I
n diesem Winter gelang mir in der Schule ein großer Wurf.
Mein Essay über Leonardo da Vinci, Raffael und Michelangelo beurteilte Fräulein Bloch als den besten, den je einer ihrer Schüler geschrieben hatte ...
Janina David war Ende 1941 etwa 11 ¾ Jahre alt, als ihr dieser große Erfolg glückte (David, S. 270)
Am 29. Juni 1992 war im Berliner Tagesspiegel unter der Rubrik »Leute« zu lesen:
Im Moment scheint der blonde, sommersprossige Junge jedenfalls einer der aktivsten Schüler Berlins zu sein. Benni ist zwölf ...
Der Schülertreff ist »nur eine Idee« von Benni. Sonst macht er nämlich noch bei Greenteam, bei der »S.A.U.«, bei den Falken, bei der Kinder-Nachrichtensendung »Kick« sowie beim Büro »Kids beraten Senator« mit und gibt außerdem eine eigene Zeitschrift heraus ...
In der Lebenswelt der großen Kinder ist man als Zwölfjähriger Experte: Man hat seinen Platz gefunden, weiß, wo man innerhalb der Gruppe der Gleichaltrigen steht – die auch weiterhin ein wichtiger Stützpunkt bleiben wird –, aber man will eigene, spezielle Bereiche dieser Lebenswelt ganz für sich erschließen und sich ausprobieren. Es ist wieder, wie bei etwa Fünfjährigen, ein Alter der »Spezialisten«, und nicht selten liegen hier die Wurzeln zur späteren Berufswahl. Und es ist wieder ein Alter, in dem man ausprobieren möchte, »so wie die Erwachsenen« zu sein.
Wenn man die Augen offen hält, findet man unter etwa 12 Jahre alten Kindern tatsächlich ausgesprochen aktive, engagierte, fachkundige Mädchen und Jungen, und zwar nicht nur bei den besonders Begabten, wie man vielleicht aus den beiden Zitaten oben und den Berichten über die zwölfjährigen mathematischen und musikalischen »Wunderkinder« schließen könnte.
Auch die ganz »normalen« Zwölfjährigen werden, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen, gern »Profis«: Vor einigen Jahren waren die zwölfjährigen Jungen noch Moped-Experten, die Nachmittage lang an ihren Fahrrädern und Mopeds herumgebastelt haben, mit denen sie natürlich auch herumgefahren sind, obwohl es den Mopedführerschein erst mit 15 gibt. In der Generation meiner Eltern waren es die Radios, die von den Jungen auseinander und wieder zusammenmontiert wurden. Und heute sind Zwölfjährige Computer- und Multimediafreaks, die ihren Vätern zeigen, wo’s langgeht.
Unter Zwölfjährigen gibt es traumhaft sichere Jonglierer, Skateboardakrobaten, wurfsichere Basketballer, versierte Mountainbiker, verblüffende Zauberer (David Copperfield wurde mit 12 in die Gesellschaft amerikanischer Magier aufgenommen) usw.
Unter Zwölfjährigen grassieren daneben »Krankheiten«: Wie Süchtige können Kindergruppen – und es sind meistens Gruppen – dem Fußball- oder Tischtennisspielen, dem Skateboard- oder Rollerbladefahren, dem »tagen« oder Streetball verfallen sein. Ein, zwei Jahre lang machen Kinder diese »Gruppenkrankheiten« durch, dann ist der Spuk meistens vorbei.
Zwölfjährige haben manchmal ihre persönlichen Wissensgebiete, in denen sie unschlagbar sind: Die einen können auf Anhieb den Tabellenplatz jeder Fußballmannschaft mit aktuellem Torverhältnis nennen und wissen darüber hinaus die Ergebnisse (und Halbzeitergebnisse!) aller Spiele der laufenden Spielzeit. Andere erkennen beim ersten Ton die Musikstücke von allen aktuellen Musikgruppen, wissen die Titel und Erscheinungsjahre, kennen die Namen, das Alter und die Hobbys der Mitglieder der einzelnen Bands. Wieder andere sind Film- und Schauspielerexperten oder kennen alle Pferderassen oder alle Flugzeugtypen. Dann gibt es solche Besonderheiten wie das Kursbuch auswendig zu können, alle bekannten Primzahlen im Kopf zu haben oder zu wissen, welche Methoden die verschiedenen Comic-Helden in welcher Situation angewendet haben, um ihre Gegner ins Jenseits zu befördern.
Das gilt für Mädchen und Jungen gleichermaßen, wenn auch Mädchen oft andere Schwerpunkte haben, in denen sie sich engagieren und absolute Spitze sein können: Sie übernehmen selbstverantwortlich die Pflege für ein Pferd, hüten kleine Kinder, beteiligen sich an sozialen oder ökologischen Hilfsprojekten oder sind »im Hauptberuf« Vermittler bei Konflikten innerhalb der Klassengemeinschaft und zwischen Lehrern und Schülern.
Amelies Aktion ist typisch: Amelie war 12 Jahre alt, als sie zusammen mit ihrer gleichaltrigen Freundin anfing, in ihrer Schule und im Bekanntenkreis Kleider und Spenden zu sammeln, die sie für obdachlose Kinder nach St. Petersburg schickte – lediglich das Porto für die Pakete haben die Eltern bezahlt.
Ist es nicht »typisch Mädchen«, dass diese Aktion nicht in der Zeitung stand? Mädchen werden eben immer noch weniger wahrgenommen als Jungen, wenn sie etwas Besonderes leisten. »Typisch Mädchen« ist wohl auch, dass es sich um eine soziale Aktion handelt und die Mädchen von sich aus nicht so viel Aufhebens von ihren Aktivitäten machen. Mädchen ist es in diesem Alter oft »peinlich«, in ihren Besonderheiten zu sehr wahrgenommen zu werden. Die Erwachsenen fallen auf diese »hübsche« Bescheidenheit herein, finden das, was Mädchen leisten, selbstverständlich und fördern Mädchen in ihrem Engagement dann meistens weniger als Jungen.
Vielleicht ging es Amelie mit ihren 12 Jahren ähnlich, wie es fast 50 Jahre vorher Janina David im Ghetto in Warschau empfunden hat, als sie knapp 12 Jahre alt war:
Außerdem sehnte ich mich danach, endlich etwas Nützliches zu tun. Es war mir immer schmerzlicher zu Bewußtsein gekommen, daß ich nichts als ein Parasit war, daß ich ein nutzloses Leben führte, und die ständigen Opfer meiner Eltern akzeptierte, ohne mich in irgendeiner Weise bei ihnen revanchieren zu können. Ich träumte davon, eine Arbeit anzunehmen, Tag und Nacht hart zu arbeiten, Geld und Essen nach Hause zu bringen, meine Familie zu ernähren, statt mich von ihnen ernähren zu lassen ...
Ein paar Monate später, im Frühjahr 1942, wird Janina 12 Jahre alt. Etwa zu dieser Zeit erleidet ihre Mutter eine Fehlgeburt. Janina schreibt:
Plötzlich wurde ich überwältigt von einem Gefühl der Fürsorge und einer ungeheuren Kraft: ich werde für sie und für Vater sorgen. Ich werde kochen und sauber machen und einkaufen gehen ...
Ich stand vom Stuhl auf und wischte mir die Augen. Von jetzt an hatte ich das Heft in der Hand. Ich kam mir 2 Meter groß vor, und unzerstörbar ... (David, S. 280 f. u. S. 299)
Im Mai 1994 machte in Deutschland ein Entführungsfall Schlagzeilen: Irrtümlich war die zwölfjährige Tochter eines Hausmeisters entführt und elf Tage in einer engen Holzkiste unter einer Autobahnbrücke gefangen gehalten worden. Sie wurde zufällig entdeckt und befreit. In der darauf folgenden Pressekonferenz drückten die Polizeibeamten ihr Erstaunen über die »starke und stabile Persönlichkeit« des Mädchens aus, das die Zeit in der Kiste bei ohrenbetäubendem Lärm und angesichts der bedrohlichen Lage so unbeschadet überstanden habe.
Das Gefühl, unendliche Kräfte zu haben, im Kern unzerstörbar zu sein, fähig zu sein, die Welt verändern zu können, kurz: lebens-tüchtig zu sein, scheint ein Lebensgefühl zu sein, dass typischerweise im Alter von etwa 12 Jahren besonders häufig und besonders bewusst empfunden wird.
Dort wo es mit der Schulpflicht noch nicht so streng zuging, haben es Kinder mit etwa 12 Jahren auch tatsächlich häufiger ausprobiert, wie es ist, das Leben selbst in die Hand zu nehmen:
... wollte ich 12jähriger Franzl im Frühjahr 1858 auch mit anderen Schulgenossen in das Schwabenland gehen, um ganz besonders zu Hause dem verhaßten Wurzelklauben in der Furche hinter dem Pfluge zu entkommen. Konnte ich in Schwaben doch einen Lohn in Barem und hohe Stiefel verdienen und nebenher nach »Schwäbisch« lernen. Mein Wille war stark und die Erlaubnis endlich erbeten ... (Kurz, zit. nach Rutschky, S. 565)
Oder Roberto, in einem Armenviertel in Mexiko-Stadt aufgewachsen:
Als ich etwa elf Jahre alt war ... lief ich zum erstenmal von zu Hause fort. Ich fuhr nach Veracruz. Außer den Kleidern, die ich auf dem Leib trug, hatte ich nichts mit ...
Der Hauptgrund, warum ich ausrückte, war, daß meine Kameraden mir von ihren Abenteuern erzählt hatten. So etwas wollte ich nun selber erleben ...
Auf der Landstraße war ich sorglos und glücklich. Um das Essen habe ich mir nie Sorgen gemacht. Nichts war leichter, als in irgendeine Hütte zu gehen und die Leute um Arbeit für einen Happen Essen zu bitten. Sie hatten immer etwas zu tun für mich: Wasser holen, Holz spalten oder so etwas, und dann bekam ich zu essen ... (Es folgt die Schilderung, wie er nach Veracruz kommt und sich dort mit allen möglichen Arbeiten sein Essen verdient.)
So vergingen drei Monate, und dann hatte ich plötzlich Lust, nach Hause zu fahren. An meine Familie hatte ich nur selten gedacht, aber wenn, dann war mir, als müßte ich auf der Stelle zurückkehren ... (Roberto in: Lewis, S. 92 ff.)
Pedro, heute etwa 40 Jahre alt, war jüngstes von zehn Geschwistern und ist in einer kleinen kolumbianischen Stadt aufgewachsen. Er war in seiner Familie gut versorgt und ging zur Schule. Als er 12 war, beschloss er, dass er eine bessere Schulbildung brauche. Er ging allein in die Großstadt, suchte sich dort eine Familie, die ihn in Untermiete aufnahm und verpflegte. Er verdiente nebenher Geld, indem er einem Buchhalter bei der Buchführung half. Mit 17 schloss er die Schule ab, studierte und heute ist er Finanzberater in zwei großen Firmen.
Solche Beispiele von Zwölfjährigen könnte ich zuhauf anführen. Auch in Deutschland gibt es Zwölfjährige, die sich »selbständig« machen wollen, die sich stark fühlen, für sich selbst zu sorgen, und wenigstens eine kurze Zeit lang ausprobieren möchten, wie es sich anfühlt, auf eigenen Füßen zu stehen. Nur ist das für sie in unserer Kultur schlicht und einfach verboten: Wenn sie es doch tun wollen, bleibt diesen Kindern bei uns nichts anderes übrig, als in die Illegalität zu gehen. Wer sich der Schulpflicht – und sei es nur vorübergehend – ohne eine »besondere erzieherische Befürwortung« von »verantwortlichen Erwachsenen« entziehen will, wird bei uns im wörtlichen Sinn auf die Straße gejagt, in den Untergrund, in die Obdachlosigkeit. Und es gibt – leider! – immer mehr Kinder, die diesen Weg nehmen.
Trotz ihrer oft erstaunlichen Lebens- und Überlebenskräfte darf man sich aber nicht täuschen: Zwölfjährige sind noch nicht erwachsen! Zu allen Zeiten und in allen Kulturen waren und sind sich Menschen, die ein Gespür für die Entwicklung von Kindern haben, darin einig, dass Zwölfjährige doch noch Kinder sind. Nur in unserer modernen Welt wird so getan, als hätten sich die Zeiten so grundlegend verändert, dass damit auch die Entwicklung der Kinder aus den Angeln gehoben worden wäre. Einerseits werden die Kinder bei uns künstlich »klein« gehalten und in ihrem Tatendrang und ihrem Bedürfnis nach Selbständigkeit ausgebremst. Andererseits werden Kinder mit 12 Jahren wie Erwachsene behandelt. Immer lauter werden die Stimmen, die ihnen sogar juristisch das Recht absprechen wollen, Kind zu sein.
Aber Zwölfjährige empfinden sich im Kern selbst noch als Kind, sogar wenn sie wie Erwachsene leben müssen: Der zwölfjährige Pulga leitete zum Beispiel eine Gruppe von Straßenkindern zwischen 7 und 14 Jahren in Bogotá. Er musste also nicht nur für sein eigenes Leben sorgen wie ein Erwachsener, sondern er war darüber hinaus auch für das ständig akut bedrohte Leben seiner Freunde verantwortlich. Das ist ganz schön viel »Erwachsensein« auf einmal!
Seine Geschichte kenne ich aus dem Buch Die Straßenkinder von Bogotá der Forscherin und Autorin Dolly Conto de Knoll, die einen sehr engen Kontakt zu diesen Kindern aufbauen konnte. In diesem Buch steht über diesen scheinbar so »erwachsenen« Zwölfjährigen aber auch:
Pulga hatte viele Wünsche, die aber meist Träume blieben. Einer war, auch einmal Spielzeug zu besitzen. Trotz seiner Position in der Gruppe hätte er gerne Spielzeug gehabt. Damit bewies er, daß er seine Kindheit noch keineswegs abgeschlossen hatte. (Conto de Knoll, S. 33)
Früher mussten auch in Mitteleuropa viele Zwölfjährige wie Erwachsene arbeiten. Wie sie sich dabei fühlten, geht aus der Erinnerung einer deutschen Frau hervor, die mit 12 Jahren »in Stellung« gehen musste:
Ich sollte ihre Magd vorstellen, und ein Alter von zwölf Jahren gab mir nicht Kräfte genug. Wasser schöpfen und mit einem Schiebkarren Getreide zur Mühle hinauffahren war meine tägliche Arbeit ... Ich ergriff eine gute Gelegenheit und entschloß mich zur Reise, um in dem Hause meiner Mutter gesättigt zu werden ... Wenige Wochen nach diesem Tage gab meine Mutter ihrem Mann das dritte Kind und ich hatte wieder meinen Posten bei der Wiege! (Karsch, zit. nach Rutschky, S. 200 f.)
Daran, dass auch die Mädchen mit 12 Jahren noch nicht wirklich erwachsen sind, besteht selbst in den Kulturen kein Zweifel, in denen sie in diesem Alter verheiratet oder gar als Prostituierte missbraucht werden. Zwar haben die Mädchen in diesen Kulturen gewiss schon eine andere Rolle als gleichaltrige Mädchen bei uns, aber in rückschauenden Erinnerungen oder in Berichten der Mädchen selbst oder auch in der Einschätzung der Erwachsenen gibt es keinen Zweifel: Erwachsen sind sie nicht!
Mit 12 Jahren haben die Kinder die Lebenswelt des großen Kindes noch nicht verlassen. Das äußert sich auch darin, dass sie sich immer ein Zuhause suchen, auch wenn sie aus ihrem Elternhaus ausgezogen sind. Und wenn es eine Bande von Straßenkindern ist: Letztlich fühlen sie sich ohne Halt und Geborgenheit doch noch verloren und überfordert.
Je älter Kinder werden, umso stärker ist der Einfluss der Kultur auf ihr Verhalten und ihre individuellen Bedürfnisse. Und umso problematischer ist es natürlich, bestimmte »alterstypische« Merkmale zu beschreiben. Wenn aber bestimmte Merkmale unabhängig von Kultureinflüssen auftreten, dann muss es sich dabei wohl um menschliche Eigenschaften, vielleicht um urmenschliche Bedürfnisse handeln, die mit der Entwicklung zu einem reifen, ausgeglichenen Erwachsenen zu tun haben.
Das heißt: Wenn Kinder ihre natürlichen Entwicklungsbedürfnisse nicht genug ausleben können, wird ihrer Persönlichkeit mit zunehmendem Alter eine wichtige Wurzel fehlen und ihre natürliche, gesunde Entwicklung wird zunehmend verkümmern.
Wenn zum Beispiel Kinder im Alter zwischen 8 und 10 Jahren keine Gelegenheit hatten, selbständig ihre Welt zu erkunden, sich umzuschauen, sich hier und dort auszuprobieren, herauszufinden, was ihnen Spaß macht, sich nachahmenswerte Anregungen auszusuchen, kurz: in Freiheit sich selbst, die Altersgenossen und die Welt kennen zu lernen, werden sie sich mit 12 Jahren nicht sicher fühlen auf ihren Füßen und in ihrer inneren Entwicklung bereits verarmt sein.
Es wird ihnen schwer fallen, etwas zu finden, worauf sie sich als Zwölfjährige voller Engagement stürzen können. Sie werden wahrscheinlich eher daran zweifeln, jemals etwas selbständig meistern zu können, und werden mit der inneren Einstellung weiterleben, dass ihr Leben von den Vorgaben und Initiativen anderer bestimmt ist, so wie es von Schuljahr zu Schuljahr, von Stundenplan zu Stundenplan, von Fernsehprogramm zu Fernsehprogramm, von Training zu Training bisher immer gewesen ist. Sie werden dann wohl kaum das Gefühl erleben, lebens-tüchtig geworden zu sein, dieses wundervolle »Zwölfjährigengefühl«: »Ich kam mir 2 Meter groß vor, und unzerstörbar.«
Kinder, die diese Sicherheit nie gespürt haben, werden sich auch ungeschickter, unsicherer, verkrampfter und aufsässiger verhalten, wenn sie mit etwa 13 Jahren in die nächste Lebenswelt, in die Welt der Jugendlichen aufbrechen wollen.
Allerdings spielt der wirkliche Durchbruch in die neue Welt der Jugendlichen bei Zwölfjährigen noch keine ernsthafte Rolle – trotz aller Lebenstüchtigkeit, trotz ihrer erstaunlichen Kompetenz und ihrer Unerschrockenheit. Noch probieren sie mehr aus, wie es wäre, wenn sie schon groß wären. Das zeigt sich auch daran, dass sie noch eher »gut zu haben sind« als rebellisch, dass sie eher mit sich im Reinen sind als unausgegoren. Normalerweise scheinen sich Zwölfjährige in ihrer Rolle als großes Kind noch ganz wohl zu fühlen. Aber sie schauen bereits heftig über den Zaun und unverkennbar werden in allen Lebensbereichen neue Horizonte sichtbar.
Mit etwa 12 Jahren werden Menschen zu einem neuen Denken fähig, das jüngeren Kindern noch nicht möglich ist, jedenfalls nicht von sich aus. Mit etwa 12 Jahren nämlich kann ein Kind die Dinge wieder ein Stückchen mehr »von außen« betrachten: Zwölfjährige würden zum Beispiel in einer Hütte nicht mehr Feuer machen, in dem Glauben, man könnte es notfalls mit einem Eimer Wasser löschen. Sie erkennen, dass das Dach Feuer fangen könnte und »sehen«, dass mit einem Eimer Wasser da nichts mehr zu retten wäre (aber dass Funkenflug oder ein unsichtbarer Schwelbrand unkontrollierte Brände auslösen können, das müssen auch Zwölfjährige noch gesagt bekommen).
Die neue Fähigkeit, Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen, macht sich zum Beispiel im Sport bemerkbar. Zwölfjährige Fußball-, Hockey-, Handball- oder Basketballspieler können zum ersten Mal richtig verstehen und nachvollziehen, weshalb in einer Mannschaft taktische Züge zwischen Spielern sinnvoll sind, die scheinbar nichts damit zu tun haben, aufs Tor oder den Korb zu spielen. Sie begreifen auch jetzt erst wirklich, warum jeder Spieler »seine« Position hat und beibehalten soll, auch wenn der Ball am anderen Ende des Spielfeldes ist.
Jüngere Kinder stürzen sich natürlicherweise noch alle gleichzeitig auf den Ball und jeder versucht, ein Tor zu schießen. Im besten Fall gehorchen sie nur einfach den Anweisungen des Trainers, da zu bleiben, wo er sie hingestellt hat, und dort brav darauf zu warten, dass sie angespielt werden. Erst etwa Zwölfjährige können den Spielablauf aus einer höheren Warte sehen und mitdenken und sich als Teil einer ganzen Mannschaft verstehen, die im übergreifenden Zusammenspiel gemeinsam ein Ziel verfolgt.
Ähnlich verhält es sich mit dem logischen Denken. Einen Satz wie: »Denke nie, du denkst, denn wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nicht, dann denkst du nur, du denkst«, finden die Kinder faszinierend, weil sie entdecken, dass sie ihn tatsächlich verstehen! Deshalb stehen Wortspiele, Denksportaufgaben und Knobeleien bei vielen Zwölfjährigen hoch im Kurs.
Aber viele Erwachsene vergessen, dass man abstraktes Denken ebenso wenig »beibringen« kann, wie man einem Kind befehlen kann zu wachsen. Dreisatzaufgaben zum Beispiel können Menschen erst erfassen, wenn sie gleichzeitig verschiedene Dinge im Kopf haben und gegeneinander austauschen und verwandeln können. Für jüngere Kinder ist die selbständige Lösung der folgenden Aufgabe normalerweise vollkommen unmöglich: Wenn der Trinkwasservorrat eines Bootes für 5 Menschen 10 Tage lang reicht, wie lange können dann 7 Leute zusammen wegfahren? Zwölfjährige versuchen die Lösung herauszubekommen, jüngere Kinder würden vermutlich ganz einfach dabei bleiben, dass die Fahrt 10 Tage dauern soll und dass dann eben nur 5 Leute mitfahren können.
Nun sind manche Kinder auch mit 12 oder 13 Jahren noch keine »Zwölfjährigen«, zumindest nicht in allen Pesönlichkeitsbereichen. Und so entstehen dann zum Beispiel die schrecklichen Mathematikdramen in der Schule, wie sie eine Psychologieprofessorin erlebt hat, die mir gestand, dass sie den Dreisatz nie begriffen habe, bis heute nicht! Dennoch hat sie als Wissenschaftlerin natürlich unzählige Male Dreisatzaufgaben gelöst. Offenbar war sie noch »zu jung« gewesen, als diese scheinbar so komplizierten Rechnungen in der Schule auf dem Lehrplan standen. Nicht nur der Körper, auch das Denken reift eben von ganz allein, wenn man ihm nur genug Zeit lässt und die richtige »Nahrung« gibt.
Zum »neuen Denken« der Zwölfjährigen gehört eine große Errungenschaft, die jetzt allmählich von den Kindern entdeckt und ausprobiert und mit 13 Jahren dann in vollem Umfang gegen die Erwachsenen eingesetzt wird (da gibt es in gewisser Weise Ähnlichkeiten zum »Schwindeln« der Fünfjährigen): Zwölfjährige beginnen kritisch zu denken. Das heißt, sie können sich selbst, aber auch die anderen Menschen und alle Vorgänge auf der Welt in Gedanken von außen anschauen, so als wären sie »gefilmt«, und, was wichtiger ist, Stellung beziehen.
Mit 12 Jahren (bitte immer: ungefähr!!) erkennen sie bei den Lehrern die Schwächen und Stärken und wägen sie gegeneinander ab – und zwar nicht mehr wie bei manchen Jüngeren als Nachgeplapper der elterlichen Reden. Zwölfjährige erkennen, warum für sie die eine Freundin angenehmer ist als die andere, und sie beginnen auch zu verstehen, dass die »doofe« Klassenkameradin vielleicht nichts dafür kann, dass sie so »doof« ist. Sie fangen an, nach Gründen zu forschen, weshalb die Dinge auf der Welt so sind, wie sie sind, sie gehen den Dingen, wenn sie können, auf den Grund – und daher wohl auch ihre Fähigkeit und ihr Bedürfnis, zu »Experten« zu werden.
Eine kritische Auseinandersetzung mit Themen, die mit starken Gefühlen besetzt sind, wäre dagegen noch eine Überforderung (ist das aber nicht auch noch bei vielen Erwachsenen so?): Im Deutschaufsatz beispielsweise eine kritische Analyse der Inhalte von Bravo oder Mädchen zu fordern oder die Frage, was denn an den Spice Girls so wundervoll ist oder an »Schumi« so toll, wäre nur töricht, um nicht zu sagen, gemein. (Solche Auseinandersetzungen wären Thema fürs Jugendalter – und werden dort oft zu wenig gepflegt und geschult.)
Die aufkommende Fähigkeit, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen, hat für Zwölfjährige auch eine ausgesprochen komische Seite: Sie sehen Menschen und Situationen plötzlich aus einer Sicht, die für sie zum Schieflachen ist: das Hinterteil der Lehrerin, der umgeschlagene Hemdkragen des Lehrers, die Vorstellung, auf Stöckelschuhen in die Schule zu kommen usw. Deshalb sind Albern und Kichern Markenzeichen vor allem der zwölfjährigen Mädchen.
Kinder ab etwa 12 Jahren verstehen zum Beispiel auch plötzlich, was an Filmszenen oder Witzen, in denen menschliche Eigenschaften aufs Korn genommen werden, komisch ist. So kursieren unter Zwölfjährigen die von Generation zu Generation wechselnden Witze, die sich über bestimmte Menschen lustig machen: Schottenwitze, Mantafahrerwitze, Blondinenwitze.
Zwölfjährige entdecken Ironie und probieren sie – zuweilen noch sehr ungeschickt und taktlos – aus. Die Begrüßung »He, du Volltrottel!« kann als freundschaftlicher Witz gemeint sein, aber voll danebengehen, weil das andere Kind die beabsichtigte Ironie überhaupt nicht mitbekommt. Deshalb gibt es auch so viele Missverständnisse mit Zwölfjährigen, die andere (auch Erwachsene) beleidigen und hinterher sagen, es wäre ja bloß ein Spaß gewesen.
Die neue Fähigkeit, die Dinge der Welt aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen, spiegelt sich also auch in einer neuen Form, den Menschen zu begegnen.
Der soziale Bereich
Die Beziehung zu den Erwachsenen
Eltern von Zwölfjährigen und Lehrer von 6., 7. Klassen berichten von einem veränderten Auftreten, einer neuen Art ihrer Schützlinge, »aus den Augen zu schauen«. Viele Zwölfjährige gehen mit neuer Ausstrahlung auf die Erwachsenen zu, schauen ihnen »erwachsener«, selbstbewusster, gerader in die Augen, auch wenn darin noch keine Opposition mitschwingt.
Auch wenn Zwölfjährige gelegentlich Dinge tun, für die sie wirklich noch »zu jung« sind, lehnen sie sich in der Regel nicht ernsthaft dagegen auf, wenn sie von Erwachsenen zur Ordnung gerufen oder ihnen die Grenzen aufgezeigt werden: Sie suchen oft geradezu diese Grenzklärung durch die Erwachsenen. Ein Zwölfjähriger, der sich mit einer Zigarette erwischen lässt, weiß genau, dass er etwas Verbotenes tut. Er »erwartet« vom Erwachsenen, dass er in seine Grenzen gewiesen wird (auch wenn er heimlich mit seinen Freunden weiterrauchen wird, um zu beweisen, wie »groß« er schon ist). Bei älteren Jugendlichen würde eine Zurechtweisung zu Hohngelächter führen und als Aufforderung verstanden werden, sich umso mehr gegen den Erwachsenen aufzulehnen.
Viele Frauen berichten, dass sie etwa im Alter von 11, 12 Jahren eine besondere Beziehung zu ihrem Vater entwickelt haben: Der Vater wurde plötzlich neu entdeckt und heiß geliebt – oder inbrünstig abgelehnt. (Diese emotionale Ablehnung der Zwölfjährigen ist in der Regel noch keine wirklich kritische Auseinandersetzung mit dem Vater oder der Mutter, wie sie dann mit etwa 13 Jahren an der Tagesordnung ist.) Manchmal kommt in diesem Alter auch nur die große Sehnsucht der Mädchen nach dem Vater zum Ausdruck, der gar nicht oder zu wenig da ist.
Wie dem auch sei: Der Vater scheint für Mädchen von etwa 12 Jahren jedenfalls besonders wichtig zu sein. Consuelo aus Die Kinder von Sánchez erzählt von der Abschlussfeier der 6. Klasse, als sie etwa 12 Jahre alt war:
Ich hatte meinen Vater darum gebeten, zur Schlußfeier zu kommen, aber er erschien nicht. Ich stand die ganze Zeit am Treppengeländer, um zu sehen, ob er da war ... Manche Väter kamen in ihrer Arbeitskleidung, aber sie waren wenigstens bei ihren Töchtern. Ich wünschte sehnlich, ich könnte meinen Vater herbeizaubern! (Consuelo in: Lewis, S. 116)
Auch Janina David erinnert sich, als sie etwa 11 ½ Jahre alt war:
Mutter konnte sich lange nicht beruhigen. Sie versuchte, mir zu erklären, was geschehen war, und warum ein solches Benehmen sie verletzte ... Ich wollte sie nicht verstehen. Ich wollte überhaupt nichts hören, was Vaters Bild in meinem Herzen irgendwie ändern könnte ...
Mutter schob mich mit einem Seufzer von sich. »Wirklich, Janie, ich hatte schon gehofft, daß du endlich erwachsen wirst, und daß wir uns endlich wie zwei Frauen unterhalten können. Aber du verstehst ja immer noch gar nichts.«
Sie wandte sich von mir ab, und ich schämte mich fast zu Tode. Ich hatte ihr meine geheimsten Gedanken zu dieser Angelegenheit mitgeteilt, etwas, was ich sonst keinem anderen Menschen gesagt hätte. Aber sie konnte mich nicht verstehen. Vater hätte verstanden, was ich meinte. (David, S. 286 ff.)
Die Beziehung zu Kindern und Jugendlichen
Zwölfjährige haben eine Mittelstellung zwischen den Kindergenerationen: Für die Jüngeren sind sie die großen, kompetenten, zur Verantwortung fähigen Partner, die bereit sind zu helfen, zu zeigen, voranzugehen. In der Gruppe der Jugendlichen bis etwa 16 Jahre werden sie als Jüngste schon mit in die »Jugendbanden« und Cliquen aufgenommen. Sie sind wie ein Gelenk zwischen den Kindern und Jugendlichen. Auch das macht ihr Selbstverständnis aus, dass sie mit allen gut können und sich überall mit größter Selbstverständlichkeit bewegen.
Unserem Haus an der Moltkestraße gegenüber lag ein Gelände aus früheren Gärten mit alten Bäumen ... Dort fanden unsere frühesten Spiele statt, unter Führung meines um sechs Jahre älteren Onkels ... Der bewunderte Onkel, etwa zwölf Jahre alt, errichtete mit unserer unzureichenden Hilfe eine Bude mit mehreren Stockwerken ... (Jaspers, S. 93)
Und Janina David:
Eine Kinderbande bildete sich in unserem Hof, und ich wurde aufgenommen – eine Ehre, die ich Mutter vergeblich klarzumachen versuchte. Wir waren alle zwischen zwölf und sechzehn ... (David, S. 309)
Auch in heutigen »Banden« sind dieselben Altersunterschiede zu beobachten wie eh und je: Wo es noch altersübergreifende »Kinderbanden« gibt, finden sich in ihnen meistens Kinder zwischen etwa 7 und 13 Jahren zusammen. Wenn sie etwa zwischen 12 und 14 Jahre alt sind, verlassen die ältesten Mitglieder der Kinderbanden ihre Gruppe und wenden sich den Banden und Gruppen der Älteren zu: Auf der ganzen Welt sind die Mitglieder von Jugendbanden etwa zwischen 12 und 16 Jahre alt. Die »professionellen« Gruppierungen (ob Musikbands, Jugendorchester, offene Sportgruppen, Sprayertrupps, Rechtsradikale oder Einbrecherbanden) rekrutieren sich aus Leuten, die meistens zwischen etwa 15 und 23 Jahren alt sind. Auch für Kinder und Jugendliche galt und gilt offenkundig ein allgemeines »Gesetz«, das Kinder unter 12 den »Kleinen«, Leute ab 12 den »jüngeren« Jugendlichen, aber noch nicht den »älteren« Jugendlichen beziehungsweise jungen Erwachsenen zuordnet.
Auch wenn Zwölfjährige noch keine »richtigen« Jugendlichen sind – selbst wenn sie es selbst so gern wären –, so wachsen und reifen sie natürlich trotzdem.
Zum Beispiel öffnet sich allmählich ein ganz wichtiges neues Feld im Umgang mit Gleichaltrigen, beim einen Kind früher, beim anderen später: Freundschaften bekommen eine neue Farbe.
Das gilt sowohl für Freundschaften und Liebschaften zwischen Jungen und Mädchen (die bei Zwölfjährigen relativ selten offen gezeigt werden) als auch für Freundschaften der Jungen und der Mädchen untereinander: Der andere wird auf einmal als »anderer« wahrgenommen, die Beziehung wird als Echospiel zwischen sich selbst und dem anderen erlebt. Es ist, als werde der Freund langsam vom »Partner an der Seite« zum »Partner gegenüber«: Dort sieht man ihn bewusster, nimmt ihn als ganzen Menschen wahr, als Person, die sich von einem selbst unterscheidet, mit der man sich auseinander setzen, Gemeinsames und Unterschiedliches entdecken kann. (Den Menschen neben sich spürt man mehr, als dass man ihn sieht, er ist Teil der eigenen, ganz persönlichen Welt, aber man begegnet ihm nicht.) Miteinander reden und Probleme wälzen wird unter Freunden, besonders aber unter Freundinnen, zunehmend wichtiger, als miteinander etwas zu tun. Es sind Anfänge von Du-Beziehungen, die im nächsten Lebensabschnitt so sehr in den Mittelpunkt des Lebens treten werden. So werden auch die Zweierfreundschaften in diesem Alter allmählich wichtiger.
Erst in diesem Alter beginnen Menschen auch zu begreifen, dass sie selbst mit ihrem Verhalten beim anderen bestimmte Gefühle und Reaktionen hervorrufen: Wenn ich zu deutlich ausspreche, dass ich immer meine Hausaufgaben mache, dann denken die anderen, ich sei ein Streber. Oder: Wenn ich ein Versprechen nicht einhalte, denkt der andere, ich sei ein unzuverlässiger Mensch. Das sind erste Anfänge von Selbstkritik.
Das neue Selbst-Verständnis
Um selbst-kritisch zu sein, muss man sich selbst von außen, wie mit fremden Augen, anschauen können. Diese Fähigkeit entwickelt sich mit etwa 12 Jahren. Dazu gehört, dass sich Zwölfjährigen manchmal ganz unvermittelt »die Augen öffnen«: Viele Erwachsene erinnern sich lebhaft daran, wie sie etwa in diesem Alter plötzlich mit Bewusstsein entdeckt haben, dass sie als Person existieren, als eine einzigartige, einmalige, auf sich selbst gestellte Person, die ihr ganz persönliches Leben lebt. Das kann erschrecken und ermutigen zugleich. Jedenfalls ist diese Entdeckung wie der Verlust einer Unschuld: das Aufreißen eines neuen Horizontes, der Beginn eines neuen Selbst-Verständnisses!
(Kinder mit 8, 9 Jahren machen manchmal eine ähnliche »existenzielle« Erfahrung. Aber in diesem Alter hat die Erkenntnis, eine einmalige Person zu sein, noch nicht diese Dimension wie bei Zwölfjährigen.)
Das Selbst-Bewusstsein
Die Feststellung: »Ich bin schon groß!!« scheint trotz der aufkeimenden Selbstkritik wie eine große, unsichtbare Überschrift über vielen Taten (und Missetaten) von Zwölfjährigen zu stehen. Wenigstens daran, dass sie groß sind, gibt es für Zwölfjährige nicht den geringsten Zweifel! Zwölfjährige werden deshalb gelegentlich für unerträglich überhebliche Angeber gehalten.
Ob es ums Herausputzen und Schminken geht (bei zwölfjährigen Mädchen offenbar schon immer und überall ein wichtiges Thema!) oder ums Rauchen, ob darum, einen Sex-and-Crime-Film durchgehalten zu haben, oder ums Biertrinken – wobei normalerweise nicht die Menge zählt (das ist Thema der Fünfzehnjährigen!) –, ob darum, möglichst spät ins Bett zu gehen oder ums Feuerwerken oder ums Mitmachen bei den Banden der Jugendlichen: Mit 12 Jahren braucht man Beweise, dass man groß ist – und wie!
Einen ganz besonderen Reiz scheint auf zwölfjährige Jungen Feuer und Feuerwerk auszuüben. Offenbar steckt im gekonnten Umgang mit der Gefahr Feuer die geballte Bestätigung: Ich bin schon groß (und unzerstörbar?).
Viele Männer aus allen Zeiten und Gegenden erinnern sich an Feuerwerksgeschichten, die sie etwa im Alter von 12 Jahren erlebt haben. Eine schöne Auswahl hat dazu Katharina Rutschky in ihrer Deutschen Kinderchronik zusammengestellt:
Theodor Fontane um 1830, etwa 11 Jahre alt:
Ungleich gefährlicher waren die beständig geübten Feuerwerkskünste. Ich hatte mich mit Hilfe von Schwefel und Salpeter, die wir in der Apotheke bequem zur Hand hatten, zu einem vollständigen Pyrotechniker herangebildet, dabei von meiner Papp- und Kleisterkunst sehr wesentlich unterstützt. Alle Sorten von Hülsen wurden mit Leichtigkeit hergestellt, und so entstanden Sonnen, Feuerräder und pot à feu’s. Oft weigerten sich diese Schöpfungen, ihre ihnen zugemutete Schuldigkeit zu tun, und wir warfen sie dann zusammen und zündeten den ganzen Haufen mißglückter Herrlichkeit mit einem Schwefelfaden an, abwartend, was daraus werden würde ... (Rutschky, S. 366 f.)
Friedrich Ratzel um 1856, etwa 12 Jahre alt:
Bedenkliche Richtungen schlug dieser Pioniertrieb in etwas späterer Zeit ein, als er sich auf Feuerwerk warf. Ich weiß nicht, wie es kam, daß unsere Soldaten auf dem Exerzierplatz so viel volle Patronen verloren, aber es war ganz bekannt, daß man bei den Übungen im Feuer nur hinter einer Plänklerkette herzugehen brauchte, um da und dort eine volle oder nur halbgeleerte Patrone zu finden. Indem wir zusammentaten, füllten wir ganze Flaschen mit Pulver. Mit Speichel befeuchtet wurden daraus kleine Berge geformt, die unter Sprühen und Spratzen verbrannten. Als ich mich einmal zu nahe heranwagte und hineinblies, sprang mir der ganze Feuerteufel ins Gesicht. Es war am Tag nach meinem zwölften Geburtstag. Die Pulverexplosion warf mich plötzlich um einiges in meiner eigenen Schätzung zurück, ich kam mir jünger und – dümmer vor, wiewohl mich die abgesengten Augenbrauen, Wimpern und Stirnhaare seltsam alt aussehen machten. (Rutschky, S. 367 f.)
Ich zitiere diese Geschichten, weil ich zu viele Lehrer und Eltern erlebt habe, die sich regelmäßig nach dem Ende der Weihnachstferien darüber beklagen, wie viel schlimmer und verantwortungloser die Schüler heutzutage mit Knallkörpern umgingen als früher. Da mag schon was dran sein. Aber wie schon an früherer Stelle angedeutet, stellt sich die Frage: Wie sollen die Jungs »vernünftigen« Umgang mit Feuerwerkskörpern lernen, wenn sie nur einmal im Jahr die Gelegenheit haben, mit ihnen zu experimentieren?
Meistens beklagen die Erwachsenen gleichzeitig, dass heutzutage viel jüngere Kinder schon »mit dem Unfug anfangen«: »Schon in der 6. Klasse geht das los!« Fragt man die Lehrer oder Väter nach ihren eigenen Erfahrungen mit Feuerwerk und versucht man festzustellen, wie alt sie damals selbst waren, dann sind alle gemeinsam überrascht, dass sich so viel wohl doch nicht verändert hat im Vergleich zu früher ...
Die einzige wesentliche Änderung ist, dass aus den Lausbuben von damals inzwischen (zu Recht) besorgte Väter und Lehrer geworden sind. Wie die Eltern aller Zeiten sollen sie ja um die Gesundheit ihrer Söhne besorgt sein, weil sie wissen, wie schlimm tatsächlich manchmal dieses Spiel mit dem Feuer ausgehen kann. Deshalb ist es wichtig, den Söhnen davon zu erzählen oder besser noch, ihnen frühzeitig zu zeigen, wie man richtig damit umgeht.
Trotzdem: Ein bisschen Zuversicht und Vertrauen von Seiten der Erwachsenen in die vernünftige Risikoabschätzung der Jungen wäre für die Entwicklung des Selbstbewusstseins der Kinder heutzutage schon gut. Denn die Entwicklung von Selbstbewusstsein hängt auch damit zusammen, dass man mit Risiko umgehen kann – nur muss man das irgendwann lernen. Wer die Erfahrung als Zwölfjähriger nicht gemacht hat – das ging gerade mal noch gut, ich habe die Situation glücklicherweise mehr oder weniger unbeschadet überstanden und das reicht mir ein für alle Mal –, der wird entweder ein ewiger Zögerer mit verkümmertem Selbstbewusstsein bleiben oder später versuchen, seine »Ich-Stärke« mit ganz anderen Methoden unter Beweis zu stellen.
Jugendliche in unserer modernen Kultur verlagern ihre Risikoerfahrungen zum Beispiel allzu oft auf die Zeit, wenn sie endlich den Führerschein in der Tasche haben: Dann rasen sie im Auto oder auf dem Motorrad wie wild durch die Gegend: Volles Risiko! Wie die Folgen dieser Risikoerfahrungen oft sind, ist bekannt.
Selbst-Zweifel
Mit wachsendem Selbstbewusstseins entwickelt sich notgedrungen auch dessen Kehrseite: Zwölfjährige beginnen an sich selbst zu zweifeln, indem sie anfangen, sich mit ihren Altersgenossen auf eine neue Art zu vergleichen. Zwölfjährige sind deshalb meistens höchst empfindlich. Sie überlegen zum Beispiel, wie sie auf andere wirken und was sie falsch machen, wenn sie sich abgelehnt fühlen (und manche fühlen sich ständig abgelehnt). So denken sie beispielsweise darüber nach, ob es ihrem »Ruf« schaden könnte, wenn sie ein gegebenes Versprechen nicht einhalten.
Gleichzeitig ist ihr Taktgefühl allerdings noch etwas unterentwickelt und sie lassen den anderen schonungslos spüren, wenn sie sein Verhalten nicht o.k. finden. Dazu passt, dass in 6., 7. Klassen oft das berühmte und bedauerliche Streber-Thema aufkommt: Gute Schüler werden auf einmal harsch kritisiert und ausgegrenzt – und diese Kritik, von Gleichaltrigen geäußert, trifft dann auch prompt die empfindlichste Stelle des keimenden neuen Ich-Gefühls! »Schlechte« Schüler beginnen auf einmal wirklich zu leiden und daran zu zweifeln, ob sie überhaupt zu etwas taugen.
Hierher gehört auch der »Uniform-Druck« bei der Kleidung, der überhaupt nicht typisch für die Kinder unserer modernen Konsumwelt ist, sondern zum Beispiel schon 1850 ein heißes Thema unter Zwölfjährigen war:
Ich erinnere mich hauptsächlich eines glühenden Wunsches, der war, gleichfalls wie die anderen ein Haarnetz, was damals Mode, zu bekommen. Mutter fand, daß meine Zöpfe auch ohne Netz aufzustecken seien, und ich bekam keins! Da wurde dies Verlangen so glühend, daß ich alle Tage einer Klassengefährtin Lina M. die Hälfte meines Weckens gab, damit ich in der Schulpause ihr Netzchen aufsetzen durfte. Eine unbeschreibliche Freude war es dann, als meine Base ... mir von einer Reise ein eignes, wirklich ein eignes Haarnetz aus schönen Chenillen und dazuhin noch mit zwei auf der Seite baumelnden Troddeln mitbrachte. So was Herrliches gab es in der ganzen Welt wohl nicht wieder. (Schumacher, zit. nach Rutschky, S. 64)
Bei uns waren es die Nickis, heute müssen es ganz bestimmte Jeans oder Turnschuhe sein. In allen Schulen auf der Welt gibt es diese »Modediktate«. Selbst dort, wo Kinder Schuluniformen tragen müssen, gibt es solche »Vorschriften«: bestimmte Armbänder oder Haarspangen, bestimmte Schulmäppchen oder -taschen usw. Zwar kommt das neidische Schielen nach der Kleidung der Klassenkameraden schon bei jüngeren Kindern vor, und auch Jüngere möchten »mit der Mode gehen« (vor allem Fünfjährige und Neunjährige!), aber in 6. und 7. Klassen hängen an der »Kleiderordnung« viel stärkere und andere Gefühle. Zusätzlich ist mit ihr oft ein bewertender Touch verbunden: Es gibt Klassen, da wird derjenige als ausgesprochen minderwertig angesehen, der keine Markenkleidung trägt, in manchen Klassen wird sogar genau »vorgeschrieben«, welche Marken getragen werden müssen, um anerkannt zu werden. In anderen Klassen wiederum gibt sich derjenige eine peinliche Blöße, der es wagt, ein Marken-T-Shirt – und sei es ein geerbtes – in die Schule anzuziehen.
Selbst-Verantwortung
Null Bock ist nicht gerade ein Ausdruck, der für Zwölfjährige typisch ist. Zwölfjährige haben jede Menge »Bock« auf alle möglichen Sachen, die sie, ohne zu fragen, voller Energie durchführen – nur nicht auf die »dämlichen« Schularbeiten oder Aufgaben, die auf Anordnung von Erwachsenen täglich erledigt werden sollen.
Wenn man 12 Jahre alt ist, dann sind so viele andere Dinge im Leben so viel wichtiger als der Schulstoff, dass die ewigen Ängste und Mahnungen der Eltern und Lehrer, schön fleißig für die Schule zu lernen, sehr abgedroschen und wie das Echo aus einer fernen, fremden, uralten Welt klingen müssen.
Viele Schulkatastrophen in diesem Alter gehen auf die einfache Tatsache zurück, dass Erwachsene (Lehrer und Eltern) in einer Art »Pakt« beschlossen haben, was und wie viel die Kinder zu lernen haben. Die Verantwortung dafür, dass die Kinder die vereinbarte Leistung erbringen, übernehmen (zuweilen wohl auf Druck der Schule) die Eltern: Sie sorgen dafür, dass die Schularbeiten gemacht werden, sie fragen Vokabeln ab und sie entscheiden, ob vier Fehler oder eine Drei im Diktat noch hinzunehmen sind oder nicht. Unbewusst schieben die Kinder dann natürlich die Verantwortung für ihre schulischen Leistungen auf die Eltern ab. Sie nehmen zwar die Tadel der Lehrer und der Eltern auf sich, selbst verantwortlich fühlen sie sich im Tiefsten aber sehr häufig doch nicht.
Spricht man Eltern darauf an, dass ihr Kind nie erfahren wird, wie gut beziehungsweise wie schlecht es sozusagen von Natur aus ist, wenn es einmal nicht auf den Test lernt, dass es seine eigenen Grenzen und Kapazitäten nur kennen lernen kann, wenn es in eigener Verantwortung lernt, aber auch mal nicht lernt und ein paar Arbeiten »verhaut«, dann wird deutlich, dass Eltern es in unserer Gesellschaft sehr schwer haben, ihren Kindern Selbst-Verantwortung zu überlassen: Da kommt dann die ganze geballte Angst um die Zukunft der Söhne und Töchter hoch, die Angst vor der nächsten Versetzung, vor dem Numerus clausus, vor dem schlecht bezahlten Posten oder gar der Arbeitslosigkeit. Angesichts dieser bedrohlichen Gefahren darf man als Vater oder Mutter heutzutage offenbar kein Kind mehr für sich selbst verantwortlich sein lassen!
Aber wie sollen Kinder sich selbst kennen lernen, ein Selbst-Bewusstsein entwickeln, wenn sie für sich selbst gerade in diesem Alter keine Verantwortung übernehmen dürfen? Sollten wir Erwachsenen nicht etwas von der Risikobereitschaft der Zwölfjährigen übernehmen und den Mut aufbringen, wenigstens in diesem Alter gelassener mit weniger guten Schulleistungen umzugehen? Vor allem wenn die Kinder andere Interessenschwerpunkte entwickeln und dabei ihre eigentlichen Energiekräfte schulen? Sollten wir nicht darauf setzen, dass die Kinder diese Kräfte von sich aus rechtzeitig vor dem Schulabschluss doch noch auf die »richtige« Schiene setzen?
Voraussetzung wäre allerdings, dass Sitzenbleiben wegen schwacher Schulleistungen zumindest bis zu den mittleren Klassen unterbleibt. Waldorfschulen haben damit seit 70 Jahren auf der ganzen Welt im Großen und Ganzen gute Erfahrungen gemacht, weil sie im Prinzip jedem Kind die Chance lassen, sich aus sich selbst heraus zu entwickeln. Und auch in Japan bleiben Kinder in den ersten neun Schuljahren nicht sitzen, und dennoch sind japanische Schüler und Schülerinnen zum Beispiel im naturwissenschaftlichen Denken in der Regel weiter als ihre deutschen Altersgenossen.
Körper und Sexualität
Trotz aller Offenheit, mit der heutzutage über Sexualität gesprochen wird, trotz aller Bilder, die Kindern und Jugendlichen ständig vor Augen geführt werden, trotz der Tatsache also, dass »Aufklärung« oder sexuelle Tabus heute kein Grund mehr sein können, dass Kinder nicht wissen, was auf sie zukommt, ist es doch immer noch für jedes Kind eine absolut einzigartige Entdeckung: Mein Körper verändert sich, auch mir wachsen Schamhaare, auch ich bekomme einen Busen, auch mein Penis wird größer.
Natürlich sind die meisten Jungen und Mädchen noch deutlich jünger, wenn sie erstmalig diese Entdeckungen machen. Aber viele Erwachsene (auch junge Erwachsene, die schon mit »offener« Sexualerziehung groß geworden sind) berichten, dass ihnen erst mit etwa 12 Jahren wirklich bewusst geworden ist, dass sie sich nun wirklich und unumkehrbar zum Erwachsenen entwickelten.
Viele Mädchen haben heute mit 12 Jahren (manche schon früher) ihre erste Menstruation. Jungen sind bekanntlich »später dran« mit ihrer körperlichen Reife, aber dennoch haben manche Jungen schon mit 12 den ersten Samenerguss, und in heutigen 6. Klassen beginnen einige Jungen schon deutlich mit der Stimme zu »kippeln«: Bei Zwölfjährigen bekommt das Thema Erwachsenwerden, körperliche Reife und Sexualität innerhalb der Gemeinschaft der Gleichaltrigen und für jedes einzelne Kind eine neue, wirklich hautnahe Bedeutung, weil die Veränderungen offenkundig sind und ringsherum sichtbar wird, dass der »Umbau« in seine turbulenteste und endgültige Phase tritt.
Die Veränderungen am eigenen Körper und in der eigenen Gefühlswelt führen dazu, dass die Kinder, Jungen wie Mädchen, sich sehr mit sich selbst beschäftigen. Es ist ja wirklich Neuland, das da auf einen zukommt, und da muss man sich erst einmal vorsichtig herantasten:
Mädchen beginnen heftig zu flirten und Jungen – mit Vorliebe ältere – zu umgarnen (das ist ihr »Spiel mit dem Feuer«). Normalerweise bewahren die Mädchen aber von sich aus noch die körperlich-sexuelle Distanz. Was wiederum nicht heißt, dass sie davor geschützt sind, von älteren Jugendlichen oder gar Erwachsenen verführt und missbraucht zu werden. (Hinterher behaupten dann die Männer, die Zwölfjährige hätte es darauf angelegt!)
Zwischen gleichaltrigen Jungen und Mädchen gibt es zwar auch intensive Annäherungen, aber der »Entwicklungsunterschied« zwischen zwölfjährigen jungen Damen und zwölfjährigen Buben ist normalerweise so groß, dass die Annäherungsversuche der Mädchen von den Jungen verschreckt oder ratlos – wenn auch geschmeichelt – abgewehrt werden und es in der Regel nicht zu einer engeren körperlichen Annäherung kommt. (Wenn Zwölfjährige, Jungen wie Mädchen, schon Erfahrung mit intimer Sexualität haben, sind fast immer Erwachsene im Spiel, die keinen Respekt vor der Intimsphäre von Kindern haben!)
Selbst in Kulturen wie denen Lateinamerikas, wo der Machismo geradezu verlangt, dass ein Junge früh seine Männlichkeit unter Beweis stellt, ist Sexualität bei zwölfjährigen Jungen zwar ein ganz wichtiges Thema – und Männer berichten, wie sie mit 12 Jahren »versucht« haben, mit gleichaltrigen Mädchen zu schlafen, aber selten hatten sie dabei Erfolg. Auch in diesem Bereich probieren Zwölfjährige eben aus, wie weit sie schon erwachsen sind – um festzustellen, dass es doch noch Grenzen gibt.
Jungen erproben ihre wachsende Potenz und ihre sexuellen Lustgefühle oft »im stillen Kämmerlein«, aber auch zusammen mit gleichaltrigen Freunden bei Geheimtreffen: Masturbation und homosexuelle Spiele mit Gleichaltrigen gehören und gehörten offenbar in allen Kulturen zu den Erlebnissen von Jungen in diesem Alter.
Die erwachenden körperlich-sexuellen Kräfte (Potenz heißt Kraft) sind für die Jungen etwas ungeheuer Aufregendes, Belebendes, manchmal aber auch Bedrohliches. Jeder Junge muss sich irgendwie mit seiner wachsenden Sexualität auseinander setzen, jeder Junge muss sich kennen lernen, muss sich ausprobieren und vergleichen dürfen. Das kostet Energien, dazu braucht man Gelegenheit und Zeit, und da ist es kein Wunder, wenn die Schule und der andere »Alltagskram« manchmal ins Hintertreffen geraten.
Wenn zwei oder mehrere zwölfjährige Jungen zusammen sind und sich unbeobachtet fühlen, geht es sehr oft ziemlich »unanständig« zu. Es ist das Alter der zotigen Witze, der Pornohefte, der versteckten und gehüteten Nacktfotos von vollbusigen Frauen, der sexistischen »Fachwörter«, der Angebereien mit »Erfahrungen«. Mit Sicherheit geht eine gute Anzahl der obszönen Zeichnungen und Wörter, die auf Wänden, in Aufzügen und an anderen öffentlichen Stellen erscheinen, auf das Konto der Zwölfjährigen.
Zur neuen Perspektive, die sich zwölfjährigen Jungen öffnet, gehört selbstverständlich auch, dass sie auf einmal Frauen (selbst wenn sie ihre Mütter sein könnten) mit anderen Augen sehen: mit »Sex-Augen«. Auch das muss erst einmal verarbeitet werden!
Emanzipierte Frauen und Männer, die sexistische Umgangsformen zu Recht ablehnen, weil darin immer auch eine Missachtung der Person des anderen mitschwingt, brauchen nicht in Panik zu geraten, wenn sie bei zwölfjährigen Jungen »Sexismus« entdecken. Mit dem Sexismus ist es wie mit dem Nationalismus und den anderen Teufelchen, die wir so in uns haben: Sie müssen erst einmal ungehindert rauskommen dürfen, damit man sie überwinden kann. Werden sie von Anfang an unterdrückt, dann kommen sie nur später und dafür umso kräftiger zum Vorschein.
Jungen in der frühen Pubertät, für die der Sexappeal von Frauen zum beherrschenden Eindruck werden kann, brauchen Männer als Vorbilder, die ihnen vorleben, dass sie an Frauen andere, menschlichere Qualitäten schätzen. Wenn Jungen in diesem Alter Männer und Frauen erleben (auch die Eltern!), die einander mit Achtung und menschlicher Wärme begegnen, dann werden sich ihre eigenen (Macht-)Gelüste von selbst legen. Und auch Mädchen brauchen natürlich Vorbilder, an denen sie sehen, dass eine Frau als Mensch geliebt und geachtet wird und dass sie nicht darauf angewiesen ist, sich männlichen Bedürfnissen zu unterwerfen, wenn sie »anerkannt« und »geliebt« werden will.
Selbstverständlich ist das Thema Sexualität auch für die Mädchen wieder »neu« und wichtig. Bei ihnen drehen sich aber Gedanken und Phantasien eher um andere Dinge als bei den Jungen: Mädchen beschäftigen sich in Gesprächen untereinander und in einsamen oder gemeinsamen Schwärmereien intensiv mit der Beziehung zwischen Mann und Frau: Männer und Jungen werden rein gefühlsmäßig – und zwar mit sehr viel Gefühl! – »kritisch« begutachtet. Ihre Tauglichkeit als Freund, Liebhaber und (Ehe-?)Mann ist das Maß aller Dinge, wobei die sexuellen »Fähigkeiten« in ihren Phantasien noch nahezu keine Rolle spielen.
Selbstbefriedigung scheint in diesem Alter bei Mädchen nach wie vor weniger verbreitet zu sein als bei Jungen, und wenn, dann ist sie ein viel privateres Thema als bei den gleichaltrigen Jungen.
Für Mädchen steht im Vordergrund, das auszuprobieren, wie man als Frau auf Männer wirkt und welche Gefühle man bei ihnen in Gang setzen kann. Dabei können sich die Mädchen allerdings nicht im Geringsten vorstellen, welche Gefühle (und Gelüste) sie bei Männern damit wirklich erregen können. Umgekehrt wollen die Mädchen natürlich auch erfahren, wie sie selbst auf Männer reagieren. Und so wird daraus das erste gezielte, lustvolle, aber noch sehr naive Spiel mit erotischen Bällen, die sich die Geschlechter gegenseitig zuwerfen.
Sexualität ist eine höchst persönliche Angelegenheit. Die Tatsache, dass in unserer Kultur inzwischen über Sexualität frei und offen gesprochen wird, sollte Eltern von Zwölfjährigen nicht täuschen: Auch wenn die Beziehung zum Sohn oder zur Tochter noch so gut ist, braucht das Kind vor allem in diesem Bereich seine geschützte Intimsphäre und taktvolle Zurückhaltung von Seiten der Erwachsenen.
Oft fragen sich Eltern, ob sie etwas falsch gemacht haben, weil sie spüren, dass sich ihr Sohn oder ihre Tochter ausgerechnet mit den Fragen zur Sexualität ihnen gegenüber so verschlossen zeigt. Mein Eindruck aus Gesprächen mit Erziehern und Eltern und aus eigener Erfahrung ist, dass auch heute noch in Deutschland weitgehend gilt, was Arnold Gesell schon 1957 über amerikanische Zwölfjährige geschrieben hat: »Wie es scheint, sucht der Zwölfjährige gewöhnlich lieber bei wohlmeinenden, aber fremden Leuten Aufklärung als bei den eigenen Eltern, so offen und vertrauenserweckend diese auch sein mögen.« (Gesell, Jugend, S. 129)
Die Fragen, die Kinder zum Thema Sexualität haben, müssen natürlich beantwortet werden. Am liebsten ist ihnen offenbar eine Form, in der ihre eigene Betroffenheit nicht sichtbar wird. Deshalb sind Zeitschriften so beliebt, in denen es einschlägige Informationen gibt – und in denen Leserbriefe von Gleichaltrigen beweisen, dass man mit seinen Fragen und Problemen nicht allein ist auf der Welt. Deshalb »klären« sich Zwölfjährige mit Witzen und Zoten, aber auch mit ernsthaften Informationen oft lieber gegenseitig »auf«, als sich einem nahe stehenden Erwachsenen gegenüber zu offenbaren. Und darum ist Sexualkundeunterricht, in dem ganz allgemein über diese Themen gesprochen und informiert wird – und in dem die Lehrer nicht vordergründig nach den eigenen Erfahrungen und Problemen der Kinder fragen – oft der bessere Weg, als ein zu offenes, nur scheinbar »vertrauliches« Gespräch.
Vielleicht ist es ja für Zwölfjährige sogar ein wesentliches Merkmal des Erwachsenwerdens, dass sie sich diesen Teil der neuen Lebenswelt, die sich da vor ihnen öffnet, selbständig erschließen wollen, ohne ungefragt von den Erwachsenen »an die Hand« genommen zu werden!
Die Gefühle
In ihrer Zwischenstellung zwischen Kind und Jugendlichem steht Zwölfjährigen eine beneidenswert breite Palette von Gefühlen zur Verfügung. Und sie spielen mit Gefühlen, wenn sie in ihrer Phantasie von einer Rolle in die nächste schlüpfen:
Wenn eine Horde von Zwölfjährigen sich auf dem Bolzplatz trifft, um Fußball zu spielen, dann kämpfen dort vielfache Jürgen Klinsmanns, Matthias Sammers und Lars Rickens gegeneinander. Wenn ein Zwölfjähriger auf dem Fahrrad aus Leibeskräften in die Pedale tritt, ist er sicher nicht er selbst, sondern Jan Ullrich oder Miguel Indurain. Reiterinnen sind insgeheim Ludger Beerbaums oder Isabell Werths. Beim Tischtennis stehen sich (obwohl nur am »Tisch«) Boris Beckers und Pete Sampras’ oder Steffi Grafs und Martina Hingis’ gegenüber. Beim Üben mit der Gitarre sieht sich der »Star von morgen« bereits inmitten der Backstreet Boys auf der Bühne. Diese Rollenphantasien sind verbunden mit einer Fülle von »erwachsenen« Lebensgefühlen, die von den Kindern in aller Intensität erlebt werden. Daran wachsen sie.
Daneben können Zwölfjährige unvermittelt zu »Kleinstkindern« werden. Und die Eltern sind entsetzt, wenn ihr zwölfjähriger, fast »erwachsener« Sohn mehr als je zuvor am Kuscheltier im Bett festhält. Oder wenn die Tochter mit ihrer Freundin plötzlich wieder »Baby« spielt, quietschend Babysprache lallt und mit verschämter Albernheit am Fläschchen nuckelt.
Es ist, als spürten die Kinder, dass die Zeit der unbefangenen Kindergefühle dem Ende zugeht. Als würden sie das »Paradies der Kindheit« noch einmal bewusst durchstreifen, bevor sie es verlassen müssen. Oder als wollten sie sich festhalten an etwas Vertrautem, das ihnen Halt gibt.
Trotz der großen Spannbreite von Phantasien und Gefühlen sind Zwölfjährige (wenn sie relativ natürlich und unbeschwert heranwachsen konnten), alles in allem mit sich und der Welt meistens noch einigermaßen im Reinen. Aber das Schwungrad der Pubertät beginnt sich langsam in Bewegung zu setzen. Gefühlsausbrüche sind noch eher wie das Donnergrollen, mit dem sich ein Gewitter ankündigt. Das Gewitter selbst – die wirkliche pubertäre Gefühlsexplosion – steht noch bevor.
Das Ende einer Entwicklungszeit?
Mit 12 Jahren kündigt sich eine neue Entwicklungszeit an, neue Horizonte brechen auf. Mit 12 Jahren wachsen die Menschen damit aus einer vorangehenden Entwicklungsepoche heraus. Als Beispiel will ich auf zwei wissenschaftliche Erkenntnisse hinweisen, die diesen Übergang belegen:
Sportwissenschaftler haben festgestellt, dass mit etwa 12 Jahren feststeht, wie die Bewegungsabläufe bei sportlichen Tätigkeiten aussehen werden und mit welcher Energie der körperliche Einsatz betrieben wird: So wie man es mit 12 Jahren tut, wird man im Prinzip auch noch mit 40 Jahren sprinten, Tennis spielen oder sich im Fußballspiel einsetzen.
Sprachforscher haben herausgefunden, dass die Möglichkeit, eine Sprache ohne Akzent zu lernen, etwa mit 12 Jahren beendet ist: Japaner haben bis zum Alter von 12 Jahren die Möglichkeit, »r« und »l« zu unterscheiden und richtig auszusprechen. Später gelingt es kaum noch, die unterschiedlichen Laute zu unterscheiden und richtig nachzuahmen. Diese Problematik gilt für alle Menschen: Wenn wir als Europäer erst im Erwachsenenalter Japanisch lernen, wird es uns kaum möglich sein, Japanisch akzentfrei zu sprechen.
Was können die Erwachsenen tun?
Zwölfjährige brauchen in unserer Gesellschaft meiner Ansicht nach vor allem mehr Vertrauen in ihre Fähigkeiten und mehr Ermutigung zur Selbständigkeit – aber auch mehr Unterstützung, wenn sie sich in den Kopf gesetzt haben, etwas Besonderes auf die Beine zu stellen.
Wenn Kinder mit 12 Jahren die Erfahrung machen, dass sie von den Erwachsenen ernst genommen werden, dass die Erwachsenen ihnen selbständiges und verantwortliches Handeln zutrauen, dann werden sie in den folgenden Jahren weniger heftig mit den Erwachsenen aneinander geraten. Denn beide, Erwachsene und Kinder, werden dann gelernt haben, dass sie sich aufeinander verlassen können: die Kinder darauf, dass die Erwachsenen sie richtig anfassen und ihnen zutrauen, dass sie selbstveranwortlich handeln können. Dann werden sie auch akzeptieren, wenn die Erwachsenen wieder Grenzen aufzeigen (müssen). Und die Erwachsenen werden gelernt haben, sich darauf zu verlassen, dass die Kinder ihre Möglichkeiten richtig einschätzen können und dass sie sich im Zweifelsfall doch an die Erwachsenen wenden werden.
Ich glaube, dass ein Teil der »Jugendprobleme« in unserer Gesellschaft darauf zurückgeht, dass die »Zwölfjährigen« nicht ernst genommen, unentwegt entmündigt oder mit ihren alterstypischen Bedürfnissen abgelehnt werden. Die andere Seite ist, dass Kinder mit 12 Jahren oft zu wenig Halt und Geborgenheit erhalten, zu sehr sich selbst überlassen sind und sich dann ihren Halt bei solchen Menschen und Gruppen suchen, die schädlich auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder einwirken.
Eltern, Lehrer und Erzieher müssen gerade bei zwölf-, dreizehnjährigen Kids wieder einmal eine Gratwanderung gehen: Sie müssen den richtigen Ton treffen, mit dem sie das Kind einerseits als »groß« ansprechen, ihm andererseits aber auch zugestehen, dass es durchaus auch noch »klein« und unreif sein darf. Erwachsene müssen sich dazu durchringen, die Kinder ihre eigenen Erfahrungen machen zu lassen, auch wenn sie dabei Fehler machen oder ein Risiko eingehen.