Kapitel 31

Zu den Aufgaben der Sozialarbeiterin bei der Selbstmordprävention gehört es auch, dass sie mir noch einen Gin Tonic mixt. Ich führe unterdessen ein Ferngespräch. Auf Leitung zwei wartet ein Produzent der Dawn Williams Show. Sämtliche Leitungen blinken. Ein Mitarbeiter der Talkshow von Barbara Walters wartet auf Leitung drei. Ich muss vor allen Dingen jemanden finden, der mir diese Telefonate abnimmt. Der Stapel Frühstücksgeschirr in der Spüle wäscht sich nicht von allein.

Ich muss vor allen Dingen einen guten Agenten finden.

Die Betten oben sind noch nicht gemacht.

Der Garten muss neu gestrichen werden.

Dieser eine Topagent am Telefon reitet auf der Frage herum, was, wenn ich nun nicht der einzige Überlebende wäre. Ich sage, es kann aber nicht anders sein. Die Sozialarbeiterin würde nicht auf einen Gin Tonic zum Frühstück vorbeikommen, wenn es letzte Nacht nicht wieder einen Selbstmord gegeben hätte. Hier auf dem Küchentisch liegen die Akten mit den Fallgeschichten aller anderen ausgebreitet.

Das ganze staatliche Hilfsprogramm für Überlebende ist ein Fehlschlag, könnte man sagen. Wenn hier jemand Selbstmordprävention braucht, dann ist es die Sozialarbeiterin, die mir einen Gin Tonic nach dem anderen mixt.

Damit ich mich nicht vom Acker mache, lässt sie mich nicht aus den Augen. Um sie abzulenken, gebe ich ihr eine Limone, die sie in Scheiben schneiden soll. Holen Sie mir Zigaretten. Mixen Sie mir noch einen Drink, sage ich, oder ich bringe mich um. Ich schwör’s. Ich gehe ins Bad und hacke mir mit einem Rasiermesser alle Venen auf.

Die Sozialarbeiterin stellt mir einen frischen Gin Tonic auf den Küchentisch und fragt, ob ich nicht helfen will, ein paar Leichen zu identifizieren. Das soll mir helfen, endgültig Abschied zu nehmen. Immerhin, sagt sie, seien das meine Leute, mein Fleisch und Blut. Meine Verwandten.

Sie breitet wieder einmal die zehn Jahre alten amtlichen Fotos auf dem Tisch aus. Hunderte von Toten, Schulter an Schulter auf dem Boden aufgereiht, starren mich an. Alle haben vom Zyankali schwarze Flecken auf der Haut. Sie sind so aufgedunsen, dass sie aus den dunklen, selbst genähten Kleider zu quellen scheinen. Asche zu Asche. Staub zu Staub. Schnell und unkompliziert sollte dieser Verfall eigentlich ablaufen, tut er aber nicht. Die Leichen dort sind steif und stinken. Damit versucht die Sozialarbeiterin meine Gefühle in Gang zu bringen. Ich verdränge meine Trauer, sagt sie.

Ob ich mich nicht aufraffen könne, diese Toten zu identifizieren?

Wenn da draußen ein Killer herumläuft, sagt sie, kann ich ihr helfen, die Person zu finden, die eigentlich hier tot abgebildet sein müsste, es aber nicht ist.

Vielen Dank, sage ich. Nein, danke. Ohne auch nur hinzusehen, weiß ich, dass Adam Branson unter den Toten auf diesen Bildern nicht zu finden ist.

Als die Sozialarbeiterin sich setzen will, frage ich sie, ob es ihr was ausmacht, die Vorhänge zuzuziehen. Draußen steht ein Wagen vom Fernsehen und sendet per Satellit, was durchs Küchenfenster zu sehen ist. Das schmutzige Frühstücksgeschirr im Vordergrund ist nicht gerade das, was ich heute in den Nachrichten sehen will. Das schmutzige Geschirr in der Spüle, ich und die Sozialarbeiterin am Küchentisch mit dem Telefon und ihren Akten auf dem gelb-weiß karierten Tischtuch, Gin Tonic um zehn Uhr morgens.

Die Stimme des Nachrichtensprechers wird zu den Bildern erklären, der einzige Überlebende der Credisten, des jüngsten Todeskults Amerikas, stehe, nachdem eine tragische Selbstmordserie die verbliebenen Überlebenden des Kults dahingerafft habe, unter ständiger Beobachtung.

Und dann kommt Werbung.

Die Sozialarbeiterin blättert die letzten Akten durch. Brannon, verstorben. Walker, verstorben. Phillips, verstorben. Alle verstorben. Alle außer mir.

Das Mädchen vorige Nacht, die einzige andere Überlebende der credistischen Kirchenkolonie, hat Erde gegessen. Es gibt sogar ein Wort dafür. Man nennt das Geophagie. Ein beliebter Brauch bei den Afrikanern, die als Sklaven nach Amerika gebracht wurden. Beliebt ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck.

Sie hat sich im Garten des Hauses, in dem sie elf Jahre lang gedient hat, auf den Boden gekniet und sich mit einem Löffel die Erde aus dem Rosenbeet in den Mund geschaufelt. So steht es im Bericht der Sozialarbeiterin. Dann ist etwas eingetreten, das man Speiseröhrenruptur nennt, dann kam es zu einer Bauchfellentzündung, und gegen Sonnenaufgang war sie tot.

Das Mädchen davor starb mit dem Kopf im Backofen. Der Junge davor hat sich die Kehle aufgeschlitzt. Das entspricht genau der Kirchenlehre. Eines Tages, so hat man uns beigebracht, wird die Schlechtigkeit der Könige der Welt uns vernichten, o Leid und Schmerz, und die Heere der Welt werden gegen uns anrücken, o Jammern und Klagen, und die reinsten Kinder Gottes werden sich durch eigene Hand dem Herrn überantworten müssen.

Die Erlösung.

Ja, und alle, die nicht unter den Ersten sind, die zum Herrn eingehen, sollen so schnell wie möglich folgen.

Und so haben sich in den vergangenen zehn Jahren Männer und Frauen, Mägde und Gärtner und Fabrikarbeiter im ganzen Land, einer nach dem anderen verabschiedet. Das Hilfsprogramm für Überlebende hat keinem geholfen.

Ich bin die einzige Ausnahme.

Ich frage die Sozialarbeiterin, ob sie die Betten machen kann. Wenn ich noch ein einziges Laken stramm ziehen muss, stecke ich den Kopf in den Küchenmixer, das schwöre ich. Wenn sie es für mich tut, verspreche ich, noch am Leben zu sein, wenn sie zurückkommt.

Und schon geht sie rauf. Danke, sage ich.

Als die Sozialarbeiterin mir erzählt hatte, dass alle aus unserer Kirchenkolonie tot sind und so weiter, habe ich erst einmal mit dem Rauchen angefangen. Das war das Klügste, was ich jemals getan habe. Als die Sozialarbeiterin, nachdem vorige Nacht der letzte überlebende Credist ins Gras gebissen hatte, zu mir gekommen war, um mich aus den Federn zu holen, setzte ich mich in die Küche und genehmigte mir zur Beschleunigung meines Selbstmordprozesses einen steifen Drink.

Die Kirchenlehre verlangt, dass ich mich umbringe. Sie verlangt nicht, dass ich das kurz und schmerzlos tun soll.

Die Zeitung liegt noch draußen vor der Tür. Das Frühstücksgeschirr ist immer noch nicht gespült. Die Leute, für die ich arbeite, sind vor den Scheinwerfern geflohen. Und das, nachdem ich jahrelang ihre geliehenen Pornovideos zurückgespult und ihre Flecken eingeweicht habe. Er ist Banker. Sie ist Banker. Sie besitzen mehrere Autos. Und dieses wunderbare Haus. Und mich zum Bettenmachen und Rasenmähen. Ehrlich gesagt, wahrscheinlich sind sie verschwunden, damit sie nicht eines Abends nach Hause kommen und mich tot auf dem Küchenboden vorfinden.

Ihre vier Telefonleitungen sind immer noch alle belegt. Die Dawn Williams Show. Barbara Walters. Der Agent sagt, ich soll mir einen Handspiegel nehmen und üben, aufrichtig und unschuldig dreinzuschauen.

Auf dem Deckblatt eines der Aktenordner steht auch mein Name. Hier sind die wesentlichen Informationen zu den Personen zusammengefasst, die den Massenselbstmord der Credisten überlebt haben.

Der Agent redet von: Produktaussage.

Der Agent redet von: Mein eigenes religiöses Programm.

In der Akte ist dokumentiert, dass die Amerikaner mehr als zweihundert Jahre lang die Credisten zu den frommsten, fleißigsten, anständigsten, vernünftigsten Menschen der Welt gezählt haben.

Der Agent redet von: Eine Million Dollar Vorschuss für meine Lebensgeschichte im Hardcover.

Ein detaillierteres Aktenblatt beschreibt, wie der zuständige Sheriff den Ältesten der credistischen Kirchenkolonie vor zehn Jahren einen Durchsuchungsbeschluss vorgelegt hatte. Es lagen Vorwürfe wegen Kindesmissbrauchs vor. Verrückte anonyme Behauptungen, denen zufolge die Familien der Kolonie ungeheuer viele Kinder hätten. Und keines dieser Kinder sei amtlich gemeldet, es gebe keine Geburtsurkunden, keine Sozialversicherungsnummer, kein gar nichts. Alle diese Geburten fanden innerhalb der Kirchenkolonie statt. Alle diese Kinder hatten Schulen der Kirchenkolonie besucht. Keines dieser Kinder durfte jemals heiraten oder selbst Kinder bekommen. Sie alle wurden an ihrem siebzehnten Geburtstag als erwachsene Kirchenmitglieder getauft und in die Welt hinausgeschickt.

Das alles weiß inzwischen jeder.

Der Agent redet von: Mein eigenes Übungsvideo.

Der Agent redet von: Ein Exklusivbericht auf Seite eins von People.

Jemand hatte diese verrückten Gerüchte irgendeinem Heini von der Kinderfürsorge zugespielt, und kurze Zeit später tauchen der Sheriff und zwei Wagenladungen Polizisten in der credistischen Kirchenkolonie in Bolster County, Nebraska, auf und fangen an, die Einwohner zu zählen und dafür zu sorgen, dass alles amtlich ist. Es war der Sheriff, der das FBI geholt hat.

Der Agent am Telefon redet von: Sie kommen in alle Talkshows.

Das FBI erfuhr, dass die Kinder, die in die Welt hinausgeschickt wurden, bei den Credisten als Arbeitsmissionare galten. Im amtlichen Untersuchungsbericht wurde dieser Umstand als weiße Sklaverei bezeichnet. Im Fernsehen nannte man es Kindersklavenkult.

Die Kinder wurden nach ihrem siebzehnten Geburtstag von den credistischen Aufsehern in die Außenwelt geschickt und mussten dort gegen Barzahlung als Hilfsarbeiter oder Hausangestellte schuften. Zeitarbeit, die jahrelang dauern konnte.

Die Zeitungen sprachen von der »Kirche der Sklavenarbeit«.

Die Kirchenkolonie bekam das Geld, und die Außenwelt bekam ein Heer von sauberen, ehrlichen, kleinen, christlichen Mägden und Gärtnern und Tellerwäschern und Anstreichern, die alle in dem Glauben erzogen waren, man könne seine Seele nur dadurch retten, indem man sich für nichts als Unterkunft und Verpflegung zu Tode arbeitete.

Der Agent redet von: Kolumnen in sämtlichen Zeitungen.

Als das FBI anrückte, um Verhaftungen vorzunehmen, hatte sich die gesamte Bevölkerung der Kirchenkolonie im Versammlungshaus eingeschlossen. Möglich, dass derselbe, der für ein bisschen Bares diese verrückte Geschichte über die Kindersklaven in die Welt gesetzt hatte, möglich, dass ebendieser selbe Mensch der Kolonie verraten hatte, dass die Regierung zum Angriff übergehen werde. Alle Farmen in Bolster County waren verlassen worden. Später stellte sich heraus, dass man sämtliche Kühe, Schweine, Hühner, Tauben, Katzen und Hunde getötet hatte. Sogar die Goldfische in ihren Gläsern waren vergiftet worden. Jede einzelne saubere kleine Farm der Credisten mit ihrem weißen Haupthaus und der roten Scheune lag stumm und schweigend da, als die Nationalgarde ihre Runde machte. Jeder einzelne Kartoffelacker lag still und leer unter dem blauen, kaum bewölkten Himmel.

Der Agent redet von: Meine eigene Sondersendung zu Weihnachten.

Dem Detailbericht zufolge – ich sitze immer noch hier mit den Akten am Küchentisch, die Sozialarbeiterin macht oben die Betten, und ich spüre die Hitze des Feuerzeugs, mit dem ich mir die nächste Zigarette anzünde – gab es diesen Brauch, Arbeitsmissionare in die Welt zu schicken, schon seit über hundert Jahren. Die Credisten seien immer reicher geworden und hätten immer mehr Land aufgekauft und immer mehr Kinder bekommen. Jahr für Jahr seien mehr Kinder aus dem Tal verschwunden. Mädchen seien im Frühjahr verschickt worden, Jungen im Herbst.

Der Agent redet von: Mein eigenes Parfüm.

Der Agent redet von: Eine Sonderauflage der Bibel mit meinem Autogramm.

Die Missionare waren in der Außenwelt unsichtbar. Vom Finanzamt wurde die Kirche nicht behelligt. Nach der Kirchenlehre gab es nichts Edleres, als einfach seine Arbeit zu tun und zu hoffen, dass man lange genug lebte, um der Kolonie einen riesigen Profit einzufahren. Der ganze Rest des Lebens sollte als Last empfunden werden: anderen Leuten die Betten machen. Anderer Leute Kinder versorgen. Für andere Leute Essen kochen.

In alle Ewigkeit.

Arbeit ohne Ende.

Der Plan sah vor, nach und nach ein credistisches Paradies zusammenzubringen, indem Hektar für Hektar die ganze Welt aufgekauft wurde.

Bis die FBI-Wagen die amtlichen hundert Meter vom Versammlungshaus der Kirchenkolonie entfernt zum Stillstand kamen. Dem offiziellen Untersuchungsbericht zu dem Massaker nach regte sich kein Lüftchen. Nicht ein Geräusch drang aus der Kirche.

Der Agent redet von: Erweckungskassetten.

Der Agent redet von: Caesar’s Palace.

Seitdem wurden die Credisten von jedermann der »alttestamentarische Todeskult« genannt.

Der Zigarettenrauch erstickt mich über den Punkt hinaus, an dem meine Kehle ihn noch zurückschicken könnte, und macht sich in meinem Brustkasten breit. In den Akten der Sozialarbeiterin sind die Nachzügler dokumentiert. Hilfsprogrammklientin Nummer dreiundsechzig, Biddy Patterson, Alter etwa neunundzwanzig, tötete sich drei Tage nach dem Vorfall in der Kirchenkolonie durch Aufnahme von Reinigungsmitteln.

Hilfsprogrammklient Tender Smithson, Alter fünfundvierzig, tötete sich durch Sprung aus einem Fenster des Gebäudes, in dem er als Hausmeister arbeitete.

Der Agent redet von: Meine eigene 0190-Heils-Hotline.

Der dicke heiße Rauch in mir fühlt sich an, wie es sich anfühlen würde, wenn ich eine Seele hätte.

Der Agent redet von: Meine eigene Werbeshow.

Die Leute alle schwarz und aufgedunsen. Lange Reihen von Leuten, die das FBI tot aus dem Versammlungshaus getragen hat; dort liegen sie nun, schwarz vom Zyankali in ihrer letzten Kommunion. Das sind die Leute, die, was auch immer sie zu erwarten glaubten, lieber gestorben waren, als sich diesem zu stellen.

Sie starben als geschlossene Masse und hielten sich dabei so fest an den Händen, dass das FBI ihre toten Finger aufbrechen musste, um sie auseinander zu nehmen.

Der Agent redet von: Superstar.

Die Kirchenlehre verlangt, dass ich jetzt, während die Sozialarbeiterin nicht da ist, aus dem Geschirr in der Spüle ein Messer nehmen und mir die Luftröhre aufschlitzen soll. Oder mein Gedärm auf den Küchenboden klatschen lasse.

Der Agent sagt, er regele die Sache mit der Dawn Williams Show und Barbara Walters.

Unter den Ordnern mit den Verstorbenen ist eine Akte mit meinem Namen drauf. Ich schreibe hinein:

Hilfsprogrammklient Nummer vierundachtzig hat alle verloren, die er jemals geliebt hat, und alles, was seinem Leben einen Sinn gegeben hat. Er ist erschöpft und schläft die meiste Zeit. Seit neuestem trinkt und raucht er. Er hat keinen Appetit. Er badet selten und hat sich seit Wochen nicht mehr rasiert.

Vor zehn Jahren war er das immer fleißige Salz der Erde. Er hatte nur den Wunsch, in den Himmel zu kommen. Heute sitzt er hier, und alles, wofür er in der Welt gearbeitet hat, ist verloren. Alle seine äußeren Regeln und Kontrollmechanismen sind fortgefallen.

Es gibt keine Hölle. Es gibt keinen Himmel.

Und doch dämmert es ihm gerade, dass jetzt alles möglich ist.

Jetzt will er alles.

Ich schließe die Akte und schiebe sie in den Haufen zurück.

Nur unter uns beiden, sagt der Agent – ob ich mich womöglich auch bald vom Acker machen werde?

Aus dem Gin Tonic starren mich die versunkenen Gesichter aller Menschen aus meiner Vergangenheit an, die Toten auf den amtlichen Fotos unter dem Boden des Glases. Nach Augenblicken wie diesem ist das Leben nur noch phantastisch.

Ich schenke mir nach.

Ich zünde mir die nächste Zigarette an.

Ehrlich, mein Leben hat kein Ziel mehr. Ich bin frei. Erstens. Und zweitens erbe ich demnächst achttausend Hektar von Nebraska.

Bei dem Gedanken fühle ich mich genau wie vor zehn Jahren, als ich mit der Polizei in die Stadt fuhr. Und wieder bin ich schwach. Und Minute um Minute entferne ich mich weiter vom Heil, hinein in die Zukunft.

Mich umbringen?

Vielen Dank, sage ich. Nein, danke.

Wir wollen doch nichts überstürzen.