Erich hatte es geschafft: Gerade 12 Jahre alt geworden, war es ihm nach monate- und nachmittagelangem Üben wirklich gelungen, auf einer zwei Meter langen, nicht angelehnten Leiter auf der einen Seite rauf- und auf der anderen wieder runterzusteigen!
Als er diese Geschichte siebzigjährig seinen Enkeln erzählte, strahlte er immer noch triumphierend, aber auch seine Verwunderung, dass dieses Kunststück überhaupt gelingen konnte, war nicht zu überhören.
Gerd und Kalle, Brüder von etwa 12 und 11 Jahren, verbrachten in ihrer zugepflasterten Wohnsiedlung Nachmittage damit, sich mit dem Fahrrad gegenseitig in die Enge zu treiben. Wer zuerst absteigen musste, hatte verloren. Mit verblüffender Wendigkeit tricksten sie sich in fast aussichtslosen Situationen gegenseitig aus. Nach ein paar Monaten machte das Spiel aber keinen Spaß mehr: Beide konnten so lang auf dem stehenden Fahrrad balancieren, dass schließlich nicht mehr geklärt werden konnte, ob das Absteigen freiwillig oder erzwungen war.
Im wüstennahen Algier haben Albert Camus und sein Freund ein anderes Spiel erfunden, um ihre Kraft und Geschicklichkeit zu messen:
Am großartigsten aber waren die windigen Tage ... Die Terrasse war so gelegen, daß sie an den Tagen, an denen der in Algier immer starke Ostwind sich erhob, mit voller Wucht von der Seite gepeitscht wurde ... Die Palmwedel hinter sich herziehend, liefen sie dann zur Terrasse; der tobende Wind pfiff ... Es ging darum, auf die Terrasse zu steigen, die Palmenzweige hinaufzuziehen und sich mit dem Rücken zum Wind aufzustellen. Dann nahmen die Kinder den knisternden, trockenen Palmwedel fest in beide Hände, wobei sie ihn teilweise mit ihrem Körper schützten, und drehten sich dann abrupt um. Mit einem Schlag wurde der Palmwedel gegen sie gepreßt, sie atmeten seinen Geruch nach Staub und Stroh ein. Das Spiel bestand nun darin, gegen den Wind zu gehen und den Palmwedel dabei immer höher zu heben. Sieger war, wer zuerst am Rand der Terrasse ankam, ohne daß der Wind ihm den Palmwedel aus den Händen riß, wer, den Palmwedel am ausgestreckten Arm hochhaltend, das ganze Körpergewicht auf einem vorgestellten Bein, siegreich und am längsten gegen die tobende Kraft des Windes stehenbleiben konnte. (Camus, S. 273)
Wenn man großen Kindern die Gelegenheit lässt, haben sie immer Ideen, wie sie sich mit ihren körperlichen Fähigkeiten messen und verbessern können. Bei diesen Wettkämpfen geht es den Kindern im Grunde darum, festzustellen, was man aus seinem Körper mit energischem Willen herausholen kann und wo im Vergleich zu anderen die eigenen Grenzen liegen. Von der Reaktionsfähigkeit beim Computerspiel angefangen bis zum Laufen auf Händen, von der Strecke, die man tauchen kann, bis zum Erklimmen einer hohen Mauer, von der Geschicklichkeit und Schnelligkeit, sich nicht fangen zu lassen, bis zur Fähigkeit, den Gegner mit dem Ball zu umdribbeln und ins Tor zu treffen, vom hüfthohen Gummitwist bis zum Spagat, vom Stillstand auf dem Fahrrad bis zum Stehen auf dem galoppierenden Pferd, vom Geschwindigkeits-Händeklatsch-Spiel bis zur zirkusreifen Balanciernummer ... alles, was nach körperlicher Schwierigkeit aussieht, ist willkommene Herausforderung. Höher, schneller, weiter, geschickter, akrobatischer, geschmeidiger und kräftiger scheinen die Leitmotive aller körperlichen Aktivitäten zu sein.
Je nach Kind natürlich verschieden. Jungen verlocken Herausforderungen, die mit Kraft und Schnelligkeit zu tun haben, offenbar stärker als Mädchen, aber auch Mädchen haben durchaus ihren Spaß an Kämpfchen, auch sie haben ihre akrobatischen Ziele, ihren Bewegungshunger. Umgekehrt ist nicht jeder Junge erpicht darauf, schnell zu rennen, mit anderen seine Kräfte zu messen, auf Bäume zu klettern. Er versucht sich vielleicht lieber an handwerklichen Dingen oder im virtuosen Klavierspiel. Fest steht aber, dass der Spaß an Körperlichkeit, an Bewegung, Kraft und Geschicklichkeit in dieser Altersstufe bei allen Jungen und Mädchen ein ganz zentrales Lebensbedürfnis ist.
Entscheidend dabei ist, dass die Kinder sich ihre »Proben« selbst stellen. Sportübungen und Trainingsaufgaben, die von Erwachsenen gefordert werden, haben zu oft einen vollkommen anderen Stellenwert. Da wird »Leistung« verlangt, die sich am Erwachsenenmaßstab orientiert – und der ist für das einzelne Kind in der konkreten Situation häufig völlig unpassend. Stellen Sie sich vor, ein Sportlehrer würde von seinen Sechstklässlern verlangen, an einer frei stehenden Leiter hochzuklettern! Umgekehrt ist es für manche Kinder völlig absurd, beispielsweise immer am Dienstag zwischen 10.00 und 10.45 Uhr in einer Turnhalle in Staffeln hin- und herzurennen, nach Anweisung des Lehrers Purzelbäume zu schlagen oder auf dem Rücken liegend mit den Beinen zu strampeln. Mit der Förderung von Eigeninitiative und Willenskraft hat das wenig zu tun. Im Gegenteil, alles, was man auf Anweisung tun muss, schwächt das Gefühl für Eigeninitiative und Willenskraft.
Förderung von »Self-Efficacy-Erfahrung«, von »Selbst-Wirksamkeit« also, ist seit kurzem ein Schlagwort in der pädagogisch-psychologischen Literatur. Dabei geht es um die Frage, wie Jugendliche aus ihrer Passivität und »Null-Bock«-Haltung herausgeführt werden können und wie man ihnen vermitteln kann, was es heißt, aus eigener Kraft etwas zu erreichen. Hätten Kinder im Alter zwischen 7 und 13 Jahren mehr Möglichkeiten, aus eigenem Antrieb unbeaufsichtigt selbst erfundene Spiele zu spielen, gäbe es diese Probleme vielleicht nicht in dem Maße. In diesem Alter entwickeln Kinder nämlich nicht nur Phantasie, sondern in phänomenaler Weise auch Willenskraft, Selbstbeherrschung, Ausdauer und Motivation.
Louis Pergaud beschreibt in seinem Roman Der Krieg der Knöpfe, wie sein Freund Camus (der übrigens nichts mit Albert Camus zu tun hat) auf Bäume kletterte:
Ein Baum mochte noch so dick sein, Camus ging ihn an wie ein antiker Ringkämpfer seinen Gegner: Er umschlang ihn einfach mit beiden Armen. Oft waren diese Arme sogar zu kurz, um den Stamm ganz zu umfassen. Aber das machte nichts! Wie Saugnäpfe hafteten Camus’ Handflächen an allen Knoten der Rinde; seine Beine überkreuzten sich und formten einen Ring wie die gekrümmten Äste eines Weinstocks. Ein fester Druck der Knie schnellte ihn um dreißig bis fünfzig Zentimeter in die Höhe. Dann klammerten sich die Hände von neuem fest, wieder preßten die Knie sich zusammen, und binnen fünfzehn oder zwanzig Sekunden bekam Camus bereits den ersten Ast zu fassen. (Pergaud, S. 71)
Ein Kind, das so viel Willenskraft und Selbstbeherrschung aufbringt (sich mit den Knien an einem Baumstamm abzustoßen, muss ganz schön wehtun!), hat vermutlich bessere Grundlagen für eine gefestigte Persönlichkeit, als ein Kind, das stundenlang durch Computerlabyrinthe irrt. Umgekehrt würden so einem Camus ein paar Computerspiele bestimmt nicht schaden.
Ausdauer und Motivation lassen sich weder befehlen noch einstudieren. Diese Eigenschaften entwickeln sich ganz automatisch, wenn man etwas tut, das man aus eigenem Wunsch machen möchte. Die Erfahrung, dass es möglich ist, etwas zu erreichen, wenn man nur ausdauernd und hartnäckig genug dranbleibt, diese Erfahrung muss man wohl im Alter zwischen 7 und 13 und dort vor allem bei körperlichen Aktivitäten aus eigenem Antrieb gesammelt haben.
Im Sportunterricht und in den freiwilligen Trainingsstunden am Nachmittag sollen neben Ausdauer vor allem Muskelkraft, Geschicklichkeit, Wendigkeit, Geschwindigkeit und Reaktionsvermögen mit ausgeklügelten und wissenschaftlich erprobten Spezialübungen trainiert werden. Aber um diese sportlichen Fähigkeiten geht es Kindern gar nicht, wenn sie selbst spielen und selbst wenn sie so tun, als würden sie »trainieren«. Diese aus Erwachsenensicht so entscheidenden Lernziele des Sportunterrichts sind beim natürlichen kindlichen Spiel Nebenprodukte, die sich »einfach so« ergeben.
Rene Higuita, einer der bewunderten Torhüter der Fußballweltmeisterschaft 1990, führt seine Torwart-Qualitäten zum Beispiel darauf zurück, dass er als Junge in einem Stadtteil an einem relativ steilen Hang gelebt hat und Fußballspielen nur auf einer der abschüssigen Straßen möglich war. Wenn er, der Torwart, den Ball durchließ, musste er immer endlos den Berg hinunterrennen, um den Ball wieder zu holen.
Wichtig im selbst bestimmten Spiel der Kinder sind ganz andere Dinge, als Erwachsene glauben. Wichtig sind Phantasie, Gefühle, Eigeninitiative und Grenzerfahrungen: Kein Kind würde von sich aus Spaß daran haben, nur einfach schneller und schneller oder länger und länger zu laufen (das kommt im Jugendalter). Wenn Kinder tatsächlich versuchen, beispielsweise schneller und schneller zu laufen, dann stecken immer Spielphantasien dahinter, sei es zum Beispiel, dass sie »Olympiade« spielen und dabei versuchen, so schnell zu sein wie der Olympiasieger im 100-Meter-Lauf. Oder sie stellen sich vor, sie würden an einer »Polizisten-Ausbildung« teilnehmen, mit dem Ziel, schneller zu werden als der schnellste Verbrecher. Oder sie haben die Phantasie, dass sie vor einer Herde Büffeln weglaufen müssen. Oder sie spielen einfach »Training«, Fußball-Nationalmannschaftstraining zum Beispiel, wo es darum geht, wer den schnellsten Antritt und Spurt hat.
Die Erwachsenen verstehen diese Spiele meistens völlig falsch. Sie schließen daraus, dass die Kinder trainieren wollen und nehmen sie dann unter ihre Fittiche. Wenn aber die »Großen« dabei sind, die sowieso alles schon können und wissen, wird das Spiel auf einmal ernst und hat nichts mehr mit den ursprünglichen kindlichen Phantasien und Bedürfnissen zu tun. Dann ist Bewegung plötzlich etwas Fremdes, das nicht zu der Welt passt, in der man eigentlich lebt und mit der man sich, auch in den Körperspielen, auseinander setzt.
Schwer vorstellbar, dass Kinder in einem Ballettunterricht, einem Fußballtraining oder einer Tennisstunde auch nur annähernd das empfinden können, was zum Beispiel Albert Camus mit dem Palmwedel-Wind-Spiel verbindet:
Wenn Jacques dort hochaufgerichtet über diesem Park und diesem von Bäumen brausenden Plateau stand, unter dem Himmel, an dem riesige Wolken dahinrasten, fühlte er den vom äußersten Ende des Landes gekommenen Wind an dem Palmenzweig und an seinen Armen herabgleiten, was ihn mit einer Kraft und einem Jubel erfüllte, die ihn unablässig lange Schreie ausstoßen ließ, bis seine Arme und Schultern von der Anstrengung zermürbt waren und er am Ende den Palmwedel losließ, den der Sturm zusammen mit seinen Schreien mit einem Stoß davontrug. Und nachts, wenn er todmüde ... im Bett lag, lauschte er noch dem in seinem Innern heulenden und tobenden Wind, den er sein Leben lang lieben sollte. (Camus, S. 273 f.)
Schreien, Brüllen, Luftanhalten (beim Tauchen zum Beispiel), Pusten und vor allem natürlich erschöpft-befriedigende Atemlosigkeit sind entscheidende Elemente, die in den Erinnerungen an das Treiben in dieser Altersstufe immer wieder auftauchen.
Kinder von heute sind dagegen vor allen Dingen ruhig gestellt. Stimmlich und körperlich. Sie müssen still sitzen vormittags in der Schule und nachmittags an den Hausaufgaben, in ihren Kinderzimmern oder vorm Fernseher und Computer. Stundenlang.
Systematisch wird ihr alterstypischer Bewegungs- und Phantasiehunger unterdrückt und gleichzeitig von der Computerindustrie raffiniert ausgenutzt, um die Kinder an den Bildschirm zu locken. Hier nur eines von unzähligen Beispielen, die Spielanleitung zu »Ce 92 Nintendo«, für Kinder ab 8 Jahre und Erwachsene:
Im Jahre 2142 hat es Dich auf einen sonderbaren, fremden Planeten verschlagen. Dein Gedächtnis ist künstlich ausgelöscht worden, und Du mußt Dich zur Erde zurückkämpfen, um die einfallenden Mutanten-Streitkräfte in die Schranken zu weisen ...
Flashback, der definitive Überlebenstest mit:
-
Rotoscoper Graphics
-
Fesselnder Science Fiction-Filmatmosphäre
-
Erstaunlich lebensnaher Animation und absolut realistischen Bewegungen
-
Eine einzigartige Mischung aus grafischem Abenteuer und blitzschneller Aktion
-
Ein atemberaubendes 16Mb-Spielerlebnis!
Wen wundert es da eigentlich noch, dass den Kindern im wörtlichen und übertragenen Sinn die Luft wegbleibt und Asthmaerkrankungen bei Kindern ständig zunehmen? Oder dass sie vor lauter nach innen gedrückter Un-Ruhe nicht mehr ein noch aus wissen und nur noch zappelig und hyperaktiv sein können?
Die zunehmende Hyperaktivität unserer Kinder hängt sicher mit notorischem Bewegungsmangel zusammen, aber auch mit der hohen Konzentration, mit der sie vor den verschiedenen Bildschirmen sitzen. Vielleicht werden die Kinder aber auch deshalb so unruhig und zapplig, weil ihr Nerven- und Muskelsystem tatsächlich und auf Dauer zu wenig Sauerstoff erhält. Ich halte es für denkbar, dass kindliche Hyperaktivität zumindest zum Teil ein unterschwelliges Erstickungssyndrom ist. – Die übrigen gesundheitlichen Folgen von Bewegungsmangel sind bekannt: Dickleibigkeit, Haltungsschäden, fein- und grobmotorische Koordinationsstörungen.
Wenn Kinder aktiv spielen, haben sie keinen Hunger. Danach natürlich schon, aber bei normaler, regelmäßiger Ernährung werden gesunde Kinder nicht dick. Dick werden Kinder, die viel zu Hause sitzen und sich langweilen und die ihr Bedürfnis nach Aktion mit Hunger verwechseln. Kinder, die mit Freunden in natürlicher Umgebung spielen, trainieren auch ganz selbstverständlich alle Muskeln. Ob sie auf Felsen herumkraxeln, Steine anschleppen, mit denen sie einen Damm bauen, bei Schneeballschlachten lernen, geschickt auszuweichen, oder sich in Ringkämpfchen aneinander messen: Freies Spiel ist die beste Vorbeugung gegen Haltungsschäden. Auch die fein- und grobmotorische Koordination wird im natürlichen kindlichen Spiel ganz selbstverständlich und »nebenbei« geübt. Kinder, die viel miteinander im Freien spielen, können, ohne es je geübt zu haben, zum Beispiel problemlos rückwärts gehen und springen (was heute vielen Kindern enorm schwer fällt) oder sie lernen, wenn sie schnitzen, mit ihren Händen geschickt umzugehen oder, wenn sie zum Beispiel eine Vogeleischale nach Hause bringen möchten, diese ganz zart in die Hand zu nehmen.
Die Erwachsenen reagieren auf die zunehmenden »Körperstörungen« der Kinder auf ihre Weise. Sie haben sich mittlerweile viele kluge und kostspielige Mittelchen einfallen lassen, die unter ihrer Aufsicht fachmännisch verabreicht werden, zum Beispiel Ergotherapie, Motologie, Krankengymnastik, therapeutisches Schwimmen und Reiten usw. Da üben die Kinder dann nach festgelegten Standards jeden einzelnen Muskel zu betätigen und auch ganz brav »gesund« zu sein.
Würde man sie mehr zu freiem kindlichem Spiel gemeinsam mit Altersgenossen in freier Natur ermutigen, würden sie zwar wahrscheinlich zunächst eher lernen, damit fertig zu werden, in gewisser Weise »krank« zu sein, dabei letztlich aber mehr für ihre Gesundheit tun, als es in allen Kursen dieser Welt erreicht werden kann. Im freien kindlichen Spiel dieser Altersstufe geht es nämlich auch immer in irgendeiner Form darum, mit Schmerzen umzugehen: Aufgeschürfte Knie, blaue Flecken, Beulen, Blasen, verstauchte Gelenke, selbst blutige Nasen sind schmerzliche Erfahrungen, die in dieses Alter gehören und die in dieser Zeit normalerweise nicht so schwerwiegend sind wie beim ausgewachsenen Jugendlichen oder Erwachsenen und schneller und unkomplizierter heilen. Deswegen ist es vielleicht auch besser, wenn Erwachsene den Kindern beim Spielen nicht zuschauen, weil dieses Spielen aus Erwachsenensicht oft an der Grenze zum »Gefährlichen« liegt.
Wenn Kinder sich im Spiel wehtun, lernen sie aber mehrere wichtige Dinge: Zunächst ganz einfach, was es überhaupt bedeutet, sich wehzutun. Viele Kinder wissen heute nicht mehr, was es heißt, sich wehzutun, weil sie nirgendwo mehr anstoßen. Beim kleinsten Wehwehchen geraten sie in Panik. Weil sie selbst keine Erfahrung mit Schmerzen haben, können sie auch nicht einschätzen, wann sie einem anderen wehtun. So kommt es zu den unangemessen »brutalen« Übergriffen, wenn Kinder dann doch einmal aneinander geraten.
Sie lernen also zum einen ihre eigenen Grenzen kennen, zum anderen erfahren sie, wo die Grenzen des körperlich Zumutbaren beim anderen liegen (der Schlag gegen die Nase war beispielsweise entschieden zu viel). Kinder, die in diesem Alter nicht genügend körperliche Erfahrungen im Umgang miteinander sammeln konnten, werden im Jugendalter weder ihre Grenzen noch die der anderen einschätzen können. Jugendliche Gewalttäter, etwa zwanzigjährige »Skins« unserer Tage, denen auf gerichtsmedizinischen Fotos gezeigt wurde, welche Folgen körperliche Gewalt haben kann, sagten, sie hätten nicht geahnt, dass ein einziger Fußtritt in den Brustkorb oder der Schlag gegen das Nasenbein sogar tödlich sein kann. Sie waren tatsächlich überrascht und erschrocken über die ernsten Auswirkungen dieser »Körperkontakte«, die sie für etwas »ganz Normales« gehalten hatten!
Schließlich lernen Kinder, die sich im Spiel mal wehtun, dass Schmerzen und »Krankheiten« durchaus auszuhalten sein können, nicht immer gleich mit Medikamenten behandelt werden müssen und auch nicht immer gleich Anlass für existenzielle Sorgen sind. Schmerzen in gewissem Maße aushalten zu können, erfordert Energie und Durchhaltevermögen, und die Erfahrung, dass man dazu in der Lage ist, gibt unbewusst Kraft, Gelassenheit und Zuversicht, womit später auch »schmerzliche« Lebenssituationen im übertragenen Sinn überstanden werden können.
Anmerkung
Motivation, Interesse, Neugierde und körperliche Entwicklung beziehungsweise sportliche Betätigung im Kindesalter werden in den Fachbüchern getrennt behandelt. Inwieweit selbst bestimmte Bewegungsspiele im Schulalter für die Entwicklung der gesamten Persönlichkeit wichtig sind, ist meines Wissens noch nicht erforscht.
Allerdings gewinnt in der Arbeit mit »schwierigen« Jugendlichen in Deutschland die so genannte wohnumfeldbezogene Erlebnis- und Abenteuerpädagogik immer mehr Bedeutung. Allmählich wird diese Arbeit auch auf Kinder ab 8 ausgeweitet. Eine Arbeitsgruppe in Marburg (bsj e. V. Marburg) hat sich um Veröffentlichungen und Diskussionen in diesem Bereich besonders verdient gemacht. Von ihr stammt auch die Veröffentlichung der lesenswerten Tagungsdokumentation zur Erlebnispädagogik: Abenteuer – Ein Weg zur Jugend?