Persönliche Vorbemerkung

Den Anstoß für dieses Buch gab Professor Wolfgang Edelstein, einer der führenden Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Bildungs- und Entwicklungsforschung in Berlin. Ihm verdanke ich vor allem die Ermutigung, etwas aufzuschreiben, was in weiten Strecken mehr auf praktischer Lebenserfahrung beruht als auf wissenschaftlicher Forschung.

Soweit es mir möglich war, habe ich aber versucht, die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse einzuarbeiten. Dabei habe ich allerdings auf Anmerkungen oder Querverweise im Text verzichtet. Wenn man versucht, Entwicklung als einen ganzheitlichen Prozess zu verstehen und zu beschreiben, berührt man logischerweise alle Themen der Entwicklungs- und Erziehungsforschung: Es geht um Denkpsychologie genauso wie um Emotionspsychologie, um die Entwicklung der sozialen Kompetenz ebenso wie um die Entwicklung der Identität, um den Einfluss von Schule, Unterricht und Elternhaus und um den Einfluss von Gleichaltrigen. Es geht um Stichwörter wie Entwicklungsaufgaben, Entwicklungskrisen, Sozialökologie, Kinderkultur, Mediennutzung usw. Das heißt, dass eigentlich fast in jedem Satz mindestens ein Verweis zur wissenschaftlichen Literatur sinnvoll gewesen wäre. Das wollte ich dem Leser ersparen. Die nur scheinbar übergangenen Wissenschaftler bitte ich um Verständnis und Nachsicht. Wer wissenschaftliche Querverweise sucht, wird in der neuen Ausgabe der Entwicklungspsychologie von Rolf Oerter und Leo Montada, im Handbuch der Kindheitsforschung von Manfred Markefka und Bernhard Nauck sowie in Was für Kinder vom Deutschen Jugendinstitut die Wegweiser zu den wissenschaftlich belegten Fakten finden, die in dieses Buch eingeflossen sind.

In erster Linie hat mir dennoch die erwähnte praktische Lebenserfahrung die Feder geführt. Sie hat mehrere Wurzeln: Wenn man schon bei seiner Geburt zwei ältere Geschwister hat und dann noch mal drei nachkommen, ist die Entwicklung von Kindern wohl von klein an ein wichtiges Lebensthema. Dazu kommt, dass ich von Anfang an von Kindern aus verschiedenen sozialen Schichten und Kulturen umgeben war. Ich bin in Kolumbien geboren und meine Kindheit spielte sich zwischen deutschen und kolumbianischen Kindern, zwischen Familien in relativem Wohlstand und Kindern einer Slumsiedlung ab, teilweise in der Großstadt, teilweise auf dem Land. Unsere Eltern, die selbst mit jeweils vier Geschwistern im Deutschland zwischen den Weltkriegen aufgewachsen waren, hatten ein unglaubliches Vertrauen in unsere kindlichen Instinkte und haben uns – in Grenzen, aber trotzdem reichlich – Freiheit zugestanden.

Mit 11 Jahren kam ich nach Deutschland und erlebte hier, wie deutsche Kinder im Wirtschaftswunder lebten – und wie die Freiheiten deutscher Kinder immer mehr beschnitten, ihre Lebensräume immer weiter eingegrenzt wurden.

Meine Verbindung zu verschiedenen Kulturen und ihren Kindern ist bestehen geblieben und hat sich sogar erweitert. Und Kinder sind mein Beruf geworden. Vor allem die so genannten schwierigen, verhaltensauffälligen Kinder. Zum Glück hatte ich durch meine drei eigenen Kinder, ihre unzähligen Freunde und Klassenkameraden und durch die Kinder von Verwandten und Freunden immer den Vergleich mit »normalen« Kindern. Sie haben mich gelehrt, zwischen den ganz normalen, altersbedingten »Verhaltensauffälligkeiten« von Kindern und den wirklichen seelischen Hilferufen, die sich hinter den echten Verhaltensstörungen von Kindern verbergen, zu unterscheiden. Im alltäglichen Zusammenleben mit Kindern wurde aber auch zunehmend spürbar, wie sehr Kindheit in unserer modernen, technisierten Kultur »verkarstet«, an Lebendigkeit verliert.

Welche »Auffälligkeiten« »normal« sind und wo sich die Lebensbedingungen von Kindern in unserer Kultur so verändert haben, dass Kinder offenbar gar nicht mehr normal sein können, wurde in Gesprächen mit Eltern, Lehrern, Erziehern, Studenten und Erwachsenen aus verschiedenen Kulturen immer deutlicher. Besonders in den Gesprächen mit Johannes Bleek und den anderen Kolleginnen und Kollegen der Sophienpflege in Tübingen, den Studentinnen und Studenten der Fachhochschulen in Reutlingen und Potsdam sowie Erzieherinnen und Erziehern aus verschiedenen Generationen und Kulturen ist mir das immer klarer geworden.

Die Frage, ob es auch nach dem Kleinkindalter für die seelisch-emotionale Entwicklung der Person noch bestimmte Gesetzmäßigkeiten und Erfordernisse gibt, wurde zur Zeit meines Studiums von der wissenschaftlichen Psychologie nicht gestellt, und ich habe den Eindruck, dass dieses Thema trotz der neueren Forschungen immer noch unbeantwortet im Raum steht.

Es waren nicht zuletzt die Gespräche mit Waldorflehrern, die mich darin bestärkt haben, dass sich Menschen nicht nur körperlich und intellektuell, sondern auch seelisch-emotional, das heißt auch in ihren Interessen und Lebensbedürfnissen nach Gesetzmäßigkeiten entwickeln, die altersabhängig sind. Ein Kern der Pädagogik Rudolf Steiners ist nämlich, dass Kinder aufgrund ihrer inneren Entwicklung in bestimmten Altersstufen besonders offen und emotional empfänglich sind für bestimmte Lebensthemen. Die Frage lag also nahe, ob und welche altersspezifischen Lebensbedürfnisse von Kindern außerhalb der Schule und außerhalb des Einflussbereichs von Erwachsenen für die Entwicklung wichtig sind.

Schließlich hat mich eine weitere Lebenserfahrung auf die Bedeutung von Gefühlserfahrungen in der Kindheit aufmerksam gemacht: meine Psychodrama-Ausbildung bei Heika Straub am Moreno-Institut in Stuttgart und die Arbeit in und mit Psychodrama-Gruppen. (Psychodrama ist ein psychotherapeutisches Verfahren, in dem Lebensszenen, die in irgendeiner Form prägend oder entscheidend gewesen sind, von den betroffenen Menschen noch einmal nachgespielt werden. Dabei wird deutlich, wie intensiv Gefühle aus der Kindheit bis ins Ewachsenenalter nachwirken und wie lebendig und unmittelbar sie auch nach vielen Jahren noch erlebt werden, wenn der Zugang zu ihnen freigelegt wird. Das gilt für negative Gefühle genauso wie für positive.)

Hinter meinen Gedanken stehen also neben den im Literaturverzeichnis aufgeführten Büchern vor allem viele Menschen aus sehr verschiedenen Lebensbezügen. Sie alle haben an diesem Buch ebenso »mitgeschrieben« wie alle Kinder, die mit ihren Geschichten vorkommen. Wer sich konkret hinter den Geschichten verbirgt, ist nicht mehr zu erkennen: Zum einen spielen sich viele Begebenheiten bei verschiedenen Kindern in ähnlicher Form ab, zum anderen sind selbstverständlich alle Namen und andere »persönliche Kennzeichen« frei erfunden. Außerdem sind die meisten der erwähnten Kinder längst keine Kinder mehr.

Auch meine drei Kinder sind inzwischen erwachsen. Ohne sie hätte ich den inneren Faden zur Kindheit, der dieses Buch zusammenhält, wahrscheinlich längst verloren. Und ohne Hinrich, ihren Vater, hätte es etliche Erfahrungen von spannender, komischer, lustvoller Kindheit in unserer Familie nicht gegeben. Er hat uns vorgelebt, dass man als Eltern ab und zu den »erwachsenen Pädagogen« getrost abstreifen darf, um über das eigene innere Kind einen unmittelbareren Kontakt zu seinen Kindern zu knüpfen.

Euch also – und nicht zuletzt auch den Lektoren des Kösel-Verlags, Dagmar Olzog und Gerhard Plachta – ist dieses Buch zu verdanken!