus.

Selbst unter dem bislang niedrigen Wasser wirkte der Schachbrettboden aus Mahagoni und Walnuss verloren und unerreichbar. Hier bot sich ein letzter Blick auf den Kontinent Atlantis: Das Salzwasser stieg um die Statuen und Marmorsäulen, als Trevor und Fertility an dieser Legende einer verschollenen Zivilisation vorbeitanzten, vorbei an vergoldetem Schnitzwerk und reich verzierten französischen Palasttischen. Der Meeresspiegel hob sich diagonal vor lebensgroßen Porträts von gekrönten Königinnen, während das Schiff sich noch steiler stellte und die Blumen aus den Vasen fielen: Rosen und Orchideen und Zieringwer stürzten ins Wasser, in dem Champagnerflaschen schaukelten und Trevor und Fertility Walzer tanzten.

Das Metallskelett des Schiffs, die Schotts hinter Holzvertäfelung und Wandbehängen bebten und ächzten.

Ich frage sie, ob sie da absichtlich habe ertrinken wollen.

»Sei nicht albern«, sagt Fertility; ihr Kopf liegt an meiner Brust, ihr Gifthauch hüllt mich ein. »Trevor hat sich nie geirrt. Das war ja das große Problem mit ihm.«

Was heißt das? Nie geirrt?

Trevor Hollis hatte Träume, sagt sie. Zum Beispiel träumte er von einem Flugzeugabsturz. Trevor setzte die Fluggesellschaft davon in Kenntnis, aber dort glaubte man ihm nicht. Dann stürzte das Flugzeug ab, worauf das FBI ihn festnahm und verhörte. Es war eben einfacher, ihn für einen Terroristen als für einen Hellseher zu halten. Derartige Träume bedrängten ihn so sehr, dass er kaum noch schlafen konnte. Er wagte es nicht mehr, die Zeitung zu lesen oder fernzusehen, weil er keine Flugzeugabstürze mit zweihundert Toten mehr voraussehen wollte, die er doch nicht verhindern konnte.

Er konnte keinen einzigen Menschen retten.

»Unsere Mutter hat sich umgebracht, weil sie auch immer solche Träume hatte«, sagt Fertility. »Selbstmord hat in unserer Familie eine alte Tradition.«

Immer noch tanzend sage ich zu mir selbst: Da haben wir wenigstens etwas gemeinsam.

»Er wusste, dass das Schiff nur halb untergehen würde. Irgendein Ventil oder so was würde versagen, und der Maschinenraum und einige der größeren Säle unter Deck würden voll Wasser laufen«, sagt Fertility. »Er wusste aus seinen Träumen, dass wir das ganze Schiff stundenlang für uns allein haben würden. Den Wein und das Essen, alles für uns allein. Bis man uns retten würde.«

Immer noch tanzend frage ich: Und deshalb hat er sich umgebracht?

Eine Minute lang antwortet mir nur die Musik.

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie schön das war: die überfluteten Tanzsäle, die Klaviere unter Wasser, all die bestickten Polsterstühle, die um uns herumschwammen«, sagt Fertility an meine Brust gelehnt. »Das ist die schönste Erinnerung, die ich habe, die allerschönste.«

Wir tanzen an Statuen vorbei, an den Heiligen einer anderen Religion. Für mich sind es nur steinerne Abbilder aufgemotzter Niemande.

»Das Wasser des Atlantiks war so klar. Es strömte die große Treppe herunter«, sagt sie. »Wir haben einfach die Schuhe ausgezogen und weitergetanzt.«

Immer noch tanzend, eins, zwei, drei, frage ich sie, ob sie auch solche Träume hat.

»Manchmal«, sagt sie. »Selten. Aber es werden immer mehr. Mehr als mir lieb ist.«

Ich frage sie, ob sie sich dann auch umbringen will so wie ihr Bruder.

»Nein«, sagt Fertility. Sie hebt den Kopf und lächelt mich an.

Wir tanzen, eins, zwei, drei.

»Kommt jedenfalls nicht in Frage, dass ich mich erschieße«, sagt sie. »Ich würde wahrscheinlich Pillen nehmen.«

Zu Hause habe ich in der Zuckerdose neben meinem Goldfisch auf dem Kühlschrank meinen Vorrat an Medikamenten, die mir die Regierung zur Verfügung stellt: Antidepressiva, Schlaftabletten, Stimmungsaufheller, Sedativa und MAO-Hemmer.

Wir tanzen, eins, zwei, drei.

»War nur ein Scherz«, sagt sie.

Wir tanzen.

Sie legt den Kopf wieder an meine Brust und sagt: »Kommt allerdings ganz darauf an, wie schlimm meine Träume noch werden.«