Wo leben wir eigentlich?

Der Lebensraum des großen Kindes

Entwicklung ist wie ein Wandern von einer kleineren Welt zur nächsten, größeren: Am Anfang sind die Möglichkeiten des Menschen in jeder Hinsicht noch klein und eingeengt. Der Säugling ist in seinem Aktionsradius noch auf die Krabbeldecke beschränkt und das Vorschulkind kann sich selbständig und sicher nur innerhalb des Elternhauses bewegen (wozu durchaus Garten, Spielplatz und Kindergarten zählen). Auch in den geistigen Fähigkeiten, dem sozialen Verständnis und in den emotionalen Möglichkeiten und Bedürfnissen öffnet sich von Entwicklungsphase zu Entwicklungsphase immer wieder ein neuer Horizont.

Dort wo Kinder natürlich heranwachsen können, beginnen sie mit etwa 6 Jahren von sich aus die Welt außerhalb des Elternhauses und der unmittelbaren Nachbarschaft zu entdecken und für sich zu erobern. Der Bereich, in dem die Kinder leben und spielen, weitet sich auf das Dorf mit Feld, Wald, Wiesen, Bächen oder Seen beziehungsweise auf den Stadtteil mit seinen Straßen, Gebäuden, Plätzen und Schlupfwinkeln aus. In der Gemeinschaft der Gleichaltrigen wächst das Kind im Lauf der Jahre in diese am Anfang noch unübersehbar große und fremde Welt hinein, sucht ihre Grenzen, gewinnt Sicherheit, bewegt sich schließlich souverän in dem vertraut gewordenen Lebensraum, bis es ihm am Ende dieser Entwicklungsphase, also mit etwa 13 Jahren, zu langweilig und zu eng werden wird und es wieder in eine neue, größere und weitere Welt ausbrechen muss.

Die Welt außerhalb von Elternhaus und näherer Nachbarschaft steckt voller Verheißungen und Verlockungen: Alle Ecken müssen erkundet und alle Möglichkeiten, die diese Welt bietet, müssen ausprobiert, alle Geheimnisse ergründet werden. Ganz elementar: Mit Erde, Feuer, Luft, Wasser, Pflanzen und – manchmal leider – auch Tieren muss auf andere Weise als in der vorangegangenen Altersstufe experimentiert werden. Eine naturbelassene Wildnis außerhalb der Sichtweite von Erwachsenen mit undurchdringlichem Gestrüpp und Bäumen (auf die man klettern, hinter denen man sich verstecken, von denen man sich abseilen, auf die man zielen, die man als Eckpfeiler für Hütten verwenden kann), mit offenen Wiesen, Felsen, Senken im Gelände und – ganz wichtig! – mit Wasser in irgendeiner ursprünglichen Form ist der bevorzugte Lebensraum dieser Altersstufe.

 

Aus vielen Lebenserinnerungen ist herauszuspüren, wie wichtig es für Kinder ab etwa 7 Jahren ist, die Welt selbständig, aber gemeinsam mit Gleichaltrigen zu entdecken, zu erobern und mit ihr zu »spielen«. Als Beispiel hierfür ein Blick zurück ins Jahr 1855; Friedrich Paulsen war damals etwa 9 Jahre alt:

 

Der Sommer brachte vor allem die Lust zum Wasser mit, es wurde im Wasser gewatet und gebaut, gebadet und gefischt; das begehrteste war das Kahnfahren, ein seltenes und fast immer erschlichenes Vergnügen. Die Wasserfreuden haben mich am häufigsten mit der Mutter in Konflikt gebracht ...

Im Herbst ging es darum, ... daß man einen Tonnenreifen ... von dem Winde vor sich hertreiben ließ; er setzte, wenn er einmal in Schuß war, über Gräben und Zäune, wohl eine halbe Stunde lang, und die wilde Meute querfeldein hinterher.

Im Winter wurden Schlittschuh gelaufen und ... stundenweite Ausflüge über die überschwemmten Wiesen gemacht. Am schönen Sonntagnachmittag fanden sich wohl ein paar hundert Schlittschuhläufer zusammen, es wurden Fangspiele gespielt, mit allerlei Künsten des Vor- und Rückwärtslaufens.

Und mit Eis und Wasser wurde »gespielt«: Einen unwiderstehlichen Reiz übte auf die Schulknaben auch ein eben auftauender Graben; nachdem das Eis von den Rändern abgeschmolzen war, wurde es mit dem Beil durch Querschnitte in halbmeterlange Schollen geteilt; nun galt es, über sie so rasch hinzulaufen, daß, während der hintere Fuß die letzte Scholle unter Wasser drückte, der vordere schon auf der nächsten sich stütze, so daß man eben trockenen Fußes noch davonkam; natürlich, bis das Verhängnis einen doch ereilte, indem eine Scholle zerbrach oder man danebentrat. Das gab dann wieder eine häusliche Krise. (Rutschky, S. 388)

 

Auch Stadtkinder erobern ihre Umgebung und »spielen« mit ihr. So gut es eben geht, in einer Welt, die scheinbar einzig und allein den Erwachsenen gehört. Das ist in modernen Städten am Ende unseres Jahrhunderts im Prinzip nicht anders als im Berlin von 1875:

 

Eins unserer liebsten Spiele war das Reifenspiel, und es war Ziel löblichen Ehrgeizes, einmal seinen Reifen von unserem Hause bis zur nahen Sophienstraße hin und zurück zu treiben, ohne daß er von einem der vielen Fußgänger umgestoßen wurde. Am schönsten konnte man diesen Sport in den Hallen der Nationalgalerie treiben. Leider hatten die Erbauer offenbar die Bedeutung des Reifenspiels noch nicht genügend erfaßt, da sie rücksichtslos genug die schönen Asphaltbahnen durch störende Stufen unterbrochen hatten, die aus den Säulengängen zu den Fahrwegen hinabführten ... (Damaschke, in Rutschky, S. 393)

 

»Moderne Kinder« spielen nicht mehr mit Reifen. Bei dem heutigen Verkehr kämen sie damit auch nicht weit. Dafür flitzen sie mit ihren Skateboards und Inlineskates über Gehwege und Treppen und schlängeln sich haarscharf an den Fußgängern vorbei. Und die Erwachsenen sind empört, genauso wie es frühere Generationen in vergleichbaren Situationen auch waren. Ein Beispiel aus dem Hamburg von 1741 (!):

 

In der Stadt regierten ... die Winkeljungen in schier unleidlicher Weise. Jedes Spiel wurde Unart ... Ihren Tonnenbändern (den Reifen) mußte man respektvoll ausweichen, sonst bekam man sie zwischen die Beine, stolperte und schlug elend zu Boden, unter Hohngeschrei der Buben. Wie manche achtbare Dame fühlte entsetzt solchen Reif gegen ihren Rücken kollern ... Der Kreisel, sowohl der kleine als der Brummkreisel, schien nur dazu erfunden zu sein, um den Menschen das Gehen auf den breiten Steinen (dem damaligen Trottoir) und in den Promenaden zu verbittern, wo ohnedies alle zehn Schritte die bekannten neun Marmellöcher den Boden unsicher machten ... Nicht die Söhne der ärmsten Klassen waren es, die sich der so eben aus Ostindien hier eingeführten Schwärmer und Raketen bedienten, um einen heillosen Unfug abendlich auf den Straßen zu veranstalten ... (Beneke, zit. nach Rutschky, S. 361)

 

Gerade die Dinge, die den Erwachsenen »gehören« und für die Kinder offiziell keinen Zugang haben, fordern in besonderem Maß dazu heraus, sie zu erobern, zu entdecken und für sich zu nutzen: fremde Gärten, leere Häuser, Baustellen, Ruinen (nach dem Zweiten Weltkrieg ganz besonders beliebt!), Scheunen, Lager, Schuppen, Industrieanlagen, selbst Kanalisation und Müllkippen. Dazu alle Dinge, die »nichts für Kinder« sind: außer Feuerwerk besonders Zigaretten und Alkohol, neuerdings auch »verbotene« Videos, Internetangebote und Fernsehsendungen. Alles muss erkundet und erprobt und so kennen gelernt werden.

Die Erwachsenen sehen ihre Aufgabe natürlich – und zu Recht – darin, Kinder vor Gefahren zu schützen, ihnen Respekt vor fremdem Eigentum und Achtung vor dem andern beizubringen und sie ganz allgemein dort in die Schranken zu weisen, wo sie wirklich zu weit gehen. Kein Zweifel: Ohne Grenzziehungen der Erwachsenen geht es tatsächlich nicht, auch wenn die Kinder immer wieder und gezielt gegen deren Anweisungen verstoßen. Aber das gehört zu dem für diese Altersstufe so typischen »Wie-weit-kann-ich-gehen-Spiel«, bei dem Kinder sehr viel über die Welt und ihre Regeln und noch mehr über die darin regierenden Erwachsenen lernen. Denn die Erwachsenen müssen, genauso wie alle anderen Elemente der Welt, entdeckt, ausgelotet und auf die Probe gestellt werden (dazu mehr in den Kapiteln »Wo geht’s lang?« und »Und wie seid ihr?«).

Selbständige Streifzüge aber fördern die Entwicklung der Kinder auf der ganzen Bandbreite. So bauen die Kinder zu dem Landschaftsraum oder dem Stadtteil, in dem sie aufwachsen, eine konkrete emotionale Beziehung auf: Jeder Baum, jedes Haus, jeder Abhang, jede Bachbiegung, jede erklommene Mauer, jeder durchdrungene Zaun, die halsbrecherisch genommene Treppe, eine bestimmte Bordsteinkante – all das bekommt im Lauf der Zeit eine besondere gefühlsmäßige Bedeutung. Daraus entwickelt sich Bodenständigkeit, und später verklären sich die gesammelten Eindrücke zum »Heimatgefühl«. Mit jedem Schritt in dieser Welt werden Körperkraft und Geschicklichkeit immer wieder anders auf die Probe gestellt und geübt. Jedes Erlebnis spricht meistens neue und unerwartete Gefühle an, die dann immer wieder gesucht oder in Zukunft lieber gemieden werden. So entwickelt sich emotionale Lebendigkeit und Widerstandskraft. Jede Erfahrung gemeinsam mit den Kameraden bringt die soziale Entwicklung voran. Und nicht zuletzt sind die Entdeckungen und Eroberungen auch für die geistige Entwicklung der Kinder fruchtbarer als so manche Schulstunde: Wissbegierde, Eigeninitiative, Improvisationsgabe, Phantasie und Kreativität sind die Grundvoraussetzungen für das Leben in dieser ursprünglichen, natürlichen Kinderwelt. In den Lebenserinnerungen von erfolgreichen, innovativen Erwachsenen wird immer wieder sichtbar, dass ein guter Teil ihrer beruflichen Kompetenz letztlich auf das Wissen und die Erfahrungen und Fähigkeiten zurückgeht, die sie sich selbständig im Umgang mit der Welt in diesen Kindertagen angeeignet haben.

Wo aber können Kinder ihre – unsere – Welt heute noch in ihren Grundelementen kennen lernen, auf eigene Faust entdecken, erobern, ausloten, Grenzen finden und damit eine tragfähige Sicherheit im Umgang mit der Welt bekommen?

In unserer Gesellschaft werden Kinder fern gehalten von der Welt, in der sie aufwachsen, und dafür jedes Jahr in den Ferien an einen anderen Ort verpflanzt, an dem sie keine Wurzeln schlagen können. Es ist für Kinder auch schwer, Zugang zu der Welt zu finden, in der sie leben: Im 20. Jahrhundert haben die Erwachsenen zumindest in den Industrienationen den Kampf um die öffentlichen Räume vollends für sich entschieden und die Kinder erfolgreich verdrängt: Alle verlockenden Plätze sind »besetzt«, abgeriegelt, eingezäunt oder bewacht. Straßen und Gehwege sind asphaltiert, also sind die Erwachsenen nicht nur den Dreck, sondern auch die lästigen »Marmellöcher« und die ewig im Weg stehenden Kinder los. Außerdem sind die Gehwege so schmal, dass selbst ein »Himmel-und-Hölle-Spiel« unmöglich wird: Erwachsene und Spiel passen nicht gemeinsam auf einen Gehweg, also müssen die Kinder weichen.

Die »Lebens«räume, in denen sich behütete Kinder von heute aufzuhalten haben, stehen unter der strengen Kontrolle von Erwachsenen und sind so eng wie möglich umgrenzt: Schulklasse, Schulhof, Sportverein (da ist, unter Aufsicht des Trainers, das Betreten eines garantiert ebenen, penibel gemähten Rasens ausnahmsweise erlaubt, wenn nicht ohnehin auf Kunstrasen trainiert wird), Musikunterricht, Nachhilfestunde, Jugendclub mit vorgegebenen Aktivitäten, Kinderdisko, Krankengymnastik, Spieltherapie.

Die Findigsten unter den Kids aber lassen sich auch dadurch nicht unterkriegen. Es gibt eine neue Version von »Eisschollenspringen«, die etwas ungefährlicher, auf jeden Fall trockener ist und ganzjährig ausgeführt werden kann. Die Erwachsenen allerdings trifft diese neue Geschicklichkeitsübung empfindlich. Völlig klar, dass sie darin eine neuartige Form von Kinderkriminalität sehen, die konsequent geahndet und bestraft werden muss – wodurch es für die Kinder erst richtig spannend wird: Der Spaß ist, auf Parkplätzen von Autokühler zu Autokühler zu springen, auch oder gerade wenn es manchmal ganz schön weit ist!

Spaß am Feuerwerk ist auf eine einzige Nacht des Jahres reduziert. In der Silvesternacht allerdings sind die Jungenmeuten auch heute noch los! (Und weil die Jungen zu wenig Gelegenheit haben, beizeiten den richtigen Umgang mit Feuerwerk zu lernen, werden in dieser einen Nacht leider viele Kinder verletzt.)

Für die braven oder weniger risikofreudigen Kinder ist in unseren Breiten nicht mehr viel »Welt« übrig, die sie mit ihren Freunden gemeinsam entdecken und mit allem, was dazugehört, ausprobieren können. Selbst die staubig-dämmrigen Dachböden, einst die geheimnisumwobenen Schlechtwetternischen der Kinderwelt, sind Dachausbauprogrammen zum Opfer gefallen. Auch Baumhäuser, die in der Erinnerung vieler Erwachsener, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland aufgewachsen sind, zu Schlüsselerlebnissen gehören, sind verschwunden: In Deutschland werden zumindest innerhalb der bewohnten Gebiete den Bäumen die unteren Äste abgeschnitten: Sie könnten im Weg sein!

Wenigstens Schlittschuhlaufen und Baden ist den Kids als Gruppenspaß geblieben. Tatsächlich sind neben den wenigen und meistens asphaltierten Bolzplätzen für die Jungen Schwimmbäder und Eislaufbahnen heute die Treffpunkte, wo sich Kinder, Jungen und Mädchen gleichermaßen, am ehesten verabreden. Aber welcher Vergleich zu früher! In den Schwimmbädern – mit garantiert hygienisch einwandfreier Wasserqualität – gibt es strenge Regeln, die das Aufleben einer munteren Kinderhorde im Keim ersticken. Und auf Eisbahnen, die natürlich Eintritt kosten, dafür unter Aufsicht stehen, geht es immer in einer Richtung im Kreis herum – wehe, ausgelassene Bengel wagen es, die Kreise der anderen Läufer zu stören!

Als in den vergangenen Wintern die Seen in Berlin zugefroren waren, konnte man erleben, dass sich Kinder unter etwa 12 Jahren kaum zu spontanen Hockeyspielen zusammengefunden oder sich gegenseitig übers Eis gejagt haben. Die meisten hielten sich relativ brav an erwachsene Begleitpersonen, unter deren Anleitung sie das Rückwärtsfahren oder Pirouettendrehen übten. Von Kindern droht Erwachsenen also so gut wie keine »Gefahr« mehr!

Dann dürfen wir uns aber auch nicht darüber beklagen, wenn junge Leute heute zu wenig Pioniergeist, Initiative und Risikobereitschaft zeigen. Und auch nicht darüber, wenn Jugendliche in gebündelter Formation auftauchen, um mit unkontrollierten Kräften gezielt gegen die Erwachsenen »die Welt erobern«. Denn die Jugendlichen versuchen damit wenigstens teilweise nur das nachzuholen, was sie im richtigen Alter versäumt haben. Im Grunde fühlen sie sich oft nur hilflos und fehl am Platze in einer Welt, die ihnen fremd ist und in der so vieles nicht zu dem passt, was sie von ihren Spielwelten, aus ihren Zeitschriften und von ihren Bildschirmen her kennen.