Teil II

Entdecker, Eroberer, Siedler, Experten und Aufständische

Die allgemeinen Lebensthemen, wie sie im Teil I beschrieben wurden, bleiben im Alter zwischen etwa 7 und 13 Jahren im Wesentlichen gleich. Innerhalb dieser Altersgruppe gibt es aber selbstverständlich entwicklungsbedingte Veränderungen: Der Unterschied zwischen Acht- und Zwölfjährigen ist offenkundig. Auch von einem Geburtstag zum anderen sind bei jedem Kind deutliche Veränderungen spürbar. Manchmal verwandeln sich Kinder sogar innerhalb von Wochen und sind in ihrem Wesen kaum wieder zu erkennen.

Veränderungen im Verhalten von Kindern werden oft auf äußere Einflüsse zurückgeführt: Wird das Kind schwierig, vermuten Pädagogen heute meistens, dass dahinter Probleme mit dem Elternhaus, der Schule, den Freunden oder den allgemeinen Lebensbedingungen stecken. Wird es ruhiger, ansprechbarer, führen die Erwachsenen diese Veränderungen meistens auf ihre Erziehungskünste zurück. Zuweilen stimmen diese Zusammenhänge, daran besteht kein Zweifel. Jede Veränderung im Werden und Wachsen der Persönlichkeit eines Kindes aber auf äußere, womöglich erzieherische Einflüsse zurückzuführen, hieße, dass man eine eigenständige Entwicklung aus dem Kind selbst heraus leugnen würde.

Leider ist die Überzeugung, dass die erziehenden Erwachsenen allein für das Verhalten des Kindes verantwortlich sind, aber weit verbreitet. Deshalb werden Kinder, wenn sie »schwierig« sind, von »verantwortlichen« Erwachsenen hin- und hergezerrt (das nennen die Erwachsenen dann »er-ziehen«) oder zur »Behandlung« geschickt. In »ruhigen« Phasen lehnen sich die Erwachsenen stolz zurück und denken, es sei alles in Ordnung, und verkennen dabei, dass dem Kind vielleicht ganz wichtige Grundlagen für seine gesunde psychische Entwicklung fehlen.

Mir selbst hat folgende Vorstellung von Entwicklung geholfen, bestimmte alterstypische Lebensbedürfnisse von Kindern und damit ihr entwicklungbedingtes Verhalten besser zu verstehen:

 

Glücklicher Säugling!

Dir ist ein unendlicher Raum noch die Wiege,

werde Mann, und dir wird eng die unendliche Welt.

 

In diesen Worten von Friedrich Schiller zeigt sich Entwicklung als ein Prozess, in dem sich der Mensch von einer kleinen, begrenzten und beschützenden Lebenswelt in eine größere Lebenswelt hineinentwickelt. So gesehen wird jede Welt eines Tages zu eng, weil der Mensch aus ihr »herausgewachsen« ist.

Zwischen der Wiege und der Welt aber liegen Welten! Nicht nur eine, sondern mehrere. Bis das neugeborene Kind körperlich, geistig, seelisch und sozial so weit ist, dass es in die Welt hinausgehen kann, wird es seine ganze Kindheit und Jugend brauchen, in der es nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich wächst: in immer wieder neue Welten hinein, die größer werden, einen weiteren Horizont bieten, neue Perspektiven eröffnen und in denen die körperlichen und geistigen, aber auch die sozialen und emotionalen Anforderungen größer werden.

Jedes Mal ist die neue, größere Lebenswelt zu Beginn unübersehbar groß und erscheint grenzenlos. Allmählich wächst das Kind körperlich, geistig, sozial und emotional in sie hinein. Dann füllt es sie aus, indem es alle Möglichkeiten dieser Welt ausschöpft und zunehmend beherrscht, bis schließlich die Grenzen, die vorher eine beschützende Notwendigkeit waren, zum Hemmnis für die weitere Entwicklung werden und durchbrochen werden müssen, um die daran anschließende, wieder größere und anspruchsvollere Welt neu zu entdecken, zu erobern, auszufüllen und wieder an Grenzen zu stoßen ...

Ganz am Anfang der Entwicklung ist dieser Prozess fast mit symbolischer Klarheit zu erkennen: Nach einer geborgenen Zeit der Schwangerschaft wird die Welt im Mutterleib eines Tages zu eng und nur noch hinderlich für die weitere gesunde Entwicklung. Mit der Geburt tritt das Kind dann in eine neue Welt ein, die Körper, Geist und Seele vollkommen neu fordert. Der normale Zeitpunkt hierfür liegt überall auf der Welt etwa in der 40. Schwangerschaftswoche, obwohl manche Kinder »zu früh« und andere »zu spät« zur Welt kommen. Normalerweise erfolgt der Übergang ganz natürlich, wenn die Zeit dazu reif ist, das heißt wenn die Entwicklung diesen Schritt erfordert. Er kann von außen weder beliebig beschleunigt noch hinausgezögert werden (auch nicht mit Medikamenten, die Wehen hemmen oder fördern!).

Wenn das Kind auf die Welt gekommen ist, ist es zwar »auf der Welt«, aber sein Lebensraum ist noch längst nicht »die Welt«. Die Welt des Säuglings ist aus unserer Erwachsenensicht winzig klein, aus der Perspektive des Neugeborenen aber unendlich groß. Das Kind wächst, erwirbt und übt die Fähigkeiten, die zu seinem Alter und zu seiner Lebenswelt passen, und wird eines Tages so weit herangereift sein, dass es gleichsam über die Gitterstäbe des zu eng gewordenen Kinderbettchens hinüberklettert und in die Welt des Kleinkindes vorstößt. Aus der Welt des Kleinkindes wächst es weiter in die Welt des großen Kindes hinein, aus dieser in die Welt des Jugendlichen, bis auch diese Welt zu eng werden und der junge Mensch in die Welt des Erwachsenen eintreten wird.

Damit ist die Entwicklung der Persönlichkeit selbstverständlich noch nicht abgeschlossen. Auch als Erwachsener brauchen wir für unsere Weiterentwicklung immer wieder breitere Entfaltungsmöglichkeiten in neuen, anspruchsvolleren Lebenswelten mit einem größeren Radius, die ein paar Jahre früher für unsere Fähigkeiten und unseren Entwicklungsstand noch einige Nummern zu groß gewesen wären.

Und ist nicht sogar im Lauf der Menschheitsentwicklung etwas Vergleichbares geschehen, indem die Menschen, wenn es ihnen zu eng, zu bekannt geworden war in ihrer vertrauten Welt, aufgebrochen sind zu neuen Ufern: geistig, kulturell, räumlich und sozial? Und war die Erweiterung dieser Horizonte nicht immer begleitet von schmerzlichen Grenzüberschreitungen und heftigen gesellschaftlichen Erschütterungen?

Die Größe und die Anforderungen der jeweiligen natürlichen Lebenswelt entsprechen dem Entwicklungsstand des Menschen: Es ist ebenso schädlich, sogar lebensbedrohend, zu lang in einer zu klein gewordenen Lebenswelt festgehalten zu werden, wie zu früh in eine zu große, unübersichtliche, überfordernde Lebenswelt hineingestoßen zu werden.

Ob beim Eintritt in die Schule, bei der Ankunft an einem unbekannten Ferienort, in einem neuen Wohngebiet oder – in weit größeren Zeiträumen – im Lauf der historischen Entwicklung: Wenn Menschen in einen neuen Lebensraum kommen, scheinen sie sich im Prinzip immer nach folgendem Muster zu verhalten:

 

  • Wenn der Durchbruch in die neue Lebenswelt erfolgt ist, tritt wie im Moment einer Entdeckung ein Augenblick der Besinnung und Beruhigung ein: Die neue Welt, deren Ausmaße unübersehbar scheinen, wird zunächst einmal vom Rand aus taxiert, beobachtet, und erste Schritte werden probiert. Das geht bei manchen ganz schnell, andere bleiben länger in dieser Rand- und Beobachterposition stehen und lassen die Forscheren den nächsten Schritt tun:

  • die Welt erobern und ihre Grenzen suchen: Man muss feststellen, welche Möglichkeiten diese neue Welt bietet, welche Regeln und Gesetze dort herrschen und dazu gehört unabdingbar, dass die Grenzen zunächst missachtet werden. Erst dadurch können sie wahrgenommen werden und müssen, auch zum eigenen Schutz, erfahren und abgesteckt werden.

  • Dann lässt man sich innerhalb der abgesteckten, Sicherheit gewährenden Grenzen sozusagen häuslich nieder. Aus der so gewonnenen Geborgenheit heraus werden dann

  • die Möglichkeiten der neuen Lebenswelt aufgegriffen, zunehmend beherrscht und ausgeschöpft, bis man alles kennt und kann und

  • zwangsläufig an die Grenzen stößt, die jetzt als Einengung erlebt und mit aller Gewalt durchbrochen werden müssen.

  • Es öffnet sich eine neue, größere, kompliziertere Lebenswelt, die nun auf dieselbe Weise wieder entdeckt, erobert, abgegrenzt, erschlossen, ausgefüllt, durchbrochen wird ...

     

Im Entwicklungsprozess scheint jeder dieser Schritte verknüpft zu sein mit charakteristischen unbewussten Lebenseinstellungen, Gefühlen und Verhaltensweisen, die sich in den verschiedenen Entwicklungsphasen jeweils auf einer höheren, breiteren, differenzierteren Ebene wiederholen. Die Altersangaben sind dabei immer nur grobe Anhaltspunkte:

 

  • In den neuen Lebensraum eintreten, ihn entdecken (im Alter von etwa 1 ½, 7, 14 Jahren): »Wo befinde ich mich?« »Die Welt steht mir zur freien Verfügung.« Aufgeschlossenheit, Offenheit, Gefühl der Unbegrenztheit, positive Aufbruchstimmung.

  • Den neuen Lebensraum erobern und seine Grenzen ausprobieren (im Alter von ca. 2 ½, 8 / 9, 15 / 16 Jahren): »Wo sind die Grenzen?« »Welche Regeln und Gesetze gibt es hier?« »Wo finde ich Halt?« »Bin ich in der Lage, das Leben in dieser neuen Welt zu meistern?« Drang zu expansivem Verhalten, Missachten aller Regeln, chaotisches Hin und Her, die eigenen Grenzen nicht kennen, Überschätzen der eigenen Fähigkeiten, Maßlosigkeit, Strukturlosigkeit, Desorientierung und existenzielle Ängste.

  • Den neuen Lebensraum strukturieren, hineinwachsen, ihn »besiedeln« (im Alter von ca. 3 / 4, 10 / 11, bei natürlichen Entwicklungsgegebenheiten ab etwa 17 Jahren): »Ich finde meinen Platz.« »Ich weiß, wo ich stehe, wohin ich gehöre.« Weitgehende Anerkennung der Grenzen, Ausschöpfen aller Möglichkeiten innerhalb der Lebenswelt, Motivation weiterzukommen, Sicherheit, Zufriedenheit.

  • Souverän mit den Möglichkeiten der Lebenswelt umgehen, die Lebenswelt beherrschen (im Alter von ca. 5, 12, 19 Jahren): »Ich beherrsche die Welt.« »Ich bin aus eigener Kraft lebensfähig.« Spielen auf der Klaviatur der Fähigkeiten, Kompetenz, Lebensenergie, Eigeninitiative. Geistig haben sich bereits neue Horizonte eröffnet, die den nächsten Schritt ermöglichen:

  • An die Grenzen stoßen, gegen sie aufbegehren und Grenzen durchbrechen (gegen Ende des ersten Lebensjahres, mit etwa 6, 13, Anfang bis Mitte 20): »Mir wird’s zu eng!« »Ich weiß es besser!« Sich in der eigenen Haut beengt fühlen, mit dem Kopf durch die Wand gehen, Auseinandersetzungen mit der Autorität suchen, Übertreten aller Regeln und Normen, unbändiger Freiheits- und Unabhängigkeitsdrang, zu viel Kraft haben, Unausgeglichenheit, innere Unruhe, Aufbruch zu neuen Ufern.

     

Bei jedem seelisch gesunden Kind gibt es diesen Wechsel zwischen Erkunden, Grenzen-Ausprobieren, Mit-sich-und-der-Welt-zufrieden-Sein und Grenzen-durchbrechen-Müssen. Allerdings sind manche Kinder darin aktiver als andere, die eher in einer Beobachterrolle bleiben, aber dennoch innerlich die Veränderungen der Altersgenossen mitmachen.

Wenn Erwachsenen bewusst wäre, dass dieser Wechsel ganz natürlich und notwendig ist, dann würden sie sich die ruhigen, »angenehmen« Phasen nicht immer als Erziehungserfolg zuschreiben, um bei der nächsten schwierigen Phase aus allen Wolken zu fallen. Die schwierigen Zeiten könnten sie wiederum als natürliche Entwicklungsprozesse, als ganz normale, sogar notwendige Verhaltensauffälligkeiten und nicht gleich als alarmierende Verhaltensstörungen verstehen und annehmen und mit den Kindern beziehungsweise Jugendlichen entsprechend umgehen.

Das betrifft vor allem den Umgang mit Grenzen, der den meisten Eltern, Erziehern und Lehrern ungeheuere Schwierigkeiten und Gewissensnöte bereitet. Wenn man weiß, dass Grenzerfahrungen zwei ganz unterschiedliche Bedürfnisse zugrunde liegen, kann man als Erwachsener auch entsprechend handeln: In Zeiten des »kopflosen« Grenzen-Suchens (bei Acht- und Neunjährigen zum Beispiel) wird man ohne schlechtes Gewissen Halt geben und unverrückbare Grenzen setzen können, in Zeiten des An-die-Grenzen-Stoßens – weil sie zu eng geworden sind – (bei etwa Dreizehnjährigen zum Beispiel) dagegen wird man zuversichtlich eher Grenzen öffnen und mehr, aber nicht grenzenlos alles zulassen können.

Eltern, Erzieher, Lehrer und Berater, die wissen, was natürliche, alterstypische Verhaltensschwierigkeiten sind, werden auch differenzierter mit echten Entwicklungsproblemen umgehen können und Kinder, die auf ihre Weise Hilferufe senden, eher verstehen und ihnen kompetenter helfen können.

 

Um die natürlichen Lebensbedürfnisse und die entsprechenden entwicklungsbedingten Verhaltensweisen eines Kindes erkennen zu können, muss man wissen, an welchem Punkt der Entwicklung ein Kind gerade steht. Dazu braucht man Vergleiche, Maßstäbe, an denen man sich orientieren kann. Solche Maßstäbe haben im Umgang mit Kindern aber ihre Tücken: Die Gefahr ist groß, dass Eltern und Erzieher das Kind zu eng daran messen. Wenn das Kind die »normgerechte« Entwicklungsstufe noch nicht erreicht hat, geraten Eltern leicht in Panik und denken, ihr Kind sei nicht »normal«. Dabei gleichen sich im Lauf der Entwicklung Unterschiede meistens aus. Eltern, deren Kind offenkundig schon »weiter« ist, als es für sein Alter »normal« ist, geraten dagegen in Gefahr, ihr Kind zu überfordern, weil nicht alle Entwicklungsbereiche gleich weit entwickelt sind. Bei hoch begabten Kindern zum Beispiel erlebt man immer wieder, dass sie geistig zwar weit voraus sind, aber in ihrer emotionalen Entwicklung, in ihren seelischen Bedürfnissen noch genauso klein und schutzbedürftig sind wie ihre Altersgenossen.

Dennoch gibt es im Großen und Ganzen entwicklungstypische Lebensbedürfnisse und Verhaltensweisen, die besonders häufig bei Kindern eines bestimmten Alters auftreten. Wie es scheint, treten diese alterstypischen Verhaltensweisen in allen Kulturen etwa zum selben Zeitpunkt auf: Überall und zu allen Zeiten beginnen Kinder mit etwa einem Jahr zu laufen und zu sprechen, überall auf der Welt findet man besonders unter den Zwölfjährigen Kinder, die sich für stark genug halten, das Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Je weiter die Entwicklung fortgeschritten ist, umso stärker wirken sich Erziehungs- und Umwelteinflüsse aus. So sind Jugendliche bei uns oft bei weitem nicht so selbständig und lebensgewandt wie ihre Altersgenossen in anderen Kulturen. Das hängt damit zusammen, dass Jugendlichen in unserer Gesellschaft eine eigenständige Lebensführung aufgrund der Schulpflicht und der schlechten Arbeitsaussichten beinahe unmöglich gemacht wird. Das hängt aber vielleicht auch damit zusammen, dass sie im Alter zwischen 7 und 13 nicht die Lebensbedingungen hatten, um sich altersgemäß entwickeln zu können, und sie nicht die Lebenserfahrungen sammeln konnten, die in dieser Lebensphase natürlicherweise »dran« gewesen wären.

Entwicklung ist immer ein Zusammenspiel von Innen und Außen. Aber so wie man vereinfachend sagen kann, dass Maiglöckchen im Mai blühen, auch wenn sie im einen Jahr schon im April in voller Blüte stehen und im anderen Jahr Mitte Mai noch kaum Knospen entwickelt haben, so kann man auch in der Entwicklung des Menschen für bestimmte Erscheinungen Altersangaben machen, die sich an dem Alter orientieren, in dem diese Phänomene meistens auftreten. Man darf dabei aber nie vergessen, dass es ganz natürliche Schwankungen nach oben und nach unten gibt und dass die Entwicklung der verschiedenen Persönlichkeitsbereiche nicht immer genau parallel verläuft. Und selbstverständlich ist Entwicklung ein schleichender, fließender Prozess, in dem sich verschiedene Entwicklungsphasen überlagern. Ein Kind kann gleichzeitig Züge eines »Siebenjährigen« und eines »Achtjährigen« haben.