Große Kinder heute

Über Kleinkinder wissen wir relativ viel. Sie hängen noch am Rockzipfel der Erwachsenen, sind ihnen nah, fordern sie, beschäftigen sie seelisch, geistig und körperlich. Kleine Kinder sind für die Erwachsenen insofern anstrengend, als man sie nicht sich selbst überlassen kann. Also haben Erwachsene seit eh und je ein ureigenes Interesse daran, etwas über die Kinder, mit denen sie unentwegt zu tun haben, zu erfahren, aber auch daran, ihre Erfahrungen weiterzugeben. Ob am Sandkasten oder in wissenschaftlichen Kongressen, es ist für sie wichtig, sich auszutauschen. Entsprechend gibt es unzählige Forschungsergebnisse, viele Bücher und inzwischen auch Filme über die Entwicklung von Kindern zwischen 0 und 6 Jahren.

Auch über Jugendliche ab etwa 14 Jahren gibt es verhältnismäßig viel Literatur und noch mehr Gespräche. Jugendliche ecken an, provozieren, machen Sorgen, reiben sich an den Erwachsenen, fordern sie heraus, gehen ihnen auf die Nerven. Also wecken sie das Interesse der Erwachsenen und folglich befassen sich Erwachsene, wahrscheinlich seit Menschengedenken, mit den spezifischen Erscheinungsweisen des Jugendalters.

Über das Alter zwischen 7 und 13 gibt es bisher nur wenig Literatur. Erstaunlich wenig! Ich meine Literatur, die sich mit der Entwicklung und vor allem mit den Lebensbedürfnissen von Menschen in dieser Lebensphase befasst. Irgendwie werden Kinder, sobald sie in die Schule kommen, nur noch aus der erzieherischen Erwachsenenperspektive wahrgenommen.

Denn natürlich gibt es jede Menge Bücher, Artikel, Broschüren, auch Kongresse und Forschungsprojekte, deren Inhalt Kinder zwischen 7 und 13 Jahren sind. Nur geht es dabei fast immer um die Frage, wie man Kindern in dieser Altersstufe in Schule und Freizeit am effektivsten irgendetwas beibringen kann: angefangen vom Schreiben und Lesen bis zum Umgang mit Computern, von der Mengenlehre bis zur speziellen Mathematik für Mädchen, vom »kreativen Malen« bis zum »Training sozialer Kompetenz«, vom Spielturnen bis zum Leistungssport.

Auch über Heil- und Therapieverfahren kann man viel lesen und lernen: von der Ritalin-Pille bis zur Spezialdiät gegen Hyperaktivität, von Stressreduktionskursen bis zu Biofeedback bei Muskelverkrampfungen, vom Neurolinguistischen Programmieren bei Prüfungsängsten bis zu Konzentrationstraining, von Krankengymnastik bei Haltungsschäden bis zur tiefenpsychologischen Spieltherapie. Die Bandbreite von Techniken, um Kinder so zurechtzuformen, wie wir es für richtig halten, oder ihnen aus seelischen Sackgassen zu helfen, ist eindrucksvoll. Werden noch die entsprechenden Klagelieder über die zunehmenden Verhaltensstörungen von Kindern schon in den ersten Schuljahren dazugerechnet, hat man schnell eine ganze Bibliothek über die Probleme, die Erwachsene mit Kindern zwischen 7 und 13 Jahren haben, beisammen.

Trotzdem werden die Symptome schlimmer. Eltern, Lehrer und Erzieher beklagen verstärkt, dass immer mehr und immer jüngere Kinder massiv auffällig werden: Aggressivität, nicht nur gegen andere in unglaublich brutaler Form, sondern auch gegen sich selbst bis hin zu Selbsttötungsversuchen, Ängste, Konzentrationsstörungen, motorische Unruhe, chronische Krankheiten, Schulverweigerung, Interesselosigkeit, emotionale Leere, Kontaktstörungen, Unberechenbarkeit, Schwer-Erziehbarkeit, Delinquenz, Drogenkonsum ... Die Liste wird immer länger, die Störungen werden immer schlimmer und sie treten in allen sozialen Schichten auf.

Allerdings werden diese drastischen Formen von Auffälligkeiten fast ausschließlich in industrialisierten Regionen mit hohem technologischen und sozialen Standard beobachtet. Unbestreitbar hat das, was in den Taten der Kids unserer modernen Welt mitschwingt, tatsächlich eine ganz neue, »moderne« Qualität: Es ist etwas anderes als die in dieser Altersstufe durchaus »normale« und altbekannte Form von kindlicher Ungezogenheit, Frechheit, Schulfaulheit oder Drückebergerei. Auffallend ist für mich vor allem in Deutschland, dass immer weniger Kinder von innen heraus fröhlich und unbeschwert sind. Viele Jungen und Mädchen wirken tief unzufrieden, obwohl sie »alles haben«.

Woran liegt das? An der beruflichen Überlastung von Vätern und Müttern? An deren Arbeitslosigkeit? An Scheidungen und fehlenden Vätern? An zu verwöhnender oder zu strenger Erziehung? Am Leistungsdruck in der Schule? Das sind die Gründe, die bisher hauptsächlich angeführt wurden. Aber all das ist nicht neu und nichts, was nur in industrialisierten Regionen vorkäme! Liegt es an der »Verstädterung von Kindheit«? Auch Städte sind nichts Neues, und es gab und gibt unzählige Kinder, die in Städten aufgewachsen und dennoch unbeschwert, fröhlich und »normal« geblieben sind. Außerdem beklagen sich Lehrer an Dorfschulen genauso wie ihre Kollegen in der Stadt über zunehmende Verhaltensauffälligkeiten ihrer Schüler. Daran allein kann es also auch nicht liegen. »Neu« ist zweifellos der Verkehr, der die Kinder in Stadt und Land von den Straßen verdrängt hat, und neu und modern sind Fernseher, Computer und technisierte Spielzeuge, mit denen sich die Kinder die Zeit vertreiben. Tatsächlich sind Kinder im Schulalter die absoluten Rekordhalter, was die tägliche Fernseh- und Computerspielzeit betrifft. Aber auch Fernsehen und Computer allein können nicht der Grund dafür sein, dass Kinder so anders sind als früher. Warum schauen sie denn so viel fern, spielen sie so borniert mit ihren Gameboys und haften so an ihren Nintendospielen? Ist womöglich das Fernsehen und Computerspielen noch das Einzige, was reizvoll ist an Kindheit? Was war denn sonst reizvoll an Kindertagen?

In neueren Untersuchungen zum Freizeitverhalten von Kindern im Schulalter stellte sich heraus, dass Kinder sich durchaus anderes wünschen, als immer nur zu Hause vor dem Fernseher oder den Bildschirmen zu hocken. Sie wünschen sich vor allem mehr Platz, mehr Natur und weniger Verkehr, um mit anderen Kindern zu spielen.

Aber auch ohne Autos, Fernsehapparate oder Computer hätten es Kinder nicht leicht, sich spontan und zu mehreren zum Spielen zu treffen. Viele Kinder sind heute nämlich in feste Termine eingebunden: Morgens ist Schule und nachmittags ist entweder Hort, Töpfern, Geigespielen, Reiten, Schwimmen, Fußball, Krankengymnastik oder die Kiefernorthopädin an der Reihe: Nach einem festen Zeitplan werden moderne Kinder von einem Erwachsenen zum anderen gereicht und dabei sozusagen von einem Käfig in den nächsten gesperrt.

Dagegen rebellieren sie. Gott sei Dank!

Auf verschiedene Arten: Die einen versuchen aus dem Käfig »auszubrechen« und schlagen und beißen sozusagen wild um sich. Mit aller Kraft entziehen sie sich dem pädagogischen Zugriff der Erwachsenen und sind »schwer erziehbar«. Auch die zweite Form der Rebellion kennen wir aus der Käfighaltung von Tieren: Aggressionen gegeneinander oder gegen sich selbst – Sucht ist einer von vielen Wegen, sich selbst zu zerstören. Und auch die dritte Form der Rebellion ist bei Kindern nicht anders als bei Käfigtieren: Sie werden stumpf, apathisch, depressiv – oder umgekehrt: motorisch unruhig, nervös, hyperaktiv.

Die Erwachsenen erschrecken und versuchen das Fehlverhalten abzustellen: Die einen fordern wenn möglich geschlossene Erziehungsanstalten und meinen damit, dass die Kinder noch enger an die Leinen genommen werden sollen. Die anderen glauben, die Probleme der Kinder könnten nur durch intensivere Beschäftigung gelöst werden, sie fordern »mehr Programm« in allen Lebensbereichen und tun damit nichts anderes, als immer mehr Ablenkungsgegenstände in den Käfig zu werfen. Die dritten wollen sozusagen die Käfige aufreißen und die Kinder in eine unbegrenzte »Freiheit« entlassen und unterschätzen dabei, wie gefährlich für Körper und Seele eine schutzlose Freiheit ist. Andere wiederum fordern Therapie und meinen damit oft, dass das Kind so repariert werden soll, wie Erwachsene sich »normale Kinder« eben vorstellen: folgsam, konzentriert, fleißig, erfolgsorientiert, aufgeschlossen, freundlich, sozial anerkannt, friedfertig, aber nicht konfliktscheu.

»Kinder an die Macht« ist ein weiterer Lösungsvorschlag von Erwachsenen. Das ist zynisch. Denn wer im Käfig sitzt, kann sich nicht selbst befreien. Nein: Es ist Sache der Erwachsenen, für das Wohl der Kinder zu sorgen, die Bedingungen zu schaffen, in denen sich jedes Kind innerlich und äußerlich frei, aber geschützt zu einer individuellen, stabilen Persönlichkeit entwickeln kann.

 

Sigmund Freud hat das Alter zwischen 5 und 12 als »Latenzperiode« bezeichnet, das heißt, als eine auffallend unauffällige Lebensphase, in der nichts besonders Wichtiges für die Entwicklung der Persönlichkeit geschieht. Freuds Meinung wirkt leider in der Haltung vieler Entwicklungspsychologen bis heute nach. Es spricht allerdings viel dagegen, dass es im Leben von Kindern, die unter einigermaßen altersgerechten Bedingungen aufwachsen, innerlich und äußerlich besonders ruhig, unbedeutend und langweilig zugeht. Und ebenso viel spricht dagegen, dass diese Zeit für die Entwicklung der Persönlichkeit weniger entscheidend sein soll als die frühe Kindheit und das Jugendalter.

Wie entscheidend die frühen Kinderjahre für die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen sind, haben Sigmund Freud und seine Nachfolger aus den krankhaften Persönlichkeitsstörungen bei Erwachsenen geschlossen. Inzwischen ist dieser Zusammenhang in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen worden.

Wie sich eine »verpasste Kindheit« zwischen ungefähr 6 Jahren und der Pubertät auf die Persönlichkeit des Erwachsenen auswirkt, darüber gibt es meines Wissens noch keine einschlägigen Untersuchungen. Aber es gibt deutliche Hinweise:

  • Erwachsene »mit Ausstrahlung«, die in besonderem Maße lebendig, aufgeschlossen, taktvoll, unerschrocken sind, die mit humorvoller Selbstsicherheit auf andere Menschen zugehen, die den Mut haben, gegen den Strich zu denken, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen, die nicht von anderen die Lösung von Problemen erwarten, sondern selbst zupacken, die bereit sind, Verantwortung zu tragen und souverän damit umgehen können, wenn ihnen mal etwas danebengeht, für die Gemeinschaftsarbeit und Teamgeist eine Selbstverständlichkeit sind. Diese Frauen und Männer berichten erstaunlich übereinstimmend von Kindheiten, die voller selbstbestimmter, oft riskanter, manchmal schmerzhafter und dennoch immer lustvoller Spiele und Abenteuer gemeinsam mit Freunden waren.

  • Erwachsene dagegen (besonders viele der jüngeren Generation!), die durch phantasieloses Angepasstsein, fehlende Eigeninitiative, durch unausgeglichene Gefühlsausbrüche aller Art, durch Sucht nach gefühlsintensiven Erlebnissen auffallen, die unter einer eigentümlichen emotionalen Leere, oft gekoppelt mit Angstgefühlen, an Kontaktschwierigkeiten und Selbstwertstörungen leiden, haben kaum Erinnerungen an selbstbestimmte, gefühlsintensive Abenteuer und Erlebnisse gemeinsam mit einer Gruppe von Gleichaltrigen.

Die Sehnsucht nach verpassten Gefühlen und Kindheitserlebnissen bohrt aber offenbar weiter. Es ist auffallend, dass in den Industrienationen »Extremabenteuer« für Jugendliche und junge Erwachsene ein einträgliches Geschäft geworden ist: »Extrem«expeditionen, »Extrem«skifahren, Geländerallyes, Trekking, Rafting, Freeclimbing oder das »Abenteuer«, sich an einem Gummiseil hängend von einem Kran oder einer Brücke in die Tiefe zu stürzen, zeigen die Sucht nach »Feeling«, die Sehnsucht danach, endlich mal ein echtes Gefühl, den »Kick« zu erleben.

Wahrscheinlich saßen die Jungs (und Mädchen!) in dem Alter vor der Glotze, als es möglich gewesen wäre, bei einem tiefen Sprung von einem eroberten Pfosten, vom Baum in den Laubhaufen, beim Treffen in einem heimlichen Lager, beim Versteckspielen im Dunkeln hautnahe, prickelnde Gefühle zu erleben. Und wahrscheinlich hat das, was sie am Bildschirm »erlebten«, zwar die Lust auf Erlebnisse geschürt, aber die schwelende Hoffnung wurde nie eingelöst. Als Erwachsene versuchen sie dann den unbefriedigten Erlebnishunger zu stillen. Trotz aller Mühen und Extreme werden sie aber letztlich wohl nicht mehr auf ihre Kosten kommen. Zumindest muss im Vergleich zu der Zeit, als sie noch Kinder waren, sehr dick aufgetragen werden, um die ersehnten Gefühle auch nur annähernd zu erreichen. Der zunehmende Konsum von Drogen, mit deren Hilfe Gefühle intensiver und länger anhaltend erlebt werden sollen, ist ein weiteres Anzeichen dafür, dass immer mehr junge Menschen tief im Innern unter einem schalen, farblosen Gefühlsvakuum leiden und alles versuchen, um ihre Gefühle wachzurütteln und bunter zu machen.

Offenbar liegt der richtige Zeitpunkt für die Entstehung einer breiten Palette von wichtigen und tiefen Gefühlen und Lebenserfahrungen in der Zeit zwischen Schulreife und Pubertät. Und wie es scheint, ist ein Zu-Spät leicht ein Nie-Mehr.

 

Was also brauchen Kinder, um aus sich heraus zu ausgeglichenen, ansprechbaren, fröhlichen, emotional lebendigen, lebensbejahenden und nicht nur körperlich, sondern auch seelisch gesunden und widerstandsfähigen Menschen heranzuwachsen? Um das zu erfahren, müssen wir versuchen herauszufinden, was für große Kinder, für Kinder zwischen etwa 7 und 13 »normal« ist, welche natürlichen Lebensbedürfnisse sie haben, welchen Lebens- und Bewegungsraum sie brauchen, welche Erfahrungen für ihr Alter normal und für ihre Entwicklung wichtig sind.

Was wirklich alterstypisch und für eine natürliche Entwicklung notwendig ist, erkennt man am besten, wenn man Kindheiten aus verschiedenen Zeiten und Kulturen miteinander vergleicht. Gespräche mit Erwachsenen aus verschiedenen Generationen und unterschiedlichen Ländern sind wertvolle, lebendige Quellen. Schriftliche Lebenserinnerungen geben Einblicke in Kindheiten aus unterschiedlichen historischen und sozialen Zusammenhängen. Die Beobachtung von Kindern in Gegenden, in denen sie noch in gewissem Maße ein »Eigenleben« führen, liefert Hinweise dafür, was Kinder auch heute noch treiben und tun würden, wenn sie Gelegenheit dazu hätten.

Dort wo Kinder »natürlich« leben, besonders in den Entwicklungsländern, ist der technische Fortschritt häufig noch nicht sehr weit entwickelt. Damit verbunden ist, dass auch die sozialen Verhältnisse aus unserer Sicht oft problematisch und »unterentwickelt« sind. Und das heißt für uns Mitteleuropäer fast automatisch, dass Kinder in diesen Verhältnissen ihrer Kindheit beraubt werden, weil sie unterdrückt und zur Arbeit gezwungen sind und in Armut leben müssen.

Das stimmt. Aber es stimmt nur teilweise. Denn zum einen sind auch in »Entwicklungsländern« Kinder nicht durchwegs bettelarm, geschweige denn zu ausbeuterischer Arbeit gezwungen, genauso wenig, wie es alle europäischen Kinder früherer Zeiten waren. Zum anderen kommen auch in den Lebenserinnerungen von Menschen, die in sehr armen Verhältnissen aufgewachsen sind und die als Kinder hart drangenommen wurden, neben diesen düsteren Seiten durchaus positive, intensive Erinnerungen an ein selbstbestimmtes, erlebnisreiches Kinderleben vor, aus denen sie als Erwachsene spürbar noch Kraft schöpften. Im Kern gute Erfahrungen, die für viele Kinder unserer Tage unerreichbar geworden sind.

Mit Kindheit ist es vielleicht wie mit der Umwelt: Der technologische Fortschritt hat viel zerstört. Wenn wir das verloren gegangene Leben wiederherstellen wollen, müssen wir zwar zurückschauen, um zu sehen, was eine gesunde, ausgeglichene Natur braucht. Das heißt nicht, dass wir das Rad der Geschichte zurückdrehen müssen. Das ginge auch gar nicht. Wir müssen aber nach Möglichkeiten suchen, wie wir die verlorene Lebendigkeit zurückgewinnen können, ohne damit auf die Errungenschaften des Fortschritts verzichten zu müssen.

In diesem Sinn möchte ich mit diesem Buch versuchen, dem Rad der Geschichte einen kleinen Schubs nach vorn zu geben, in der Hoffnung, dass eines Tages die Kinder in unserer Gesellschaft wieder so leben können, wie sie es für eine natürliche und gesunde Entwicklung brauchen.