Kapitel 39

Vor ungefähr zehn Jahren hatte ich die erste Einzelsitzung mit meiner Sozialarbeiterin; die gibt es wirklich, sie hat einen Namen und ein Büro, aber ich will sie nicht in Schwierigkeiten bringen. Sie hat schon Probleme genug. Sie hat Sozialarbeit studiert. Sie ist fünfunddreißig Jahre alt und kann sich einen festen Freund nicht leisten. Vor zehn Jahren war sie fünfundzwanzig und gerade mit dem Studium fertig und konnte sich vor all den Klienten, die ihr im Rahmen des brandneuen staatlichen Hilfsprogramms für Überlebende zugewiesen wurden, kaum retten.

Damals erschien eines Tages vor der Tür des Hauses, in dem ich arbeitete, ein Polizist. Vor zehn Jahren war ich dreiundzwanzig, und das war noch meine erste Stelle, weil ich mir wirklich große Mühe gab. Ich hatte ja noch keine Ahnung. Die Gärten ums Haus herum waren immer feucht und dunkelgrün und so ordentlich gemäht, dass sie weichen grünen Nerzmänteln glichen. Nichts im Haus machte jemals einen abgenutzten Eindruck. Wenn man dreiundzwanzig ist, bildet man sich ein, ein solches Leistungsniveau könne man ewig aufrechterhalten.

Etwas hinter dem Polizisten vor der Haustür standen in der Einfahrt zwei weitere Polizisten und neben einem der Streifenwagen die Sozialarbeiterin.

Ihr könnt nicht nachvollziehen, wie wohl ich mich bis zu dem Augenblick, da ich die Tür aufmachte, bei meiner Arbeit gefühlt hatte. Meine ganze Jugend hindurch hatte ich darauf hingearbeitet, auf die Taufe, auf die Zuweisung des Jobs als Putzmann in der bösen Außenwelt.

Als die Leute, für die ich arbeiten sollte, der Kirche schließlich eine Spende für den ersten Monat meiner Arbeit geschickt hatten, strahlte ich vor Glück. Ich glaubte wirklich, dazu beizutragen, den Himmel auf Erden zu schaffen.

Es störte mich nicht, dass ich überall angestarrt wurde; ich trug immer die von der Kirche vorgeschriebene Kleidung, den Hut, die weiten Hosen ohne Taschen. Das langärmlige weiße Hemd. Egal, wie heiß es war, in der Öffentlichkeit trug ich stets den braunen Mantel und kümmerte mich nicht um die dummen Sprüche, die ich ständig zu hören bekam.

»Wie kommt es, dass Sie Hemden mit Knöpfen tragen dürfen?«, wollte einmal jemand im Haushaltswarenladen wissen.

Weil ich kein Amish bin.

»Müssen Sie spezielle geheime Unterwäsche tragen?«

Ich nehme an, das war auf die Mormonen gemünzt.

»Verstößt es nicht gegen Ihre Religion, außerhalb Ihrer Kolonie zu leben?«

Das hörte sich eher nach den Mennoniten an.

»Ich habe noch nie einen Hutteriten kennen gelernt.«

Das ist immer noch der Fall.

Es war ein gutes Gefühl, sich von der Welt abzuheben, einen geheimnisvollen und frommen Eindruck zu machen. Man stellte sein Licht nicht unter den Scheffel. Man war rechtschaffen, und man ließ es sich deutlich anmerken. Man war der einzige Heilige, der Gott davon abhielt, das ganze Sodom und Gomorrha des Valley-Plaza-Einkaufszentrums zu zerschmettern.

Man war der Erlöser aller Menschen, ob sie es nun wussten oder nicht. An schwülen Tagen glich man in seiner mausgrauen Wolle einem Märtyrer auf dem Scheiterhaufen.

Und ein noch herrlicheres Gefühl war es, jemandem zu begegnen, der genauso gekleidet war wie man selbst. Braune Hose oder braunes Kleid, und dazu die klobigen braunen Schuhe. Man fand sich in einer stillen kleinen Enklave der Kommunikation. Es gab so wenige Dinge, die wir in der Außenwelt zueinander sagen durften. Man konnte nur drei oder vier Dinge sagen, und daher fing man ganz langsam an und überhastete kein einziges Wort. Einkaufen war der einzige Grund, überhaupt in die Öffentlichkeit gehen zu dürfen, und das auch nur, wenn einem Geld anvertraut wurde.

Wenn man jemanden von der Kirchenkolonie traf, konnte man sagen:

Mögest du dein Lebtag nur nützlich sein.

Man konnte sagen:

Lob und Preis dem Herrn für diesen arbeitsreichen Tag.

Man konnte sagen:

Mögen deine Mühen alle Menschen in den Himmel bringen.

Und man konnte sagen:

Mögest du sterben, sobald deine Arbeit vollendet ist.

Das war das Äußerste.

Wenn man einen anderen rechtschaffen und schwitzend in seiner Kirchentracht erblickte, ging einem diese kleine Konversation durch den Kopf. Man eilte aufeinander zu, durfte sich aber nicht berühren. Keine Umarmung. Kein Händedruck. Man sprach einen erlaubten Satz. Der oder die andere sprach ebenfalls einen. So ging das hin und her, bis jeder seine zwei Sätze aufgesagt hatte. Dabei hielt man den Kopf gesenkt, und anschließend setzte man seine Arbeit fort.

Aber das waren nur die kleinsten Teile des kleinsten Teils der Regeln, an die man sich halten musste. Wer in der Kirchenkolonie aufwuchs, musste die Hälfte seiner Studien den Lehren und Vorschriften der Kirche widmen. Die andere Hälfte galt dem Dienen. Zum Dienen gehörte Gartenarbeit, Etikette, Stoffpflege, Putzen, Zimmerhandwerk, Nähen, Tiere, Rechnen, Fleckenentfernung und Toleranz.

Nach den Regeln für das Leben in der Außenwelt musste man den Kirchenältesten jede Woche eine schriftliche Beichte schicken. Man durfte keine Süßigkeiten essen. Trinken und rauchen war verboten. Man hatte jederzeit sauber und ordentlich aufzutreten. Man durfte keinerlei per Funk übertragene Formen von Unterhaltung genießen. Man durfte keine sexuellen Beziehungen haben.

Lukas, Kapitel zwanzig, Vers fünfunddreißig:

»… welche aber würdig sein werden … die werden weder freien noch sich freien lassen.«

Die Kirchenältesten der Credisten stellten den Zölibat als so einfach dar wie die Entscheidung, freiwillig auf Baseball zu verzichten.

Sag einfach Nein.

Es gab unendlich viele Regeln. Gott behüte, dass man jemals tanzte. Oder raffinierten Zucker aß. Oder sang. Aber die wichtigste Regel war immer die:

Wenn die Mitglieder der Kirchenkolonie von Gott gerufen wurden, sollten sie frohlocken. Wenn die Apokalypse bevorstand, sollten alle Credisten feiern und sich Gott befehlen, Amen.

Dem hatte man zu folgen.

Gleichgültig, wie weit man weg war. Gleichgültig, wie lange man bereits außerhalb der Kirchenkolonie gearbeitet hatte. Da Radiohören und Fernsehen untersagt war, konnte es Jahre dauern, bis alle Kirchenmitglieder von der Erlösung erfuhren. So wurde das von der Kirche genannt: die Erlösung. Die Flucht nach Ägypten. Die Flucht aus Ägypten. In der Bibel laufen die Leute ständig von einem Ort zum andern.

Man erfuhr es vielleicht erst nach Jahren, aber sobald man es erfuhr, musste man sich eine Schusswaffe besorgen, Gift schlucken, sich ertränken, erhängen, aufschlitzen oder aus dem Fenster springen.

Man musste sich dem Himmel schenken.

Und deswegen tauchten da drei Polizisten und die Sozialarbeiterin auf, um mich abzuholen.

»Ich habe keine angenehme Nachricht für Sie«, sagte der Polizist, und schon wusste ich, dass ich zurückgelassen worden war.

Die Apokalypse war gekommen, die Erlösung, und all meine Arbeit und all das Geld, das ich zu unseren Plänen beigetragen hatte, waren vergebens gewesen: Den Himmel auf Erden würde ich nicht erleben.

Bevor ich einen Gedanken fassen konnte, trat die Sozialarbeiterin vor und sagte: »Wir wissen, worauf man Sie für diesen Fall programmiert hat. Und um das zu verhindern, werden wir Sie unter Beobachtung stellen.«

Zu der Zeit, als die Kirchenkolonie das Dekret hinsichtlich der Erlösung erlassen hatte, arbeiteten im ganzen Land verstreut etwa fünfzehnhundert Mitglieder. Eine Woche später waren es noch sechshundert. Ein Jahr später vierhundert.

Seitdem haben sich auch schon zwei Sozialarbeiter das Leben genommen.

Die Regierung hatte mich und die meisten anderen Überlebenden mit Hilfe der Beichtbriefe aufgespürt, die wir jeden Monat in die Kirchenkolonie schickten. Wir wussten nicht, dass wir Briefe und Geld an Kirchenälteste sandten, die bereits tot und im Himmel waren. Wir konnten nicht wissen, dass Sozialarbeiter jeden Monat unsere Aufstellungen lasen, wie oft wir geflucht oder unreine Gedanken gehabt hatten. Ich konnte der Sozialarbeiterin nichts erzählen, was sie nicht schon längst wusste.

Zehn Jahre sind seither vergangen, und man sieht keine überlebenden Kirchenmitglieder mehr zusammen. Und falls sich doch einmal zwei Überlebende begegnen, empfinden wir nur noch Scham und Abscheu. Wir haben unser höchstes Sakrament verraten. Wir schämen uns vor uns selbst. Wir verabscheuen uns gegenseitig. Die Überlebenden, die noch die Kirchentracht tragen, tun es, um sich ihres Plans zu rühmen. Sack und Asche. Sie konnten sich nicht retten. Sie waren schwach. Die Vorschriften existieren nicht mehr, aber das ist auch egal. Wir alle befinden uns auf direktem Weg in die Hölle.

Auch ich war schwach.

Also fuhr ich hinten im Polizeiauto mit in die Stadt. Die Sozialarbeiterin saß neben mir und sagte: »Sie waren das unschuldige Opfer einer brutalen tyrannischen Sekte, und wir wollen Ihnen dabei helfen, wieder auf die Füße zu kommen.«

Mit jeder Minute wurde ich immer weiter von dem fortgerissen, was ich hätte tun sollen.

»Soweit ich weiß, haben Sie ein Problem mit Masturbation«, sagte die Sozialarbeiterin. »Möchten Sie darüber sprechen?«

Mit jeder Minute wurde es schwerer, das zu tun, was ich bei meiner Taufe versprochen hatte. Erschießen, erstechen, ersticken, verbluten oder springen.

Außerhalb des Autos raste die Welt so schnell vorbei, dass meine Augen nicht mehr mitkamen.

»Bis heute war Ihr Leben ein furchtbarer Albtraum«, sagte die Sozialarbeiterin, »aber Sie werden schon wieder. Verstehen Sie mich? Haben Sie Geduld, das kriegen wir schon hin.«

Das ist nun fast zehn Jahre her, und ich warte immer noch.

Damals war es bequem, ihren Worten zu vertrauen.

Zehn Jahre später hat sich nicht viel geändert. Zehn Jahre Therapie, und ich bin praktisch nicht von der Stelle gerückt. Wohl kaum ein Grund zum Feiern.

Wir sind immer noch zusammen. Heute ist unsere Wochensitzung Nummer fünfhundert ungrad, und heute sind wir im blauen Gästebad. Im Gegensatz zu dem grünen, dem weißen, dem gelben und dem lavendelfarbenen Gästebad. Daran sieht man, wie viel Geld diese Leute verdienen. Die Sozialarbeiterin sitzt auf dem Rand der Badewanne, die bloßen Füße hat sie im warmen Wasser ausgestreckt. Die Schuhe hat sie auf den heruntergeklappten Toilettendeckel gestellt, neben ihr Martiniglas mit Grenadine, zerstoßenem Eis, Puderzucker und weißem Rum. Nach jeweils zwei Fragen beugt sie sich mit dem Kugelschreiber in der Hand vor und hebt das Glas am Stiel an, sodass sich Kuli und Glas in ihrer Hand wie Essstäbchen kreuzen.

Mit ihrem letzten Freund habe sie Schluss gemacht, erzählt sie mir.

Gott behüte, dass sie fragt, ob sie mir beim Putzen helfen soll.

Sie nimmt einen Schluck. Während ich antworte, stellt sie das Glas wieder hin. Sie schreibt etwas in das Notizheft, das sie auf den Knien ruhen hat, stellt die nächste Frage, nimmt den nächsten Schluck. Ihr Gesicht ist mit Schminke wie zubetoniert.

Larry, Barry, Jerry, Terry, Gary. Alle ihre Exfreunde laufen einer wie der andere davon. Sie sagt, die Anzahl ihrer Exklienten und Exfreunde liefert sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

Diese Woche, sagt sie, haben wir einen neuen Tiefstand erreicht: Landesweit noch einhundertundzweiunddreißig Überlebende, aber die Selbstmordrate pendelt sich allmählich ein.

Wie im Terminkalender vorgesehen, schrubbe ich die Fugen zwischen den kleinen blauen sechsseitigen Kacheln auf dem Fußboden. Das sind Trillionen Kilometer Fugen. Aneinander gereiht, würden die Fugen allein dieses Badezimmers zehnmal zum Mond und wieder zurück reichen, und jeder einzelne Millimeter ist mit schwarzem Schimmel verdreckt. Ich schrubbe mit einer Zahnbürste, die ich immer wieder in Ammoniak tauche, wobei der Gestank, vermischt mit dem Rauch ihrer Zigaretten, mich müde und so nervös macht, dass ich Herzklopfen habe.

Vielleicht bin ich auch ein wenig weggetreten. Das Ammoniak. Der Rauch. Fertility Hollis ruft mich immer wieder zu Hause an. Ich wage nicht ans Telefon zu gehen, aber ich weiß genau, dass sie es ist.

»Sind in letzter Zeit irgendwelche Fremde an Sie herangetreten?«, fragt die Sozialarbeiterin mich.

Sie fragt: »Haben Sie Anrufe bekommen, die Sie als bedrohlich bezeichnen würden?«

Wie die Sozialarbeiterin, immer eine Zigarette zwischen den Lippen, mich solche Sachen fragt, das erinnert mich an einen Hund, der einen Pink Martini schlürft und einen dabei anknurrt. Eine Zigarette, ein Schluck, eine Frage: Sie atmet, sie trinkt, sie fragt, sie führt die wesentlichen Dinge vor, die man mit dem Mund so machen kann.

Früher hat sie nicht geraucht, aber, so erzählt sie mir, die Vorstellung, ein hohes Alter zu erreichen, wird ihr immer mehr zuwider.

»Wenn ich wenigstens mit irgendeinem kleinen Teil meines Lebens zufrieden sein könnte«, sagt sie zu einer neuen Zigarette in ihrer Hand, bevor sie sich Feuer gibt. Dann fängt irgendetwas Unsichtbares an zu piepen und piept immer weiter, bis sie auf die Armbanduhr drückt und das Piepen aufhört. Sie dreht sich nach ihrer Tasche um, die auf dem Boden neben der Toilette liegt, und nimmt ein Plastikfläschchen heraus.

»Imipramin«, sagt sie. »Darf ich Ihnen leider nicht anbieten.«

Am Anfang versuchte das Hilfsprogramm, die Überlebenden mit Medikamenten ruhig zu stellen, Alprazolam, Fluoxetin, Valium, Imipramin. Der Plan scheiterte, weil zu viele Klienten ihre Wochenrationen horteten, drei, sechs, acht Wochen lang, je nach Körpergewicht, um dann alles auf einmal mit einem Schluck Scotch runterzuspülen.

Bei den Klienten waren die Medikamente ein Fehlschlag gewesen, aber für die Sozialarbeiter waren sie großartig.

»Ist Ihnen irgendjemand gefolgt«, fragt die Sozialarbeiterin, »jemand mit einer Pistole oder einem Messer? Abends, wenn Sie von der Bushaltestelle nach Hause gehen?«

Ich schrubbe die Fugen zwischen den Kacheln von schwarz über braun nach weiß und frage, warum sie mich das alles fragt.

»Nur so«, sagt sie.

Nein, sage ich, ich werde nicht bedroht.

»Ich habe diese Woche versucht, Sie anzurufen, aber es hat nie jemand abgenommen«, sagt sie. »Stimmt was nicht?«

Ich sage, nein, alles in Ordnung.

Die wahre Wahrheit ist, ich gehe nicht ans Telefon, weil ich mit Fertility Hollis erst reden möchte, wenn ich sie von Angesicht zu Angesicht wieder sehe. Am Telefon hat sie sich sexuell so erregt angehört, dass ich ein weiteres Telefonat nicht riskieren will. Ich konkurriere dabei mit mir selbst. Ich will nicht, dass sie sich in mich als Stimme am Telefon verliebt, während sie mich gleichzeitig als realen Menschen abzuschütteln versucht. Am besten telefonieren wir nie mehr miteinander. Meine konkrete, lebendige, unheimliche, verrückte, hässliche Wenigkeit ist ihrer Phantasie nicht gewachsen, und daher habe ich den Plan, einen schrecklichen Plan, sie dahin zu bringen, dass sie mich hasst und sich gleichzeitig in mich verliebt. Ich will sie negativ verführen. Negativ anziehen.

»Wenn Sie nicht in Ihrer Wohnung sind«, fragt die Sozialarbeiterin, »hat dann sonst noch jemand Zugang zu den Dingen, die Sie essen?«

Morgen ist mein nächster Nachmittag mit Fertility Hollis in der Leichenhalle, falls sie denn kommt. Dann wird der erste Teil meines Plans in Gang gesetzt.

»Haben Sie irgendwelche Drohbriefe oder anonyme Post bekommen?«, fragt die Sozialarbeiterin.

Sie fragt: »Hören Sie mir überhaupt zu?«

Ich frage, was diese ganzen Fragen überhaupt sollen. Ich sage, wenn sie mir nicht sagt, was los ist, trinke ich diese Flasche Ammoniak aus.

Die Sozialarbeiterin sieht auf die Uhr. Sie klopft mit dem Kuli auf den Notizblock und lässt mich warten, bis sie erst einmal an ihrer Zigarette gesaugt und den Rauch ausgeblasen hat.

Wenn sie wirklich was für mich tun will, sage ich und halte ihr eine Zahnbürste hin, dann soll sie mir beim Schrubben helfen.

Sie stellt ihren Drink ab und nimmt die Zahnbürste. Fährt über eine der Fugen an der Wand neben ihr, hört aber gleich wieder damit auf. Sie sieht sich ihr Werk an und schrubbt dann noch ein bisschen. Wieder starrt sie hin.

»Du liebe Zeit«, sagt sie. »Das geht ja wirklich. Sehen Sie nur, wie sauber das wird.« Die Füße noch immer im Badewasser, dreht sie sich herum, um besser an die Wand heranzukommen, und schrubbt weiter. »Gott, ich wusste gar nicht mehr, wie gut es tut, etwas zu leisten.«

Sie merkt nicht, dass ich mit meiner Arbeit aufgehört habe. Ich hocke auf den Fersen und sehe ihr zu, wie sie sich über den Schimmel hermacht.

»Also«, sagt sie und schrubbt im Zickzack die Fugen zwischen den kleinen blauen Kacheln.

»Vielleicht stimmt das alles ja gar nicht«, sagt sie, »aber es soll nur zu Ihrem Besten sein. Es könnte nämlich demnächst ein klein wenig gefährlich für Sie werden.«

Eigentlich dürfe sie mir das nicht erzählen, aber einige Selbstmorde von Überlebenden seien ein bisschen verdächtig. Die meisten Selbstmorde scheinen okay zu sein. Bei der Mehrheit handelt es sich um normale Feld-, Wald- und Wiesenselbstmorde, sagt sie, aber einige Fälle sind schon etwas seltsam. Zum Beispiel ein Rechtshänder, der sich mit der linken Hand erschossen hat. Und eine Frau, die sich mit dem Gürtel ihres Bademantels erhängt hat, dabei aber einen Arm ausgerenkt und Blutergüsse an beiden Handgelenken hatte.

»Das waren aber nicht die einzigen derartigen Fälle«, sagt die Sozialarbeiterin, die immer noch schrubbt. »Es scheint da ein Muster zu geben.«

Anfangs haben die Kollegen das nicht beachtet, sagt sie. Selbstmorde sind Selbstmorde, besonders in dieser speziellen Bevölkerungsgruppe. Selbstmorde treten bei dieser Klientel stets gehäuft auf. Massenhaft. Einige wenige zu Anfang ziehen gleich zwanzig oder mehr nach sich. Wie die Lemminge.

Der Notizblock rutscht ihr vom Schoß und fällt auf den Boden. »Selbstmord ist eben sehr ansteckend«, sagt sie.

Das Muster dieser neuen falschen Selbstmorde sehe so aus, dass sie vermehrt dann auftreten, wenn die Häufigkeit natürlicher Selbstmorde absackt.

Was soll das sein, falsche Selbstmorde?, frage ich.

Ich nehme einen Schluck von ihrem Martini; das Zeug schmeckt seltsam, wie Mundwasser.

»Mord«, sagt sie. »Möglicherweise tötet jemand Überlebende und versucht, es wie Selbstmord aussehen zu lassen.«

Wenn die Zahl der echten Selbstmorde zurückgeht, scheinen die Morde den Ball wieder ins Rollen zu bringen. Nach zwei, drei Morden, die wie Selbstmorde aussehen, wirkt Selbstmord wieder frisch und attraktiv, und schon greifen ein Dutzend Überlebende den Trend auf und machen sich vom Acker.

»Man könnte sich leicht einen Mörder vorstellen, entweder einen Einzeltäter oder ein Todeskommando von Kirchenmitgliedern, die dafür sorgen wollen, dass Sie alle im Himmel zusammenkommen«, sagt die Sozialarbeiterin. »Das klingt vielleicht blöd und paranoid, wäre aber doch völlig logisch.«

Die Erlösung.

Und warum fragt sie mich das alles?

»Weil immer weniger Überlebende sich noch umbringen«, sagt sie. »Die natürliche Trend hinsichtlich normaler Selbstmorde nimmt ab. Wer auch immer dahinter steckt, wird jetzt wieder zu morden anfangen, um die Selbstmordrate nach oben zu treiben. Die Morde nach diesem Muster sind übers ganze Land verbreitet«, sagt sie. Sie schrubbt mit der Zahnbürste. Sie taucht sie in das Glas mit Ammoniak. Die qualmende Zigarette in einer Hand, schrubbt sie mit der anderen weiter. »Außer dem zeitlichen Zusammenhang gibt es kein weiteres Muster«, sagt sie. »Die Opfer sind Männer. Frauen. Junge. Alte. Sie müssen auf sich aufpassen, Sie könnten nämlich leicht der Nächste sein.«

Die einzige neue Bekanntschaft, die ich seit Monaten gemacht habe, ist Fertility Hollis.

Ich frage die Sozialarbeiterin, die ja immerhin eine Frau ist: Was erwarten Frauen von einem Mann? Wie soll er aussehen? Was erwarten sie von ihm als Sexualpartner?

Sie hat einen sauberen weißen Zickzackpfad in die Fugen geschrubbt.

»Andererseits bleibt zu bedenken«, sagt die Sozialarbeiterin, »dass das Ganze auch eine natürliche Erklärung haben könnte. Vielleicht will Sie ja gar niemand töten. Vielleicht gibt es da auch nichts, wovor Sie Angst haben müssten.«