Kapitel 37

An diesem Abend fange ich wieder an, ans Telefon zu gehen. Zuvor war ich so aufgegeilt, dass ich in die Stadt musste, um irgendwas zu stehlen. Dabei will ich mich nicht bereichern, ich will bloß abspritzen. Das ist okay. Die Sozialarbeiterin sagt, es ist okay. Es ist eine sexuelle Entlastungshandlung, erklärt sie mir. Völlig natürlich. Man findet, was man braucht. Man pirscht sich heran. Man packt es und macht es zu seinem Besitz. Und wenn man’s gehabt hat, wirft man es weg.

Es war die Sozialarbeiterin, die mich überhaupt erst zum Ladendieb gemacht hat.

Die Sozialarbeiterin nannte mich ein Lehrbuchbeispiel an Kleptomanie. Sie zitierte Untersuchungen. Indem ich stehle, erklärte sie, hindere ich andere daran, meinen Penis zu stehlen (Fenichel, 1945). Diebstahl sei ein Drang, den ich nicht beherrschen könne (Goldman, 1991). Ich stehle wegen einer Stimmungsstörung (McElroy u.a., 1991). Was ich stehle, sei egal: Schuhe, Klebeband, Tennisschläger.

Das Dumme ist jetzt nur, dass ich nicht einmal mehr vom Stehlen den alten Kick bekomme.

Vielleicht liegt das an Fertility.

Vielleicht habe ich Fertility auch nur deshalb kennen gelernt, weil mein Sexualleben als Verbrecher mich zu langweilen beginnt.

In letzter Zeit begehe ich keine Ladendiebstähle mehr, jedenfalls nicht im klassischen Sinn. Statt Waren zu stehlen, laufe ich in der Stadt herum, bis ich irgendeinen Kassenzettel finde, den jemand weggeworfen hat.

Mit dem Zettel geht man in den Laden, aus dem er stammt. Dort spielt man einen normalen Kunden und sucht irgendeinen Artikel, der auf dem Zettel steht. Damit geht man eine Weile im Laden herum, und dann gibt man den Artikel an der Kasse ab und lässt sich das Geld dafür zurückgeben. Am besten funktioniert das natürlich in großen Kaufhäusern. Und mit Kassenzetteln, auf denen die Waren explizit aufgeführt sind. Alte oder verschmutzte Zettel sollte man nicht nehmen. Auch nicht zweimal denselben Zettel. Auch sollte man die Läden, die man betrügt, häufig wechseln.

Das verhält sich zum echten Ladendiebstahl wie Masturbation zu echtem Sex.

Und natürlich ist dieser Trick in allen Geschäften bekannt.

Ein anderer guter Trick ist das Einkaufen mit einem großen Limobecher in der Hand. Darin lassen sich kleine Gegenstände gut versenken. Oder man kauft eine Dose billige Farbe, lockert den Deckel und lässt irgendwas Teures darin verschwinden. Das Metall der Dose schirmt die Röntgenstrahlen der Kontrollapparate ab.

Heute Nachmittag suche ich aber keinen Kassenzettel, ich gehe einfach nur so herum und lege mir den nächsten Teil meines Plans zurecht, wie ich Fertility packen und zu meinem Besitz machen kann. Wie ich sie haben kann. Und dann vielleicht wegwerfe. Ich muss ihre schlimmen Träume ausnutzen. Und auch unsere Tanzerei muss mir als Werkzeug dienen.

Fertility und ich haben fast den ganzen Nachmittag lang getanzt. Als die Musik wechselte, brachte sie mir die Grundlagen des Cha-Cha-Cha bei, den Cha-Cha-Cha-Kreuzschritt und wie ich die Frau halten muss, wenn sie eine Drehung macht. Sie zeigte mir auch die Grundlagen des Foxtrotts.

Sie erzählte mir, dass die Arbeit, mit der sie ihr Geld verdiene, schrecklich sei. Schlimmer als alles, was ich mir vorstellen könne.

Und als ich fragte: Was denn?

Lachte sie.

Auf meinem Weg durch die Stadt finde ich einen Kassenzettel für einen Farbfernseher. Das ist praktisch so was wie ein Hauptgewinn im Lotto, aber ich werfe ihn trotzdem in den nächsten Papierkorb.

Was mir am Tanzen vielleicht am besten gefällt, sind die Regeln. In dieser Welt, in der sonst alles möglich ist, gibt es wenigstens hier solide willkürliche Regeln. Der Foxtrott besteht aus zwei langsamen und zwei schnellen Schritten. Der Cha-Cha-Cha aus zwei langsamen und drei schnellen. Choreographie und Disziplin stehen nicht zur Debatte.

Das sind gute altmodische Regeln. Daran, wie man den Boxstep tanzt, ändert sich nicht jede Woche etwas.

Als wir vor zehn Jahren miteinander anfingen, hielt die Sozialarbeiterin mich nicht für einen Gauner. Zunächst war ich für sie ein Fall von Zwangsstörung. Sie hatte gerade ihr Examen gemacht und immer noch ihre Lehrbücher, mit denen sie das beweisen konnte. Zwangsgestörte, erklärte sie mir, müssten entweder ständig etwas überprüfen oder etwas sauber machen (Rachman & Hodgson, 1980). Ihr zufolge bin ich einer von der zweiten Sorte.

Eigentlich hat mir das Putzen auch so Spaß gemacht, wenngleich ich andererseits mein Leben lang zum Gehorsam erzogen worden bin. Ich habe mich bloß bemüht, ihre lausige Diagnose richtig aussehen zu lassen. Die Sozialarbeiterin erläuterte mir die Symptome, und ich tat mein Bestes, eben diese Symptome zu entwickeln, damit sie mich dann davon heilen konnte.

Nach absolvierter Zwangsstörung bekam ich eine posttraumatische Störung.

Dann litt ich unter Agoraphobie.

Und Panikattacken.

Meine Füße bewegen sich im Walzertakt, ein langsamer, zwei schnelle Schritte, über den Bürgersteig. Mein Kopf zählt eins, zwei, drei. Überall am Boden zwischen den Tauben liegen Kassenzettel mit hohen Beträgen herum. Wieder hebe ich einen auf. Einhundertdreiundsiebzig Dollar könnte ich damit einsacken. Ich werfe ihn weg.

Nachdem ich die Sozialarbeiterin kennen gelernt hatte, hatte ich etwa drei Monate lang eine dissoziative Identitätsstörung, weil ich ihr nichts von meiner Kindheit erzählen wollte.

Dann hatte ich eine schizoide Persönlichkeitsstörung, weil ich nicht bei ihrer wöchentlichen Therapiegruppe mitmachen wollte.

Dann hatte ich, weil sie fand, das könne eine gute Fallstudie ergeben, das Koro-Syndrom: Dabei bildet man sich ein, der eigene Penis werde immer kleiner, und wenn er ganz verschwunden sei, werde man sterben (Fabian, 1991; Tseng u.a., 1992).

Als Nächstes sollte ich das Dhat-Syndrom haben, eine Krise aufgrund der Überzeugung, dass man sein ganzes Sperma verliert, wenn man feuchte Träume hat oder bloß mal pinkeln geht (Chadda & Ahuja, 1990). Das geht auf den alten Hindu-Glauben zurück, dass ein Tropfen Knochenmark aus vierzig Tropfen Blut und ein Tropfen Sperma aus vierzig Tropfen Knochenmark gebildet wird (Akhtar, 1988). Sie sagte, es sei kein Wunder, das ich ständig so müde sei.

Sperma erinnert mich an Sex erinnert mich an Bestrafung erinnert mich an Tod erinnert mich an Fertility Hollis. Wir haben frei assoziiert, wie die Sozialarbeiterin das genannt hatte.

Bei jeder unserer Sitzungen diagnostizierte sie ein anderes Problem, das sie bei mir vermutete; sie gab mir zudem ein Buch, damit ich über die Symptome selbst nachlesen konnte. Und nächste Woche hatte ich das Gelesene alles haargenau.

Eine Woche war ich Pyromane. Eine Woche später war meine geschlechtliche Identität gestört.

Sie erklärte, ich sei Exhibitionist, und eine Woche später habe ich ihr meinen Hintern gezeigt.

Sie erklärte, ich habe ein Aufmerksamkeitsdefizit, und schon wechselte ich ständig das Thema. Ich hatte Klaustrophobie, und schon mussten wir uns nach draußen auf die Veranda verziehen.

Ich gehe durch die Stadt, und meine Füße wechseln zu den zwei langsamen, drei schnellen Schritten des Cha-Cha-Cha. In meinem Kopf laufen immer noch die zehn Lieder, die wir den ganzen Nachmittag gehört haben. Wieder entdecke ich einen Kassenzettel, der da wie ein veritabler 5-Dollar-Schein auf dem Bürgersteig liegt, und tänzle einfach daran vorbei.

Das Buch, das die Sozialarbeiterin mir gegeben hat, hieß Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen. Wir nannten es einfach nur DSM. Sie gab mir eine Menge ihrer alten Lehrbücher zu lesen, in denen Farbfotos von Models zu sehen waren, die dafür bezahlt wurden, mit glückstrahlender Miene nackte Babys hochzuhalten oder Hand in Hand bei Sonnenuntergang am Strand zu spazieren. Zur Illustration von Elend gab es Fotos von Models, die dafür bezahlt wurden, dass sie sich illegale Drogen in den Arm spritzten oder einsam an einem Tisch saßen und sich betranken. Es kam so weit, dass die Sozialarbeiterin das DSM einfach auf den Fußboden warf und ich dann das Bild, das dabei zufällig aufschlug, eine Woche lang nachzustellen versuchte.

Damit waren wir beide zufrieden. Eine Zeit lang. Sie glaubte, jede Woche einen Schritt voranzukommen. Ich hatte ein Drehbuch, an das ich mich halten konnte. Das war keineswegs langweilig, und bei all den künstlichen Problemen, die sie mir anhängte, brauchte ich mir wegen der wirklichen Probleme keinen Stress mehr zu machen. Jeden Dienstag bekam ich von der Sozialarbeiterin eine neue Diagnose, mit der ich mich dann beschäftigen konnte.

In unserem ersten Jahr blieb mir gar keine Zeit, an Selbstmord zu denken.

Wir machten den Stanford-Binet-Test, um das Alter meines Gehirns zu bestimmen. Wir machten den Wechsler-Test. Wir machten das Minnesota Multiphasic Personality Inventory. Das Millon Clinical Multiaxial Inventory. Das Beck Depression Inventory.

Die Sozialarbeiterin fand alles über mich heraus, nur nicht die Wahrheit.

Ich wollte mich einfach nicht reparieren lassen.

Welche Probleme auch immer ich tatsächlich haben mochte, ich wollte mich nicht von ihnen heilen lassen. Keines meiner kleinen Geheimnisse wollte sich aufspüren und wegerklären lassen. Weder durch Mythen. Noch durch meine Kindheit. Noch durch Chemie. Ich fragte mich voller Angst: Was würde dann noch übrig bleiben? Und so sind meine wahren Ressentiments und Ängste nie ans Licht gekommen. Ich wollte meine Phobien nicht loswerden. Ich wollte nicht über meine tote Familie sprechen. Trauerarbeit leisten, wie sie das nannte. Mich davon befreien. Alles hinter mir lassen.

Die Sozialarbeiterin heilte mich von hundert künstlichen Syndromen und erklärte mich dann für gesund. Wie stolz und glücklich sie war. Sie entließ mich als geheilt in den hellen Tag. Du bist geheilt. Steh auf und wandle. Ein Wunder der modernen Psychologie.

Erhebe dich.

Dr. Frankenstein und ihr Ungeheuer.

Das konnte einem Fünfundzwanzigjährigen schon zu Kopf steigen.

Die einzige Nebenwirkung besteht darin, dass ich jetzt zum Stehlen neige. Nachdem ich einmal auf Kleptomanie verfallen war, wollte ich sie nicht mehr missen. Bis heute Abend.

Heute, zehn Jahre später, gehe ich durch die Stadt und hebe den nächsten Kassenzettel auf. Und werfe ihn wieder weg. Nachdem ich meine Probleme zehn Jahre lang versteckt habe, damit die Sozialarbeiterin nicht daran herumpfuschen konnte, brauche ich jetzt nur noch mit irgendeinem Mädchen Cha-Cha-Cha zu tanzen, und schon ist mein chronischer Stehltrieb verschwunden. Die einzige wirkliche Psychose, die ich der Sozialarbeiterin verheimlicht habe, ist von einer Fremden geheilt worden.

Wir haben nur getanzt, sonst nichts. Fertility erzählte von ihrem Bruder und wie das FBI sein Telefon abgehört hatte, sodass sie bei jedem Gespräch mit ihm im Hintergrund das Klicken des staatlichen Tonbandgeräts hörte. Sie wusste schon vorher, dass Trevor sich umbringen würde. Das hatte sie in ihrem ersten Zukunftstraum gesehen. Wir tanzten noch eine Weile weiter. Dann musste sie gehen. Sie versprach, nächste Woche, nächsten Mittwoch, zur gleichen Zeit am gleichen Ort, werde sie wieder da sein.

Heute Abend gehe ich im Foxtrottschritt von einer Straßenlaterne zur anderen. In meinem Kopf läuft ein Walzer. Die Erinnerung an Fertility Hollis ruht in meinen Armen und an meiner Brust. Schließlich komme ich nach Hause. Oben klingelt das Telefon schon wie verrückt. Könnten Schizoide sein, Paranoiker, Pädophile.

Kenne ich alles, möchte ich ihnen sagen. Alles selbst erlebt.

Könnte auch Fertility Hollis sein, die heute vielleicht noch einmal mit mir tanzen will. Die ihren zweiten Eindruck auf mich machen will.

Vielleicht will sie mir von der schrecklichen Arbeit erzählen, mit der sie ihr Geld verdient.

Endlich öffnet sich die Aufzugstür, und ich renne los, um den Hörer abzunehmen.

Hallo.

Die Wohnungstür hinter mir steht noch offen. Der Fisch muss gefüttert werden. Die Vorhänge sind noch nicht zugezogen, während es draußen schon fast ganz dunkel ist. Jeder kann hier reinsehen.

Ein Mann am anderen Ende der Leitung sagt: »Mögest du dein Lebtag nur nützlich sein.«

Ohne nachzudenken, antworte ich: Lob und Preis dem Herrn für diesen arbeitsreichen Tag.

Er sagt: »Mögen deine Mühen alle Menschen in den Himmel bringen.«

Ich frage: Wer ist da?

Und er sagt: »Mögest du sterben, sobald deine Arbeit vollendet ist.«

Dann legt er auf.