In jeder Lebensphase lernt das Kind ein anderes wichtiges Ordnungsprinzip unserer Welt kennen. Der Säugling muss zuerst die Grundbeschaffenheit der Dinge auf der Welt begreifen: fest oder weich, kalt oder warm, trocken oder nass, essbar oder ungenießbar, vertraut oder fremd. Das Vorschulkind bekommt allmählich einen Begriff von Farben, Zahlen, Zeitmaßen, Lebensalter, von mein und dein. In der Lebensphase zwischen etwa 7 und 13 Jahren geht es darum, die grundlegenden sozialen Strukturen der Welt kennen zu lernen, sie auszuprobieren und zu begreifen.
Große Kinder beschäftigen sich sehr intensiv damit, herauszufinden, was »fair« ist und was »echt gemein«. »Das ist ungerecht« ist die ständig wiederkehrende Empörung in diesem Alter. Die Fragen nach dem sozialen Miteinander ziehen sich durch alles, was sie tun und interessiert: Kinder im Schulalter unterhalten sich darüber, was hinter Begriffen wie »Beleidigung«, »Ehre«, »Bescheidenheit« und »Angeberei« steht. Wenn sie miteinander spielen oder gegeneinander antreten, testen sie mehr oder weniger bewusst aus, was Unterdrückung, Betrug, Hinterhältigkeit, Treue, Verlässlichkeit und Anständigkeit ist. Sie wollen erleben, wie sich Vertrauen anfühlt, wie Verrat, wie Rücksichtnahme und Skrupellosigkeit, wie Verächtlichkeit und Bewunderung, wie Rache und Vergebung.
Die Bücher und Filme, die sie spannend finden, drehen sich fast immer um die Frage, was anständigess, faires und soziales Verhalten (und das Gegenteil davon) ist. Wenn sie Erwachsene beobachten (und das tun sie fast immer, wenn Erwachsene anwesend sind), wenn sie mit ihnen reden, arbeiten oder sie ärgern, geht es sehr oft darum, herauszufinden, wie sich Erwachsene im Umgang mit anderen Erwachsenen, Kindern und Tieren verhalten. Kinder sind außerordentlich empfindsam für die innere Haltung der Erwachsenen. Schon am Ton, mit dem Erwachsene über andere sprechen, bekommen Kinder untrüglich mit, welche Einstellung hinter ihren Worten steht: Wenn die Mutter über ihre Kollegin herzieht, spüren die Kinder, dass in ihren Worten Verächtlichkeit, Hochmut, aber auch Selbstbewusstsein mitschwingen. An der Art, wie ein Vater oder Lehrer über Ausländer redet, lernen Kinder, wie man als Erwachsener wohl über Ausländer zu denken »hat«.
Wie genau Kinder die innere Haltung von Erwachsenen erfassen und wie sie Erwachsene nach ihrem sozialen Verhalten einordnen, ist in vielen Lebenserinnerungen nachzulesen (aber auch jeder von uns erinnert sich an die eigenen »Nett-« und »Blöd-«Schubladen, in die wir als Kinder Erwachsene einsortiert haben).
Hier zwei Beispiele von Wladimir Lindenberg, der in einer russischen Adelsfamilie aufgewachsen ist, in der Gäste eine große Rolle spielten. Er war ungefähr 8 Jahre alt, als er folgende Beobachtungen machte:
Und da waren Bobiks liebste Gäste ... die nichts anderes waren als Kinder, die zufällig groß geworden waren. Sie brachten eine Atmosphäre von warmer Freundlichkeit mit ... Sie gingen auch zuerst zu dem Hundezwinger und sprachen mit den Tieren ... es war einfach herrlich, mit diesen großen Kindern zu spielen. Das waren die einzigen Gäste, die »natürlich« waren, die nicht redeten wie die Papageie, die zuhörten, die freundlich blieben, auch wenn sie mit den anderen nicht einer Meinung waren, die nicht zankten und nicht versuchten, die anderen zu überschreien. (Lindenberg, S. 96 f.)
Dagegen die Beobachtung dieser Dame:
Die häßliche Kutusowa hatte offenbar jemanden zwischen ihren Zähnen, man fühlte es förmlich, wie sie seine Person, seine Ehre, seine intimen Verhältnisse zerbiß und zerkaute. Alle hatten Angst vor ihr, und man hörte ihr aufmerksam und devot zu, um sich in gutes Licht bei ihr zu stellen. Das nutzte absolut nichts, sobald sie sich umdrehte und einem anderen zuwandte, klatschte sie bereits über den Vorgänger. Onkel Iwan sagte zu Bobik: »Solche Leute hat man früher verbrannt.« Das fand Bobik großartig. Wie schade, daß man es jetzt nicht mehr tat. (Ebd., S. 155)
An diesen Zitaten wird deutlich, dass Kinder sich in ihrer moralischen Bewertung zum einen an dem orientieren, was sie selbst fühlen, dass sie zum anderen aber auch absolut offen und naiv dem zustimmen, was ein Erwachsener, den sie lieben und verehren, äußert.
Wenn Kinder Erwachsene beobachten und bewerten, orientieren sie sich an einem erstaunlich sicheren inneren Kompass, der ihnen anzeigt, was »richtiges«, menschliches Verhalten ist. (Ihr eigenes Verhalten können Kinder altersbedingt dagegen noch nicht so gut bewerten und beurteilen.) All das Schlechte, Unmoralische, Verletzende, Unmenschliche, Verächtliche, Rücksichtslose und Egoistische, was Kinder in der Erwachsenenwelt beobachten, bringt die innere Kompassnadel allerdings immer wieder heftig ins Rotieren. Wenn man aber zum ersten Mal in ein unbekanntes Gelände vordringt, muss man seine Kompassnadel fest auf Kurs halten, damit man sich nicht verirrt. Wenn man loszieht, um das verwirrende Gelände der sozialen Regeln und moralischen Werte überhaupt erst kennen zu lernen, braucht man zunächst klare, einfache und eindeutige Hinweise, die zeigen, wo’s langgeht: Man muss sich an den beiden Polen »gut« und »böse« orientieren können.
Daher rührt die große Vorliebe der Kinder für Geschichten, in denen das Gute über das Böse siegt und in denen die Helden die moralischen Grundwerte ohne Wenn und Aber durchhalten. Ob Old Shatterhand oder Superman: Das Strickmuster ist schlicht und einfach, und es zeigt den Kindern: So ist es richtig, da geht es lang.
In der heutigen Vielfalt der Medien sind diese Grundmuster immer noch zu finden. Aber bei der Menge an Negativem, was da ununterbrochen auf die Kinder einstürzt, gewinnt es in ihrem Kopf die Überhand. Ehe sie sich überhaupt in der Welt der Werte orientieren können, sind sie bereits im Dornengestrüpp der Missachtung und Relativierung von moralischen Regeln verfangen. (Es gibt Untersuchungen, die festgestellt haben, dass viele Kinder bereits bis zum Schuleintritt am Fernseher über 1.000 Morde »miterlebt« haben – ganz zu schweigen davon, wie viel mehr es sind, bis die Kinder 12 oder 13 Jahre alt sind.)
Dazu kommt, dass auch die leibhaftigen Erwachsenen, mit denen die Kinder zusammenleben, zwar wundervolle moralische und soziale Regeln predigen, aber je genauer Kinder die Erwachsenen beobachten, umso deutlicher wird ihnen, dass es mit anständigem und fairem Verhalten bei denen auch nicht so weit her ist. Viele Kinder erleben ständig von den eigenen Eltern oder Lehrern, dass Demütigungen, Misshandlungen, auch Schläge scheinbar etwas »ganz Normales« sind. Kinder müssen deshalb austesten, welche Regeln denn nun wirklich im Umgang miteinander gelten. Deshalb verstoßen sie selbst immer wieder gegen alle Regeln. Sie wissen ja noch nicht, was wirklich »zu weit« geht und was gerade noch hinnehmbar ist. Sie probieren die Grenzen aus, indem sie die Erwachsenen provozieren und die Klassenkameraden (und andere Lebewesen) drangsalieren.
Um herauszubekommen, was die Erwachsenen noch »in Ordnung« finden und was schon »richtig schlimm« ist, erfinden Kinder die unmöglichsten Dinge. Wilhelm Busch hat in Max und Moritz ein Lied davon gesungen. Ein harmloseres Beispiel ist dieser originelle Einfall, den Max Kruse und seine Freunde um das Jahr 1864 herum in Berlin hatten:
Einen Witz hatten wir, der unser ganzes Stadtviertel in Aufregung versetzte. Wir konnten Kanonenschüsse nachmachen und das bewerkstelligten wir folgendermaßen: Unser Spielplatz war ... auch noch Holzplatz, und da gab es riesige vierzöllige Bohlen. So eine Bohle wurde nun mit Böcken und Stangen senkrecht aufgestellt, dann wurde sie langsam zum Kippen gebracht, und nun war das Kunststück, auf der fallenden Bohle so schnell und so hoch wie möglich hinaufzulaufen, dann gab’s einen donnerähnlichen Knall auf dem Sandboden. Wir haben oft, wenn uns die blauen Kalitten (die Schutzleute) nicht vorher verscheuchten, 101 Kanonenschüsse abgegeben und alles in helle Aufregung versetzt über die glückliche Geburt eines Thronfolgers! (Kruse, S. 51)
Viele Erwachsene halten Regelverletzungen von Kindern für Anzeichen von Charakterschwäche. Um »Scheiß zu bauen«, muss ein Kind aber Ideen haben, Initiative entwickeln, eigenständig handeln können und nicht zuletzt Mut aufbringen. Sind das nicht Eigenschaften, die unter Erwachsenen als Zeichen von Charakterstärke gelten?
Wo haben Kinder heute aber noch unbewachten Bewegungs- und Spielraum, um auf solche Ideen zu kommen wie Max Kruse und seine Kumpel? Müssen unsere modernen Kinder nicht mit ihrem Bedürfnis, auf eigene Initiative und eigenes Risiko gegen »Regeln« zu verstoßen, auf abgegriffene, phantasielose Aktionen zurückgreifen, wie Klingelstreiche, Rauchen, heimliches Fernsehen, Alkoholtrinken, Klauen (aus offenen Regalen, was kein »Kunststück« ist!)? Oder bleibt ihnen nur, damit die Erwachsenen wirklich einmal alarmiert reagieren und aufhorchen, gelegentlich »richtig brutal« zu sein? So wie die »Bösen« im Fernsehen? Und holen nicht viele die verpassten »Streiche« – in erheblich schärferer Form – nach, wenn sie »alt genug« sind?
Wenn sich Kinder »unmöglich« benehmen, regen sich viele Erwachsene maßlos auf und erheben heftige Vorwürfe. Sie gehen davon aus, dass das Kind doch wissen müsste, was Recht ist und was Unrecht. Dabei wird übersehen, dass hinter dem Fehlverhalten eines Kindes sehr oft die einfache Frage an uns Erwachsene steht: Geht das schon zu weit? Es wäre für alle Beteiligten viel einfacher, wenn es uns häufiger gelänge, auf diese Frage unaufgeregt zu reagieren und klar und deutlich, aber liebevoll zu signalisieren: So geht es nicht! Und die Kinder würden sich beruhigt trollen.
Wenn man herausfinden will, was im Zusammenleben von Menschen in Ordnung ist und was zu weit geht, sind gleichwertige Partner der beste Maßstab. In Gruppen und Grüppchen, Banden und Cliquen und in verschworenen Einzelfreundschaften entwickeln Kinder ihre eigenen Regeln und Gesetze und spielen mit Strenge und Nachsicht. Sie probieren aus, was für einen anderen noch zumutbar ist und wo die Grenzen überschritten sind, sie erfahren im Zusammensein, welche Umgangsformen gut tun und welche schmerzen. Dabei lernen sie auch abzuwägen und nach und nach die persönliche Situation des Einzelnen zu berücksichtigen. Bis dahin aber ist es ein weiter Weg, an dessen Anfang ziemlich harte und gnadenlose, gelegentlich sogar grausame Prinzipien und Umgangsformen stehen können.
Kinder unter etwa 12 Jahren sind in ihren Wahrnehmungen und Aktionen noch sehr selbstbezogen und können ihr eigenes Verhalten nur aus der eigenen Perspektive sehen. Deshalb wirken manche Verhaltensweisen unter Kindern rücksichtslos und egoistisch. Erst im Jugendalter sind die meisten Menschen so weit entwickelt, dass sie sich in die Situation eines anderen hineinversetzen und die Gefühle und Probleme des anderen bedenken und verstehen können. Dazu muss man in der Lage sein, sich selbst zurückzunehmen und die Dinge aus einer »höheren« Warte anzuschauen, in der die Situation aller Betroffenen wie von außen betrachtet und analysiert wird. Kinder können das noch nicht, Kinder stecken mittendrin.
Wenn Kinder in Gruppen zusammen sind, »spielen« sie mit sozialen (und unsozialen) Verhaltensweisen. Da geht es darum, ob es einen »Bestimmer« gibt oder ob alle »gleichberechtigt« sind. Es geht um Macht und Unterdrückung, um das Dazugehören und Ausschließen. Sie probieren aus, wie man Konflikte lösen kann: Gilt das »Gesetz des Stärkeren«, das Wort des »Bestimmers«, zählt man aus, lässt man das Los entscheiden oder gelingt es in gemeinsamen »Beratungen«, einen Konsens zu finden?
Die sozialen Erfahrungen, die Kinder in ihren Gruppen (ohne Erwachsene!) sammeln, sind außerordentlich wichtig:
Zum einen spielen die Kinder nach, was sie in der Erwachsenenwelt beobachten. Damit probieren sie aus, wie sich die Umgangsformen der Erwachsenen anfühlen und welche Konsequenzen sie haben. Im positiven wie im negativen Sinn: Unterdrückung oder gleichberechtigte Partnerschaft, Diskriminierung oder Annahme, Demütigung oder gegenseitige Achtung, Lösung von Konflikten durch Verhandlung oder durch Gewalt. Letztlich sind diese Erfahrungen auch die Grundlage für die staatliche Ordnung, die die Kinder als Erwachsene für richtig halten werden. Und natürlich dafür, wie sie später mit ihren eigenen Kindern umgehen werden. Vorbild sind die Erwachsenen, an denen sich die Kinder orientieren.
Zum anderen geben sich Kinder in ihren Gruppen eigene soziale Gesetze. Jede Spielregel ist so ein Gesetz. Damit machen Kinder ihre ersten Erfahrungen mit Recht und Gesetz. Sie lernen, was es für die Gemeinschaft heißt, wenn jemand ständig Regeln und Gesetze missachtet. Sie erfahren aber auch, wie lähmend und verkrampfend sich eine allzu engstirnige Regelauslegung auswirkt. Damit üben sie, mit Regeln und Gesetzen vernünftig, sozial und menschlich umzugehen. Das sind soziale Basiserfahrungen, die sich bis ins Erwachsenenleben auswirken (wie viele Erwachsene tun sich schwer damit, das rechte Maß zwischen engstirniger Gesetzesauslegung und allzu unbeschränkter Großzügigkeit zu finden!).
Im gemeinsamen Spiel lernen die Kinder auch ganz automatisch, dass es Situationen gibt, die man nur meistern kann, wenn man sich gegenseitig hilft. Wenn der unterste Ast eines Baumes, auf den man klettern möchte, zum Beispiel zu hoch ist, muss den ersten Kindern, die herauf wollen, von unten hochgeholfen werden. Und das letzte Kind muss sich darauf verlassen können, dass es nicht »hängen gelassen«, sondern dass es von den Freunden, die schon oben sind, hochgezogen wird.
Heutzutage geben moderne Unternehmen viel Geld aus, um ihren jungen Managern beizubringen, was Teamgeist bedeutet. In teuren »Abenteuerseminaren« sollen sie die Erfahrung machen, wie es ist, wenn man ein Hindernis nur gemeinsam überwinden kann, wenn eine schwierige Kletteraufgabe nur mit gegenseitiger Unterstützung zu bewältigen ist. Immer mehr erwachsene junge Männer und Frauen haben noch nie solche Erfahrungen gemacht!
Vielleicht das Wichtigste, was Kinder im Umgang miteinander lernen müssen, ist, die Grenze der Verletzlichkeit bei anderen auszuloten. Leider ist es absolut unvermeidlich, dass sich die Kinder dabei körperlich und seelisch gegenseitig wehtun. Denn das Gespür dafür, wie weit man gehen kann, ist keineswegs angeboren. Das vergessen wir Erwachsenen so schnell. Die Grenzen des Zumutbaren zu kennen, ist aber eine der wichtigsten Grundbedingungen für soziales Verhalten.
In der folgenden Szene, beschrieben von Max Kruse, wird deutlich, wie viele Elemente des sozialen Umgangs in einem unbeaufsichtigten Spiel einer Kindergruppe gleichzeitig »bearbeitet« werden: Eine für heutige Verhältnisse riesige Gruppe von Kindern, die im Alter ziemlich weit auseinander liegen (zwischen 8 und 15), spielen zusammen. Das funktioniert, weil sich alle auf bestimmte Regeln verlassen können: Die Älteren nehmen auf die Jüngeren Rücksicht, und es werden sich nie zwei gleichzeitig auf einen stürzen. In dieser Gruppe gibt es klar bestimmte Positionen: Es gibt »Anführer« und »Gefolgsleute«, »Große« und »Kleine«.
Im Spiel ahmen die Kinder eine Form von »Konfliktlösung« nach, die sie von den Erwachsenen kennen: Etwa 1862 spielen sie in Berlin als »Indianer« »Kampf«. Dass es kaum ernsthafte Verletzungen gibt, hängt damit zusammen, dass die Kinder sehr wohl spüren und austasten, was dem Gegner noch zuzumuten ist und was zu weit geht. Das Wichtigste an diesem Spiel ist aber offenbar das Gemeinschaftsgefühl, diese Gewissheit, gemeinsam dieses Spiel durchgetragen und unbeschadet überstanden zu haben, weil sich alle an die gemeinsamen Regeln und an die unausgesprochenen »ethischen Normen« gehalten haben. Und das wird am Ende gefeiert:
Die ganz große Kinderschar der Nachbarschaft versammelte sich auf unserem Hofe, es waren an die 30 bis 40 Jungens, die da an gewissen Tagen zusammen kamen ... Ich verdanke die Ehre, mitmachen zu dürfen, wohl nur dem Umstand, daß mein Bruder Oskar einer der Häuptlinge war. Unsere Prärien lagen aber jenseits der Straße an der Spree ... Hier wurden furchtbare Schlachten geschlagen; die aufgestapelten Bohlen und Balken waren die herrlichsten Burgen, die belagert werden konnten, zuerst mit Flitzbogen und Wurfspeeren beschossen und dann mit Lanzen berannt: zum Schluß mit Tomahawk und Dolch im Nahkampfe genommen. Es ging nicht sanft zu bei dem Ringen, und man kann nur glauben, daß eine höhere Macht die Kinder schützte, besonders weil es gegen die Ehre gegangen wäre, Verwundungen die Eltern sehen zu lassen ... Nach den Kämpfen ging’s dann wieder über die Straße in unseren großen Hof, und dort wurde ein Kriegstanz vollführt mit ohrenzerreißendem Gebrüll und Gepfeife und zum Schluß die Friedenspfeife geraucht (mit getrockneten Nuß- und Kastanienblättern gestopft) ... (Kruse, S. 24)
Harte Kämpfe im Alter zwischen 8 und 13, ohne dass etwas Ernsthaftes passierte: Das sind Erinnerungen von Männern auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten!
Das ist kein Zufall. Abgesehen davon, dass die Körperkräfte noch nicht voll entfaltet und die Schläge noch nicht gar so gefährlich sind, spüren Kinder in diesem Alter normalerweise intuitiv, wie weit sie gehen können. Nie hätte ein Junge ernsthaft den anderen verletzen wollen, was mit den selbst gebastelten Waffen durchaus möglich gewesen wäre. (Ernsthaftere Verletzungen waren »Ausrutscher« oder Unfälle, die natürlich auch, aber überraschend selten passiert sind). Heute sind diese Auseinandersetzungen ins Jugend- und frühe Erwachsenenalter verlagert, wo zum Beispiel Hooligans gezielt gegeneinander antreten und sich teilweise schwer verletzen.
Wenn Kinder gegeneinander »kämpfen«, geht es darum, die Grenzen zwischen Spiel und Ernst kennen zu lernen. Die Worte von Erwachsenen und Lehr- oder Spielfilme können Kindern nur sehr abstrakt, sehr unpersönlich und deshalb nicht überzeugend vermitteln, wo die Grenze eines anderen überschritten wird. Wann der Punkt erreicht ist, wo man einem anderen wehtut, kann man nur im direkten Kontakt mit ihm spüren lernen. Und nur so können sich letztlich Taktgefühl und Einfühlungsvermögen bilden.
Kinder heute sehen nicht nur Gewalt, sondern auch viele andere Formen des sozialen Miteinanders vorwiegend am Bildschirm oder auf der Leinwand. Von erleben kann da keine Rede sein, denn beim Zuschauen bleibt man aus den sozialen Kontakten ausgeschlossen.
Kinder heute wissen tatsächlich nicht mehr, wie weh ein Tritt tut und dass eine Lippe sehr schnell blutig geschlagen ist. Sie glauben, dass ein ungezügelter Faustschlag oder ein kräftiger Fußtritt etwas ganz »Normales« sind, wenn man sich über einen anderen ärgert. Ahnungslos und unkontrolliert setzen sie dann diese Muster des »sozialen Umgangs« irgendwann unvermittelt ein, wenn sie meinen, sich gegen Gleichaltrige oder sogar Jüngere behaupten zu müssen.
Die Erwachsenen erschrecken über die »maßlose« Aggressivität der Kinder so sehr, dass sie Auseinandersetzungen in Form von Balgereien strikt untersagen. Stattdessen wäre es für die Jungen besser, wenn sie sich tatsächlich aufeinander einlassen könnten und zu ihrer Sicherheit von den Erwachsenen klare Regeln der Fairness für den »Kampf« bekämen. Wir hatten als Kinder zum Beispiel die klare Vereinbarung, dass beißen, kneifen, kratzen, spucken, treten, an den Haaren ziehen und boxen beim Streiten und Kämpfen nicht galten. Jeder kannte diese Reihe und alle hielten sich daran, auch wenn es manchmal zu heftigen Auseinandersetzungen kam – auch unter den Mädchen.
Alle natürlichen Kulturen kennen Kampfspiele mit festen Regeln, in denen Jungen und junge Männer körperliche Auseinandersetzungen üben und lernen, die Grenzen zwischen Spaß und Ernst einzuhalten. Aber welcher Junge traut sich denn heute bei uns noch einen kleinen Ringkampf zu? Sie haben ja selber das Gefühl, dass es unzulässig und gefährlich ist, sich körperlich und, im übertragenen Sinn, auch persönlich aufeinander einzulassen. Außerdem sind nicht wenige Kids schon mit 10 Jahren mit Messern und Ähnlichem bewaffnet, womit eine natürliche körperliche Auseinandersetzung kaum möglich erscheint. Umgekehrt »brauchen« heutige Kinder aus ihrer Sicht wahrscheinlich Waffen, weil sie keine Erfahrung im echten Kräftemessen haben und sich mit ihrer Bewaffnung vor den unbekannten, mithin gefürchteten Auseinandersetzungen schützen wollen. Darüber hinaus haben Waffen einen erstaunlichen Effekt: Man kann andere einschüchtern, ohne auch nur einen Finger zu krümmen, egal wie unsicher und ängstlich man sich insgeheim fühlt.
So weichen Kinder heute eher voreinander angstvoll aus, als sich aufeinander einzulassen. Und so lernen sie weder sich selbst noch die anderen kennen.
Auch Mädchen balgen gern miteinander, auch mit Jungen, die jüngeren lieber als die älteren. Auch Mädchen probieren untereinander die Grenzen der Verletzlichkeit aus. Allerdings spezialisieren sie sich offenkundig eher aufs Innere: Sie schießen offen oder versteckt ihre wohl gezielten Wortgiftpfeile ab und sind dann meistens überrascht, wie sehr sie ins Mark treffen. Auch das sind Erfahrungen, die für Kinder sehr schmerzlich sein können. Dennoch darf man nicht übersehen, dass ein Gefühl für seelische Verletzung ebenso wenig angeboren ist wie das Gefühl für die körperliche Schmerzgrenze. Und so können auch seelische Verwundungen nur im Umgang mit Gleichaltrigen, also gleichartigen Partnern erfahren werden. (Entsprechende »Übungen«, die besonders bei etwa zehnjährigen Mädchen an der Tagesordnung sind, finden Sie im Kapitel über die »Zehnjährigen«.)
Mir fiel immer wieder auf, dass Mädchen, die in einer großen Kinderschar und sehr un(an)gebunden leben konnten, die von sich sagen, sie seien »wie Jungen« gewesen, die so viel körperliche und räumliche Freiheit genossen wie die Jungen, mit denen sie zusammen spielten und balgten, von solchen »giftigen« Auseinandersetzungen nichts berichten.
Weil räumliche Freiheit und körperliche Auseinandersetzungen unter Kindern kaum noch möglich sind, werden dementsprechend die Verletzungen, die sich auch Jungen gegenseitig antun, offenbar »weiblicher«: Mobbing ist das neue Alarmwort in den Schulen und Kinder sind tatsächlich in ihrer Erfindungsgabe oft noch grausamer, als es sich viele Erwachsene vorzustellen wagen. Mit subtilen, giftigen, hinterhältigen Demütigungen wird ausprobiert, was der andere noch aushalten kann. Wenn das Mobbing dann in körperliche Gewalt gegen wehrlose Opfer ausartet, ist das Entsetzen bei den Erwachsenen groß.
Empörung hilft aber den Kindern nicht. Sie suchen ja nach Orientierung und überschreiten dabei – notgedrungen – immer wieder Grenzen. Sie machen so lange weiter, bis sie von den Erwachsenen ein klares »Stopp! Das geht zu weit!« bekommen. Sie wollen ja erfahren, was zu weit geht, sie wollen wissen, wie man sich aneinander messen kann, ohne sich ernsthaft zu verletzen, wie man rechtzeitig »Halt!« signalisiert, ohne wehleidig zu sein, wie man seelische Verletzungen, die passiert sind, wieder gutmachen kann, wie man am anderen Kritik übt, ohne ihn zu verletzen, und wie man streitet, ohne auszurasten. Dafür brauchen Kinder Hinweise von Erwachsenen.
Erwachsene neigen dazu, hauptsächlich die negativen, aggressiven Verhaltensweisen von Kindern zu sehen. Das ist unfair! Denn Kinder sind auch auf der Suche nach der anderen, der positiven sozialen Seite. Wenn sich Kinder anständig, fair, kameradschaftlich, höflich, einfühlsam, bescheiden und rücksichtsvoll verhalten, finden wir Erwachsenen das leider meistens selbstverständlich. Dabei vergessen wir, wie schwierig es ist, sich »sozial« zu verhalten! Und ganz besonders für Kinder, die sich noch nicht so gut in die Situation des anderen versetzen können. Weil soziales Verhalten meistens mit der Unterdrückung von eigenen Interessen zusammenhängt, gibt es immer viel mehr Gründe gegen anständiges, soziales Verhalten als dafür: Soll ich Miriam, die ihre Sammelbilder verloren hat, drei von meinen abgeben? Soll ich dem Lehrer, der vor der Klasse steht und drohend fragt, wer den Kracher in der Pause losgelassen hat, sagen, dass es Peter war, damit klar ist, dass ich so was nie tun würde und damit wir nicht alle nachsitzen müssen? Ist abschreiben lassen gut oder schlecht? Soll ich Ina, die ich nicht mag, die aber unbedingt mit mir spielen möchte, sagen, dass ich keine Zeit habe? Solche Fragen, aus Erwachsenensicht oft Lappalien, können für Kinder zu brennenden Konflikten führen.
Außerdem verkennen wir, dass Kinder erst langsam und im Lauf der Entwicklung in soziales Verhalten hineinwachsen. Das Gefühl dafür, wann und in welcher Form es richtig und notwendig ist, sich für einen anderen einzusetzen, ihm zur Seite zu stehen, zu seinen Gunsten zu verzichten, entwickelt sich erst allmählich. Und noch schwieriger ist es, das richtige Gespür dafür zu bekommen, was man sich selbst zumuten kann, ab wann man auch an sich denken und einem anderen einen Wunsch abschlagen darf oder ihn sogar abschlagen muss, wenn er Unzumutbares verlangt. Das ist eine Frage, für die wir auch als Erwachsene noch immer nach der richtigen Antwort suchen.
Viele Versuche von Jungen und Mädchen, nett zu sein, einem anderen eine Freude zu bereiten, sich für etwas einzusetzen, was anderen dient, anderen zu helfen, verlässlich zu sein, verpuffen aus Sicht der Kinder, weil kein Erwachsener sie registriert oder, schlimmer noch, sie nicht ernst nimmt.
In vielen Lebenserinnerungen gibt es Episoden, in denen ein Kind versucht hat, etwas Besonderes zu tun, sich für etwas einzusetzen und dann durch die Reaktion der Erwachsenen schmerzlich enttäuscht wurde. Ein Beispiel dafür ist Simone de Beauvoir, die am Ende des Ersten Weltkriegs 9 Jahre alt war und sich zur Verfügung gestellt hatte, für belgische Flüchtlingskinder Geld zu sammeln:
Die Geldstücke regneten nur so in mein blumengeschmücktes Körbchen ... Doch eine Frau in Schwarz sah mich finster an: »Warum für die belgischen Flüchtlinge? Und die französischen?« Ich wusste nicht, was ich antworten sollte ... Andere Schwierigkeiten kamen noch hinzu. Wenn ich des Abends den Raum des »Foyer« (die Zentrale des Hilfskomitees) betrat, wurde ich mit Herablassung zu meinem Erfolg beglückwünscht. »Da kann ich ja meine Kohlen bezahlen!«, sagte die Leiterin. (Sie hat tatsächlich nur die Hälfte des von Simone gesammelten Geldes weitergegeben; Beauvoir, S. 28).
Erwachsene ahnen meistens nicht, welche sozialen Kräfte sie mit ihren beiläufigen Missachtungen in den Kindern zerstören. Doch Kinder, die Gutes tun, die zugunsten eines anderen Kindes verzichten, die sich um andere kümmern, die versuchen, in kritischen Situationen freundlich zu bleiben statt auszurasten, hoffen so sehr, dass wenigstens ein geliebter Erwachsener ihre Anstrengungen wahrnimmt und seine Freude und Anerkennung darüber spüren lässt. Das würde schon genügen, um den Kindern zu signalisieren: Da geht’s lang, das ist der richtige Weg.