Die anstrengende Phase des Acht-, Neunjährigen ist bei jedem gesunden Kind eines Tages zu Ende. Irgendwann hat es sich eindeutig »ausgegoren«. Eltern sind ganz überrascht, wenn sich ihr zehnjähriger Sohn oder ihre zehnjährige Tochter plötzlich wieder ganz zutraulich und ohne das geringste Anzeichen von Hemmungen auf den Schoß des Vaters oder der Mutter setzen. Einfach so, als hätte es nie etwas anderes gegeben. Die Nähe der Eltern kann auf einmal wieder in aller Ruhe genossen werden, vorausgesetzt, die Eltern sind genießbar ...
Einzelne Elemente der Phase, die im Folgenden beschrieben wird, tauchen dagegen oft schon vor dem 10. Geburtstag auf und dauern bis ins Jugendalter an – und gelegentlich kommen selbst Erwachsene in manchen Bereichen nie über die Entwicklungsphase des Zehn- bis Zwölfjährigen hinaus.
Im Gegensatz zur soeben durchgestandenen chaotischen Zeit wirken die Kinder auf einmal geradezu gesetzt – zeitweilig! So seriös, dass der amerikanische Kinderpsychologe Arnold Gesell, der zwischen etwa 1938 und 1955 Kinder von der Geburt an bis zum 15. Lebensjahr sehr genau beobachtet und ihre Entwicklung beschrieben hat, im Zehnjährigen das vorweggenommene Bild des Erwachsenen sah. (Wobei er den Erwachsenen im Gegenschluss als eine in sich ruhende, harmonische Persönlichkeit gesehen haben muss.)
Offenkundig haben in Europa schon früher Kinder um 10 Jahre herum auf die Erwachsenen einen augenfällig vernünftigen, »erwachsenen« Eindruck gemacht, sonst wären die Pädagogen und Schulpolitiker vor mehreren Generationen nicht auf die Idee gekommen, im Alter von 10 Jahren das Ende der Grundschulzeit anzusetzen und damit in diesem Alter eine Vorentscheidung für den weiteren Lebensweg des Kindes zu treffen.
Das bedeutet nun keineswegs, dass Kinder, die 9, 10 oder 11 Jahre alt sind, auf einmal jede kindliche Lebhaftigkeit verlieren würden. Ganz und gar nicht! Aber sie sind souveräner – sogar in ihren Grenzüberschreitungen, also dem Unfug, den sie treiben. Und in ihrer durchaus sprudelnden Lebendigkeit sind sie spürbar harmonischer und ausgeglichener, auch ansprechbarer, als vielleicht ein halbes oder ein ganzes Jahr zuvor.
Der Kampf gegen die Erwachsenen mit ihren Vorschriften, Geboten und Verboten ist zwar – hoffentlich – nicht verloren, nicht durch Kapitulation beendet, aber er ist jetzt kein Thema mehr, er wird sozusagen ohne Verhandlungen bis auf weiteres ausgesetzt – von gelegentlichen kleinen Scharmützeln einmal abgesehen.
Zehnjährige wenden sich ihrer Welt zu und auch dort warten Auseinandersetzungen. Das ist jetzt noch wichtiger als das Sich-Reiben an den Erwachsenen. In diese Welt der großen Kinder haben Erwachsene sowieso keinen Zutritt, also kann man sie getrost dort lassen, wo sie hingehören: an den Rand der Kinderwelt und des Kinderlebens. Dort sind sie gut aufgehoben, von dort kann man sie bei Bedarf auch heranholen und sich ihnen zuwenden, von dort vermitteln sie sogar Schutz und Geborgenheit. Aber aus dem eigentlichen Kinderleben haben sie sich gefälligst herauszuhalten, dort würden sie nur alles durcheinander bringen und fürchterlich stören! Innerhalb der Kinderwelt nämlich sprießt ein eigenständiges Leben – dort wo es noch unbehindert sprießen kann.
Das wichtigste und schönste, anregendste und belebendste Element in dieser Welt der großen Kinder sind die Altersgenossen: der einzelne Freund, die einzelne Freundin und vor allem die Gemeinschaft der Gleichaltrigen.
Erst etwa Zehnjährige sind zu einem echten »Wir-Gefühl« fähig, können sich als Teil einer Gemeinschaft von Gleichen erleben und sich in Gemeinschaftsaufgaben einfügen. Und so wie Dreijährige nach überstandener Trotzphase sich ganz und gar und voller Vergnügen dem »Training« ihrer körperlichen Fähigkeiten hinzugeben scheinen, so scheinen Kinder, die mit etwa 10 Jahren aus der »kleinen Pubertät« herausgewachsen sind, sich vor allem mit dem »Training« der sozialen Fähigkeiten zu befassen und voller Lust dieses neue und aufregende Wir-Gefühl in allen Variationen zu suchen und auszuprobieren.
Das Gefühl, eine verschworene Gemeinschaft zu sein, entsteht natürlich vor allem, wenn man miteinander Dinge tut, die verboten sind. Im Unterschied zu den Acht-, Neunjährigen aber schielen Zehnjährige bei ihren Grenzüberschreitungen nicht mehr so fragend und lauernd auf die Erwachsenen. Das Verbotene, das sie treiben, hat vor allem den Sinn, gemeinschaftlich die Welt kennen zu lernen. Und zur Welt gehören auch die Erwachsenen. Wenn Zehnjährige also bei dem »Scheiß«, den sie »bauen«, die Erwachsenen im Blick haben, dann in der Regel, um sie gezielt zu provozieren – mit einer langen Nase und einer beachtlichen Selbstsicherheit im Rücken!
Ganz wichtig ist also das Zusammensein mit Gesinnungsgenossen. Bei fast allen erwachsenen Erzählern stehen viele von tiefen Gefühlen geprägte Erinnerungen an die Erlebnisse, die in dieser Lebensphase durchlebt und zuweilen auch durchlitten wurden, in unmittelbarem Zusammenhang mit der Gruppe, dem Geheimbund, der Bande, dem Verein, dem Club, der Clique oder auch der Klassengemeinschaft, der Sportmannschaft, der Freizeitgruppe.
Die Gemeinschaft der Gleichaltrigen
Die Gruppen, die Kinder in diesem Alter bilden, sind höchst unterschiedlich und oft recht flüchtig. Manchmal bestehen sie nur einen Nachmittag, gelegentlich ein paar Wochen, selten mehrere Jahre. Wie groß die Altersstreuung und die Zahl der Mitglieder einer Gruppe ist, ob es gemischte oder reine Jungen- beziehungsweise Mädchengruppen sind, hängt davon ab, wie herausfordernd und reizvoll das gemeinsame Ziel ist und wie viel Freiraum den Kindern zur Verfügung steht. Wenn sich zum Beispiel eine ganze Dorfgemeinschaft von Kindern zwischen 7 und 15 Jahren zusammenrottet, um eine widerstandsfähige gemeinsame Festung zu bauen, dann entsteht offenbar ein intensiveres und länger anhaltendes Gruppenleben, als wenn sich vier zehnjährige Mädchen nur zu dem einen Zweck zusammenschließen, eine Klassenkameradin auszuschließen.
Es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die zu dem – für die erwachsenen Forscher überraschenden – Ergebnis gekommen sind, dass in den beobachteten Klassengemeinschaften (um die 4. Klasse herum) meistens weniger als die Hälfte der Kinder sagen, sie seien Mitglied einer Clique. In den Gesprächen, die ich mit Erwachsenen über ihre Kindheit geführt habe, und in fast allen Lebenserinnerungen aber wird von einschlägigen Erfahrungen mit Gruppen, Cliquen und Banden in diesem Alter berichtet. Das spricht vielleicht dafür, dass nicht die Dauer der Gruppenerfahrung wichtig ist, sondern dass auch kürzere Erfahrungen ihre Spuren hinterlassen können, wenn die Erlebnisse nur intensiv genug waren. Möglicherweise ist aber allein schon die Tatsache, dass sich vier, fünf aktive, wortstarke Kinder zu einer Gruppe zusammenschließen, eine Form von »Gruppenerfahrung« auch für die »nicht organisierten« Kinder.
Auch oder gerade das Gefühl, »Außenstehender« zu sein, ist ein wichtiges, wenn auch meist recht schmerzliches »Gruppenerlebnis« für Kinder dieser Altersstufe. Oft löst dieses Gefühl bei dem einen oder anderen der »Ausgeschlossenen« eine Gegenbewegung aus, und es bildet sich eine Gegengruppe, die wiederum nicht alle Kinder der Klassengemeinschaft einbezieht. Es entsteht die berühmt-berüchtigte Cliquenwirtschaft der 4. und 5. Klassen, die unter den Ausgeschlossenen größte Sehnsüchte, tiefste Verletzungen und bittersten Ärger auslöst. Das ruft dann die um ihre Kinder besorgten und in ihrem eigenen Stolz getroffenen Eltern auf den Plan und im Nu ist die Vereinsmeierei der Kinder in die Erwachsenenwelt hinübergeschwappt, wo die Auseinandersetzungen dann eine neue, viel ernstere Dimension bekommen.
So ist es schon vor 100 Jahren gewesen, zu Zeiten von Louis Pergaud, dem Autor des Krieg der Knöpfe, und so lassen sich auch heute noch Erwachsene von ihren im Grunde nichts Böses wollenden Kindern in Auseinandersetzungen und gegenseitige Kränkungen hineinziehen. Im Gegensatz zu den Erwachsenen »brauchen« aber die Kinder ihre Gruppenerfahrungen mit allen dazugehörenden sozialen und emotionalen Lehrstunden, und sie können die Erfahrungen normalerweise nach und nach auch ganz gut einordnen, überwinden und sogar abfangen.
Die Erwachsenen wären gut beraten, ihren Kindern auch in diesem Bereich den nötigen (erwachsenen-)freien Lebens- und Erfahrungsraum zuzugestehen. Erwachsene können trotzdem hilfreich sein, wenn sie bei Bedarf beratend, aus taktvoller Distanz heraus und mit Verständnis für die Gefühle der Kinder den Weg aus verhärteten Fronten zeigen. Gelegentlich sind sie geradezu notwendige »Grenzbojen«, deren Aufgabe es ist, die Kinder darauf hinzuweisen, wenn eine – auch seelische – Verletzung zu weit ging.
Die Bildung von Truppen oder Trupps, Corps, Kompanien, Kränzchen, Kreisen, Ringen, Zirkeln, Gilden, Scharen, Sippen, Stämmen, Logen, Bruderschaften (»... brothers« oder »... sisters«), Mafias, Vereinen, Clubs, Cliquen, Banden, Gangs, Mannschaften, Crews, Teams usw. muss etwas sehr Wichtiges für das Werden und Wachsen in diesem Alter sein, denn zu allen Zeiten und auf der ganzen Welt suchten und suchen Kinder nach Wegen, um sich ihre Verschworenengemeinschaften zu schaffen. Die zugrunde liegenden Phantasien, die gruppenbildenden Ziele, die Wahl der Namen und auch die Zusammensetzung der Gruppenmitglieder aber scheint ein Spiegelbild der Zeit und der Kultur zu sein, in der die Kinder aufwachsen.
Gegnerische Gruppen
Im Krieg der Knöpfe scharen sich die Jungen der beiden französischen Nachbardörfer zu zwei Armeen zusammen, um gegeneinander in den »Krieg« zu ziehen, sich gegenseitig zu übertrumpfen und auszustechen. Bei Erich Kästner sind es im Fliegenden Klassenzimmer die Jungen zweier Schulen, die gegeneinander antreten, in der Generation meiner Eltern und auch in unserer Kindheit noch waren es die Karl-May-Geschichten, welche Kinder in Bleichgesichter, Comanchen, Sioux und Apachen aufteilten. Dabei waren in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg die Krieger offenbar noch ausschließlich männlichen Geschlechts, nur für die Rolle der Squaw, die den Wigwam zu bewachen hatte, wurden auch damals schon gnädigerweise Mädchen als Mitspieler in die Indianerstämme aufgenommen. In meiner Generation dagegen kämpften Jungen wie Mädchen, teilweise vereint, häufiger getrennt, heldenhaft und selbstbewusst gegen die niederträchtigen Bösen im Wilden Westen. Mit Erich Kästners Emil und die Detektive, vor allem aber mit den Büchern von Enid Blyton und Astrid Lindgren fanden die Mädchen endgültig literarisch Einzug in die Krieger- und Abenteuerbanden. Gewiss bezogen sich die Schriftstellerinnen damit auf die veränderten Wirklichkeiten. Daneben spornten sie aber mit ihren Büchern die Kinder auch zu gemeinsamen Abenteuern von Jungen und Mädchen an.
Es gab aber auch immer schon reine Mädchencliquen, die sich rivalisierend gegenüberstanden. Im Unterschied zu den Jungenbanden ging und geht es unter Mädchen dabei meistens nicht darum, sich körperlich aneinander zu messen und miteinander zu kämpfen, sondern um hinterhältige Intrigen. – Unter den etwa zehnjährigen Mädchen finden sich die intrigantesten Frauenzimmer der Welt!
Wie sich die Vereinigungen von Kindern ihrer Zeit anpassen, mögen die folgenden beiden neueren Beispiele zeigen:
1982 entstanden in einer 4. Klasse in Süddeutschland aus Jungen und Mädchen gemischt zwei »Ferienhotel-Imperien«, die versuchten, sich gegenseitig mit ihren »Ferienattraktionen« den Rang abzulaufen. Die Kinder verfassten »Werbebroschüren« mit den verlockendsten Angeboten und setzten alles daran, die »Konkurrenz« zu übertrumpfen. Und um 1992 gründeten in Berlin ebenfalls Jungen und Mädchen einer 4. Klasse die »Vereine« »Edeka« und »Bauhaus«, die zwar absolut nichts mit Handel und noch weniger mit Heimwerkerei im Sinn hatten, aber dennoch heftig miteinander konkurrierten, sich in Hochstapeleien überboten und mit ihren Vereinstreffen und Freizeitaktivitäten versuchten, den Neid der Nichtmitglieder ins Unerträgliche zu steigern.
An einer anderen neuen, ziemlich verbreiteten Form von kindlichen Auseinandersetzungen nehmen wir alle, meistens ahnungslos, teil: am »Kampf« der Sprayer.
Wir alle kennen die kleinen, wie Unterschriften-Kürzel aussehenden »Wandschmierereien« und Kratzer, die auf öffentlichen Gebäuden, nackten Wänden, S-Bahnzügen und Fenstern auftauchen. Das sind die »tags« (englisch: etikettieren, zeichnen) genannten Zeichen, knappe, kunstvolle Schriftzüge, die perfekt beherrscht werden müssen. Manche, meistens die jüngeren Kinder, »tagen« zunächst allein: Sie sprayen oder malen mit dicken Filzstiften zum Spaß ihr Zeichen an beliebige Stellen.
Professioneller läuft das Spiel in Banden. Zunächst in den Banden der Kids, der Kinder zwischen etwa 10 und 14, die sich auf die kleinen, einfarbigen tags beschränken und die weniger versiert, weniger kriminell, auch künstlerisch noch unbedarfter agieren als die Banden der Jugendlichen ab etwa 14 und der jungen Erwachsenen, die sich einen Sport daraus machen, mit ihrem ungesetzlichen und oft höchst riskantem Verhalten die Ordnungshüter der Gesellschaft zu provozieren und ausladende, farbenprächtige, künstlerisch ehrgeizige Gemälde, »pieces« genannt, auf Wände zaubern.
Die Jüngeren treibt neben der Lust, die Großen nachzuahmen, noch etwas anderes zum »tagen«: Die Kinder schließen sich zusammen und ziehen mit Filzstiften, Farbspraydosen und Kratzgegenständen »bewaffnet« aus, um die persönlichen tags oder das Zeichen ihrer Bande an Flächen oder Gegenständen anzubringen, die von möglichst vielen Menschen gesehen werden, möglichst offen liegen oder möglichst schwer zu erreichen sind: an Waggons, die durch die ganze Stadt fahren, an Flächen, die jedermann ins Auge fallen, an belebten Plätzen, wo man großes Risiko läuft, beim tagen erwischt zu werden, an Stellen, die nur mit gefährlichen Kletterpartien oder waghalsigen Hangelkünsten zu erreichen sind. Gegnerische Gruppen kennen ihre Zeichen und nehmen die Herausforderung an, indem sie versuchen, die andere Gruppe mit der Platzierung ihrer Zeichen in den Schatten zu stellen und damit zu beweisen, dass sie noch mutiger, geschickter und respektloser sind als die anderen, die das natürlich wieder nicht auf sich sitzen lassen können ...
In einer erweiterten Spielvariante geht es darum, die tags so anzubringen, dass von einem bestimmten Standort aus, zum Beispiel einer Brücke, möglichst weit entfernt und gleichzeitig kreisförmig die Zeichen einer Gruppe oder eines Kindes zu sehen sind: Die Kinder markieren ihre Reviere. Wer das größte besitzt, ist der »King«.
Die meisten Erwachsenen sehen in diesem Spiel lediglich eine mutwillige Sachbeschädigung und empören sich über die Rücksichtslosigkeit und Dreistigkeit, mit der Kinder Dinge, die ihnen nicht gehören, verschandeln und zerstören. Wenn man aber genauer hinschaut, erkennt man, dass aus Kindersicht dieses Spiel eine Art unbewusste Notwehr und im Grunde ein genialer Schachzug ist: Die Kinder verschaffen sich damit nämlich wieder Zugang zu den öffentlichen Räumen, die ihnen von den Erwachsenen weggenommen worden sind: Mit ihren tags nehmen sie sich wenigstens symbolisch ihren Raum zurück und »rächen« sich unbewusst mit dieser Provokation an den Erwachsenen.
Es geht mir keineswegs darum, gesetzwidriges Verhalten zu rechtfertigen. In keiner Altersstufe! Dass sich Kinder in unserer Gesellschaft mit ihren »Lebensräumen« auf die Symbolebene zurückziehen müssen, halte ich aber für ein alarmierendes Signal! Denn das heißt doch, dass es keine ausreichenden Möglichkeiten mehr gibt, sich auf freiem Feld ohne Aufsicht von Erwachsenen zu begegnen.
Und trotzdem schaffen es die Kinder offenbar, ihre Lebensbedürfnisse den Möglichkeiten irgendwie anzupassen. Im tagen wird das besonders deutlich: Erstens können sich die Kinder aneinander messen, ohne sich direkt zu treffen: Sie brauchen sich also nicht auf einen gemeinsamen Zeitpunkt zu einigen, um sich auseinander zu setzen. Und gemeinsame Termine zu finden, wäre für die verplanten Kinder heutzutage ohnehin schier unmöglich. Zweitens umgehen sie mit dieser Form der Auseinandersetzung die direkte Konfrontation, zunächst wenigstens, was angesichts der immer häufigeren realen Bewaffnung unter Kindern nur zu begrüßen ist. Das Sprayen ist heute somit vielleicht sogar die friedfertigste Form von kindlichem »Kampf«. Drittens sind die Anforderungen an Mut, Kraft, Geschicklichkeit, Intelligenz, Phantasie, Umsicht und Einschätzung des Gegners und der Erwachsenen ebenso groß wie bei einem direkten Kampf. Und schließlich wird das Zugehörigkeitsgefühl der Mitglieder zu ihrer Gruppe durch die überall sichtbaren Gruppenzeichen in besonderer Weise gepflegt.
Die Symbolebene und die indirekte Auseinandersetzung sind aber offenbar nicht der Weisheit letzter Schluss. Zunehmend tauchen in jüngster Zeit noch andere Formen von Kinderbanden auf: Vor allem Jungen, aber auch Mädchen, schließen sich in »Mafiagruppen« zusammen, um andere Kinder einzuschüchtern und zu erpressen und damit ihre »Stärke«, ihre Macht unter Beweis zu stellen. Die leitenden Phantasien, Ziele und Handlungsweisen holen sie wie ehedem aus der Erwachsenenwelt, aus Nachrichten, Filmen, Zeitschriften. So gesehen, hat sich nichts geändert im Vergleich zu früher.
Neu, unnatürlich und einer gesunden, normalen sozialen und emotionalen Entwicklung hinderlich sind aber zum einen die realen Waffen, die den Kids heute zur Verfügung stehen: Durch sie bekommen die Androhungen von Gewalt, die Schutzgelderpressungen, die Raubzüge und dergleichen mehr eine viel zu erwachsene, bitterernste Dimension, die mit einer menschlichen Auseinandersetzung nicht mehr das Geringste zu tun hat!
Das zweite »Neue« am Verhalten dieser Kindergruppen ist, dass sich ihre Aggressionen gegen Einzelne und oft »schwache«, sogar behinderte Kinder wenden, die eingeschüchtert, bestohlen und verletzt werden. Wie bei den echten Mafiaorganisationen der Erwachsenen und den gewalttätigen Gruppierungen der rechten Szene wird die direkte Auseinandersetzung mit einer ebenbürtigen »Truppe« gemieden. Es geht hier nicht mehr ums Kräftemessen unter gleichwertigen Partnern, sondern nur noch um Macht durch Unterdrückung Wehrloser, die dieser Form von Machtausübung – noch? – nichts entgegenzusetzen haben. Auch darin spiegelt die Kinderwelt die Welt der Erwachsenen.
Ein Wort zum Alter dieser Kinder. Erwachsene beklagen, dass die Kinder, die sich in Banden oder Gangs organisieren und gegen andere Kinder zu Felde ziehen, immer jünger werden. Das stimmt: Bis vor wenigen Jahren waren die Mitglieder der Gangs, die gewalttätig durch die Straßen unserer Städte zogen, fast ausnahmslos zwischen etwa 15 und 23 Jahren alt. Das erste natürliche kindliche »Bandenalter« aber liegt nach allen Informationen aus nicht industrialisierten Kulturen zwischen etwa 10 und 12 Jahren, mit einer Streuung nach unten bis etwa 8 und nach oben bis etwa 15 Jahre.
Offenbar hat sich das »Bandenalter« in den Industrienationen nach oben verschoben. Die Gründe liegen auf der Hand: Jüngere Kinder sind überfordert, sich in den vor Autos überfüllten Straßenlandschaften der Städte zu organisieren, außerdem leben sie unter enger Kontrolle der Erwachsenen und/oder werden durch die Medien in ihren Häusern festgehalten. Erst ab etwa 15 Jahren gelingt es den Heranwachsenden in unserer Gesellschaft, sich frei zu bewegen. Und dann müssen sie offenbar nachholen, was sie vorher versäumt haben: Denn wenn man sich genauer anschaut, worin das Ziel der Banden von Fünfzehn- bis Dreiundzwanzigjährigen liegt, dann ist es im Grunde in verschärfter Form genau das, was eigentlich in das Alter der Zehn- bis Zwölfjährigen gehört: Neben dem Bedürfnis, Mitglied einer Gruppe zu sein (das natürlich auch jugendtypisch ist), ist es die Sehnsucht, sich in abenteuerlichen, gewagten, gefährlichen Aktionen zu behaupten, sich mit der eigenen Angst auseinander zu setzen, sich an anderen zu messen, die eigenen Stärken und Schwächen, Vorzüge und Nachteile im Vergleich mit Menschen der eigenen Generation kennen zu lernen, das heißt seinen persönlichen Stellen-Wert im Leben zu finden.
Wörtlich genommen ist also, zumindest teilweise, das Bedürfnis, dem die Jugendbanden der Industrieländer nachgehen, »verrückt«, verschoben. Es ist der nicht altersgemäße verzweifelte Versuch, etwas Verpasstes nachzuholen. Wenn man 15 oder 18 Jahre alt ist, müssen aber offenkundig schärfere Geschütze aufgefahren werden, um die im Alter von 10, 12 Jahren versagten Erfahrungen und Gefühle auch nur annähernd gleichwertig zu erleben und nachzuholen – wenn Gefühle überhaupt gleichwertig nachholbar sind.
Neben den Banden, Gangs und Grüppchen, die sich als Gegner gegenüberstehen, gibt es unter Kindern zwischen etwa 10 und 12 Jahren auch jene unzähligen Clubs und Vereine, die keine (realen) Gegner brauchen und sich selbst genug sind.
Erinnern Sie sich vielleicht an die Zirkustruppe, die waghalsige akrobatische Kunststücke, Zaubertricks, »Tierdressuren« und Ähnliches einstudierte und an einem abendfüllenden Programm feilte? Oder arbeiteten Sie Nachmittage lang zusammen mit den Freundinnen an einer Disko-Show, entwarfen grelle Kostüme, tolles Make-up und übten perfekte Präsentation und Playback? Oder lernten Sie in Ihrer »Fußballmannschaft« bei verschworenen Trainingstreffen fachgerechte, täuschend echte »Schwalben« hinzulegen und sich anschließend über das »übelste aller Fouls« lauthals beim »Schiedsrichter« zu beschweren? Oder hatten Sie und Ihre Bande noch damit zu tun, versteckte Palisaden zu errichten und Erbsenpistolen herzustellen, um den zwar nicht real vorhandenen, dafür aber umso unberechenbareren, unheimlichen, außerordentlich bedrohlichen Gegner in Schach zu halten? Oder ...?
Wie auch immer Ihre persönlichen Erinnerungen sind: Können Sie sich vorstellen, dass solche Spiele auf Anweisung oder unter den Augen von Erwachsenen entstanden wären? Können Sie sich andererseits vorstellen, dass Sie allein, also ohne die anderen Kinder, Ihre Ideen so weit ausgespielt, sich so tief in die Phantasien und Gefühle hineinversetzt hätten? Wären Ihre Gefühle und Erlebnisse in Gegenwart von Erwachsenen oder in Abwesenheit von anderen Kindern genauso aufregend, spannend, herausfordernd, lustig, aufbauend gewesen?
Es scheint, als wäre für die Kinder dieses Alters das Gründen einer »geschlossenen Gesellschaft« an sich schon ein besonders erstrebenswertes Vergnügen. So bilden sich Gruppen, deren einzige gemeinsame Idee es ist, einen Verein zu gründen. Entsprechend führen sie oft nur ein kurzes, aber intensives »Vereinsleben«: Nachdem sich die passenden Mitglieder gefunden haben, ihre Vereinigung besiegelt ist und der Club seinen Namen hat, werden Fahnen, Wappen, Anstecker, Logos, Stempel usw. entworfen, verworfen, beschlossen und angefertigt. Und das war’s dann schon. Wenn das geschafft ist, löst sich die Gruppe oft schon wieder auf, es sei denn, es hat sich inzwischen eine Gegengruppe gegründet, die zum Weitermachen anstachelt. Oder es reizt noch ein neues Ziel, zum Beispiel die Herausgabe einer Clubzeitung oder das heimliche Platzieren der Club-Tags.
Mädchen pflegten und pflegen die Clubinterna offenbar weihevoller als Jungen. So sind für Mädchenbündnisse die Clubnamen außerordentlich wichtig. Sie sind Programm und beinhalten oft das ganze und einzige Gruppenziel, beispielsweise »Club G.I.« (Club gegen Inga). Mädchen blockieren mit dem Clubnamen auch gern von vornherein jede Veränderung der Mitgliedschaft: Wenn der exotisch-geheimnisvoll klingende Name des Clubs aus einer Buchstabenkombination aus den Namen der beteiligten Mädchen zusammengesetzt ist, kann niemand abspringen oder neu dazukommen.
Das höchste und vornehmste Ziel eines jeden Vereins scheint aber auch auf Kinderebene der Besitz eines eigenen »Clubheims« zu sein. Wo es möglich ist, einen Unterschlupf auszubauen und einzurichten, wird dieses Ziel mit großem Eifer verfolgt. Dann ist auch das Gruppenleben offenbar länger und lebendiger, denn der geheime Treffpunkt wird zum alles bestimmenden Gruppenziel. Der technische Ausbau, die notwendigen handwerklichen Fertigkeiten sind dabei oft nicht einmal die größte Herausforderung. Viel aufregender ist es, von Erwachsenen unbemerkt Baumaterialien zu »klauen«, für die Inneneinrichtung aus den Beständen der Elternhäuser eine ganze Aussteuer und das notwendige Mobiliar nebst Lampen und Kerzen zu organisieren und für die Vorratskammer geeignete Speisen und Getränke zu hamstern. Diese Arbeit kann eine Kindergruppe schon mal einen ganzen Sommer lang in Atem und zusammenhalten.
Die Möglichkeiten für Kinder in unseren Breiten, sich ihre geheimen Schlupfwinkel zu schaffen, sind leider beträchtlich geschrumpft. Gleichwohl scheint das Bedürfnis der Kinder, sich überhaupt so etwas wie einen Vereinstreffpunkt zu schaffen, so ausgeprägt zu sein, dass sie trotz aller Einschränkungen halbwegs brauchbare Orte ausfindig machen: wenn nicht im Haus oder Garten eines der Gruppenmitglieder, dann in einem versteckten Eckchen auf dem Schulgelände, in einem verlassenen Winkel im Wohnbezirk, einer unzugänglichen Nische im Park oder in den Kellern der Wohnblocks. Zum Ausbauen, Einrichten und Horten von Vorräten sind diese Plätze meistens jedoch höchst ungeeignet.
Lose Kindergemeinschaften
Die dritte Form von Gemeinschaftserfahrungen, die Kinder besonders im Alter ab 10 Jahren suchen und genießen, sind gemeinsame Aktivitäten mit einer Gruppe von etwa Gleichaltrigen, die sich lose zusammenfinden. Dazu gehören die beliebten Bewegungsspiele, wie Gummihüpfen, Fußballspielen, Schlittschuhlaufen, Schwimmen, Streetball und Skateboardfahren, die teilweise in den Schulpausen betrieben werden oder zu denen sich die Kinder am Nachmittag verabreden. Zu den reizvoll-beängstigenden Auseinandersetzungen und Kämpfchen, die auch heute noch hie und da aufflackern, zählen die Reiterkämpfe, Schneeballschlachten und die Handtuchkämpfe im Schwimmbad, manchmal aber auch große Keilereien.
Für die folgenden Gemeinschaftsaktionen gibt es sogar während der Schulzeit glücklicherweise auch heute noch ausreichende Betätigungsfelder: Lehrer ärgern, Unterricht stören, kollektives Schwänzen, Erwachsenen Streiche spielen oder einfach Unsinn machen. Wenn auch seltener, so gibt es aber auch die entsprechenden positiven Varianten, zum Beispiel für den beliebten Lehrer eine Geburtstagsüberraschung zu organisieren oder eine kleine Hilfsaktion auf die Beine zu stellen.
Die Gemeinschaftsaktionen auch in »losen« Gruppen sind außerordentlich wichtige Erfahrungen für Kinder dieser Altersstufe, deren Bedeutung für die Entwicklung von Gemeinschaftssinn nicht unterschätzt werden sollte, auch wenn wir Erwachsenen – meistens zu unserem Ärger – gelegentlich das Ziel der Aktivitäten sind.
Nationalgefühl
Offenbar hängt die Entwicklung des Wir-Gefühls auch mit der Entwicklung des Menschen zu einem »Staatswesen« im weitesten Sinn zusammen.
Etwa Zehnjährige beginnen sich für die Zeitung beziehungsweise die Nachrichten zu interessieren (und finden alles, was mit Politik zu tun hat, furchtbar blöd). Aber sie fangen an, über den eigenen Gartenzaun hinauszuschauen, und vergleichen die Welt dort draußen mit ihrem »Zuhause«, dem eigenen Land, der eigenen Nation.
Am deutlichsten wird diese nationale Identifizierung heutzutage in der Begeisterung der Kinder für die verschiedenen Idole und Nationalmannschaften im Sport. (In anderen Nationen war und ist es beispielsweise auch die Armee, für die sich Zehnjährige erwärmen können: Woran Kinder ihre nationale Identität, ihr Nationalgefühl festmachen, liegt in der Hand beziehungsweise in der Welt der Erwachsenen.)
Die Beobachtung von Kindern in verschiedenen Nationen und Gespräche mit Erwachsenen, die ihr eigenes Nationalgefühl längst zu den Akten gelegt haben, weisen darauf hin, dass es im Alter zwischen 10 und 12 ganz selbstverständlich ist, Begeisterung für Fahnen, Nationalfarben, Hymnen usw. zu entwickeln. Wenn die Nationalhymne erklingt, dann ist das in diesem Alter ein Gefühl wie bei Fünfjährigen Weihnachten.
Das Gefühl, zu einer Nation, zu einem Land, zu einer Kultur zu gehören, muss eine ähnliche Bedeutung haben wie im Säuglingsalter das Gefühl, zu einer Mutter, und im Kleinkindalter das Gefühl, zu einem Elternhaus zu gehören. Ebenso, wie sich das Kind vom Rockzipfel der Mutter lösen muss, wenn es in seiner Entwicklung nicht zurückbleiben soll, und eines Tages das Elternhaus hinter sich lassen wird, um ein selbstbewusster, unabhängiger Erwachsener zu werden, so wird der reife Mensch Nationalgefühl, Nationalstolz und Nationalbewusstsein (in übertriebener Form) ablegen können, wenn das Bedürfnis danach gestillt ist – und die weiterentwickelten Erwachsenen vorleben, dass man auch sehr selbstbewusst, sicher, frei und tolerant mit Menschen anderer Nationen zusammenleben kann. Menschen, die dieses Vorbild nicht haben, bleiben in ihrem nationalen Bewusstsein wahrscheinlich eher auf dem Entwicklungsstand von Zehnjährigen stecken, als Menschen, in deren Nation Toleranz gegenüber Ausländern als selbstverständliches Zeichen von Reife und Erwachsensein gilt. Von Zehn-, Zwölfjährigen aber zu erwarten, dass sie gleich »erwachsen« sein sollen, indem man ihren altersgemäßen »Nationalstolz« angstvoll unterbindet, wäre absolut unangemessen.
Vermutlich entsteht im Alter um 10, 12 Jahre herum auch im engeren Sinn »kulturelle Identität«: Die landesübliche Musik, die Rhythmen und Tänze der Kultur werden mit überschwänglichem Gefühl aufgenommen, gesungen, in Bewegung umgesetzt und nachgeahmt: Fast jedem Alpenländler wird es auch als Erwachsenem noch warm ums Herz bei Zithermusik, die ihn durch seine Kindheit begleitet hat. Jedem Menschen, der in der Karibik groß geworden ist, zuckt es in den Gliedern und im Herzen, wenn er die Rhythmen seiner Heimat hört. Die bewusste Auseinandersetzung mit kulturtypischer Musik und Tanz beginnt offenbar (erst!) im Alter von 10 bis 12 Jahren. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass, wie wissenschaftliche Untersuchungen ergeben haben, das Rhythmusgefühl im Alter zwischen etwa 10 und 12 Jahren deutlich zunimmt.
Jehan Sadat, aufgewachsen in der islamischen Kultur Ägyptens, ordnet die folgende Erinnerung bezeichnenderweise der Zeit zu, als sie zwischen 10 und 14 Jahren alt war:
Am ersten Donnerstag des Monats machten wir es jeweils wie Millionen andere Ägypter und viele Menschen der ganzen arabischen Welt: Wir versammelten uns in Port Said, in Kairo oder wo immer wir uns gerade aufhielten, um unser Batterieradio und lauschten dem allmonatlichen Live-Konzert von Umm Kalthum.
... Ihre Stimme wirkte wie Magie, ihr Können war meisterlich ...
Die Europäer fanden ihre Lieder langweilig, wir aber nicht. Für Ausländer sieht jede Düne in der Wüste so aus wie alle anderen, wir aber wissen, dass kein Sandkorn gleich ist. So war es auch mit Umm Kalthums Donnerstags-Konzerten, zu denen ihre treuen Anhänger aus der ganzen arabischen Welt nach Kairo strömten. (Sadat, S. 47 f.)
In unserer modernen Medienkultur übernimmt die Musik, die gerade »in« ist und von allen Sendern tagaus, tagein wiederholt wird, die Rolle der »Volksmusik«, die in anderen Kulturen oder in früheren Zeiten die Menschen einer Volksgruppe vereinte: Die Leute, die Ende der 50er- bis Mitte der 60er-Jahre ältere Kinder und Jugendliche waren, schwärmen noch heute von der Stimme und den Schlagern eines Elvis Presley, die, die Ende der 60er-Jahre zwischen 10 und 18 Jahre alt waren, flippen – etwas gedämpft – noch heute bei den Klängen der Beatles oder der Rolling Stones aus. Weltweit ist inzwischen eine Generation herangewachsen, die im Alter von 10 bis 14 Jahren von Michael Jackson umgarnt und musikalisch geprägt worden ist. Und die jungen Menschen, die heute 10, 12, 14 Jahre alt sind, werden vielleicht auch als Erwachsene noch in begeisteter Erinnerung rhythmisch mit ihren Köpfen zucken, wenn sie sich wieder einmal den Schlägen der Technomusik aussetzen, die sie in ihren Kinderzimmern unter dröhnenden Kopfhörern hingebungsvoll ausgehalten haben.
Musik ist unter modernen Kindern zwischen etwa 10 und 13 Jahren auch zu einem Kristallisationspunkt von Wir-Gefühl geworden: Wenn sich Kinder in dieser Altersstufe zum ersten Mal begegnen, ist häufig eine ihrer ersten Fragen: Welche Musikgruppe magst du, von welcher bist du Fan?
Die beste Freundin, der beste Freund
Was wäre das Leben zwischen 8 und 12 ohne den besten Freund, die beste Freundin! Ohne ihn oder sie wäre man auch in der größten Kindergemeinschaft allein.
Freundschaften entwickeln sich selbstverständlich schon früher und manchmal überdauern sie als »Sandkastenfreundschaften« alle Entwicklungen des Lebens. In der Sturm- und Drangzeit der Acht- bis Neunjährigen sind »Freundschaften« zwar auch wichtig, aber oft können die Kinder in dieser unruhigen Phase noch nicht zu einer beständigeren Beziehung zu ihrem Freund oder ihrer Freundin finden.
Für Zehnjährige gewinnt der »beste« Freund eine andere Bedeutung. Er wird zu einem wichtigen »Neben-Ich«, zu einem Wegbegleiter, Partner, Kamerad, mit dem man im Schulterschluss durch die Lebenswelt der Kindheit geht. – Bei Viertklässlerinnen sieht man am häufigsten die Freundespaare, die, den Arm um die Schulter der Freundin gelegt, über den Pausenhof wandern. Eine Freundschaft im Sinn einer Begegnung von zwei Menschen, die im anderen ein Gegenüber suchen, um in eine Ich-Du-Beziehung, einen seelischen Austausch zu treten, ist für Kinder unter etwa 13 Jahren allerdings noch nicht möglich.
»Beste« Freundschaften bei Zehnjährigen sind fast immer gleichgeschlechtlich, und fast immer finden sich Kinder, die auch sonst zueinander »passen«: Kinder aus ähnlichen Familienverhältnissen, Kinder, die etwa gleich begabt sind, Kinder gleicher Nationalitäten. Im besten Freund, in der besten Freundin suchen Kinder vor allem ihresgleichen.
Wenn man bedenkt, dass es in der Lebensphase des großen Kindes ganz wesentlich darum geht zu erfahren, welche Stellung man innerhalb der eigenen Generation hat und wer man im Vergleich zu den Gleichaltrigen ist, wenn man sieht, dass diese Standortsuche mit viel Unsicherheit verbunden ist, dann wird umso verständlicher, wie wohltuend es sein muss, jemanden an seiner Seite zu wissen, der eine Art »Zwilling« ist. Tatsächlich wünschen sich vor allem Mädchen in diesem Alter oft von Herzen eine Zwillingsschwester. – Zwillinge selbst wünschen sich dagegen meistens sehnlichst die »eigene« beste Freundin, die sie endlich einmal nicht mit der Schwester teilen müssen.
Beste Freunde sind Stützpfeiler innerhalb der Gruppe der Gleichaltrigen, nach dem Motto: Machst du mit, mache ich auch mit; was du gut findest, ist auch für mich richtig; wenn mich etwas ärgert, weiß ich, dass du mich verstehst; will ich etwas in der Gruppe durchsetzen, wirst du mich unterstützen; werde ich angegriffen, wirst du mich nicht im Stich lassen.
Der beste Freund oder die beste Freundin ist für Zehnjährige aber in erster Linie das Echo der eigenen Gefühle: »Ich finde Basketballspielen toll« – »Ich auch«, ist für Kinder in diesem Alter weit mehr als die gegenseitige Information über ein Hobby und auch mehr als die Frage: »Hast du Lust, mit mir Basketball zu spielen?«, wie es bei jüngeren Kindern der Fall ist.
In solch kleinen Dialogen tasten ältere Kinder vor allem ab, ob ihre eigenen Gefühle »verstanden« werden, ob sie »richtig«, das heißt »im Trend« liegen, und wie es um die Gefühle des anderen Kindes bestellt ist. Die Erfahrung, da ist einer, der fühlt so wie ich und deshalb versteht er mich, ist wichtiger als die Botschaft, da ist jemand, der, wie ich, Basketball spielt. Im Spiel selbst wird sich dann ohne weitere Worte herausstellen, ob die Gefühle wirklich gleich sind, ob die Harmonie stimmt, ob der Partner zum Freund taugt.
Nehmen wir an, Hans und Jochen, beide 10 Jahre alt, hätten auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz Munition gefunden. Ihr Gespräch könnte etwa so verlaufen:
1. Variante:
Hans: Sollen wir sie anzünden?
Jochen: Traust du dich?
Hans: Weiß nicht – vielleicht schon – sollen wir’s mal probieren?
Jochen: Nee, komm, wir lassen’s lieber bleiben, wenn was passiert ...
2. Variante:
Hans: Eh, komm, die jagen wir hoch!
Jochen: Das ist gefährlich!
Hans: Sei kein Feigling, da passiert doch nichts!
Jochen: Glaubst du wirklich?
Hans: Na klar, das macht doch Spaß!
Jochen: Also gut, aber wir müssen ganz schnell in Deckung gehen.
3. Variante: Hans: Eh, komm, die jagen wir hoch!
Jochen: Das ist gefährlich!
Hans: Sei kein Feigling, da passiert doch nichts!
Jochen: Da mach ich nicht mit!
Hans: Dann bist du nicht mein Freund.
Jochen: Du spinnst!
Im Grunde geht es bei allen drei Gesprächen um die Angst einerseits und die Verlockung des Abenteuers andererseits. Und im Grunde tauschen sich die Jungen in allen drei Varianten über ihre Gefühle aus und stimmen sie – im gegenseitigen Echo – miteinander ab. Im letzten Beispiel werden sie sich nicht einig, und damit wird auf einmal eine ganz andere Frage und ein anderes, damit verbundenes Gefühl wichtiger, nämlich: Wer ist der Stärkere von uns beiden, wer gibt nach?
Die Fähigkeit, Freundschaften zu schließen und sie aufrechtzuerhalten, muss gelernt und geübt werden. Darüber hinaus aber ist es das Gefühl Freundschaft selbst, das Kinder in diesem Alter kennen lernen, ausprobieren und ausleben müssen. Erwachsene stützen sich, ohne sich dessen bewusst zu sein, auf diese Erfahrungen, wenn sie in einer neuen Umgebung oder in einer neuen Lebensphase neue Freundschaften knüpfen. Mehr noch: Die Fähigkeit, Freundschaften überhaupt zu schließen, die Art, wie jemand mit seinen Freunden umgeht, wie später einmal Freundschaften gelebt und gepflegt werden, wird in diesem Alter angelegt.
Die Möglichkeit, einen besten Freund oder mehrere gute Freunde zu haben und sich mit ihnen zu treffen, hängt für Zehnjährige in unserer Gesellschaft allerdings ganz wesentlich davon ab, dass Erwachsene im Hintergrund stehen, die für die Kinder da sind und sie darin unterstützen, ihre Freundschaften zu pflegen.
Meistens treffen sich die Freunde nämlich entweder in der Schule oder nachmittags zu Hause oder in der näheren Umgebung der Wohnung. In der Schule sind Freunde auf Lehrer angewiesen, die Verständnis dafür haben, dass Freunde zusammen sein wollen und sich natürlich schrecklich viel zu erzählen haben. Für die Verabredung zu Hause ist es allemal sicherer und auch angenehmer, wenn ein Erwachsener im Haus ist, der die Kinder darin unterstützt, sich zu treffen und ihre gemeinsamen Spiele und Abenteuer auszuleben, sich ansonsten aber heraushält.
Kinder, die sehr viel sich selbst überlassen sind, haben es erwiesenermaßen viel schwerer, Freunde zu finden und Freundschaften aufrechtzuerhalten, als beispielsweise Kinder, deren Mütter (oder Väter) wenigstens halbtags zu Hause sind und ihren Kindern die Freiheit zugestehen, zusammen mit den Freunden ihr eigenes Kinderleben zu leben. Auch Schülerhorte können für Kinderfreundschaften ein Segen sein.
Der Gegensatz zum Freund ist der Feind. Auch dafür muss man in diesem Alter ein Gefühl bekommen. Und so ist es ganz natürlich, dass »Feindschaften«, ob man will oder nicht, zu den sozialen Grunderfahrungen dieser Entwicklungsstufe gehören. Zum einen brauchen »Lieblingsfeinde« einander, um sich aneinander zu messen, sich zu reiben und dadurch die eigenen Stärken und ihre Grenzen zu erfahren. Zum anderen kann die Erfahrung, dass richtig ausgelebte »Feindschaft« letztendlich der gegenseitigen Achtung keinen Abbruch tun muss, sondern sogar in Hochachtung und Freundschaft münden kann, für Kinder in diesem Alter wegweisend sein.
Natürlich muss es dabei nicht gar so hart zugehen wie bei diesen beiden etwa elfjährigen Jungen in Mexiko-Stadt um 1940:
Dieser burro schlug meinem Bruder eines Tages einen Zahn aus. Da ging ich auf ihn los. Es war ein großartiger Kampf. Ich gab ihm einen solchen Schlag, daß er schrie. Als er sah, daß er es mit seinen Fäusten nicht schaffte, biß er mich. Noch heute habe ich die Narbe auf der Schulter, wo er seine Zähne reingehauen hat. Danach wurden wir enge Freunde, wir verstanden uns besser als Roberto (der Bruder) und ich, weil wir nichts voreinander verheimlichten. Der burro war niemand anders als mein jetziger compadre und bester Freund Alberto Hernandez. (Manuel in: Lewis, S. 62)
Die Muster der Auseinandersetzungen, ob mit Fäusten, Waffen oder Worten, haben die Kinder aus der Erwachsenenwelt. Und so steckt auch in den meisten Kinderfeindschaften, die normalerweise vor den Erwachsenen nicht verborgen werden, immer auch die Frage an die Großen: Wie hältst du es mit Feinden? In diesem Alter lernen Kinder entweder, dass man Feinde hat und sie ein Leben lang bekämpfen muss, oder dass man ohne Feindbilder leben und mit allen Menschen, trotz aller Antipathien und Gegensätze, partnerschaftlich umgehen kann: Diese Weichen stellen ausschließlich wir Erwachsenen durch unsere eigene Einstellung! Wenn Kinder mit Hilfe der Erwachsenen lernen, ihre Feindschaften zu überwinden, können sie als Erwachsene die besten Friedensmittler und Friedensstifter sein.
Außenseiter
Wie wichtig eine lebendige Beziehung zu Gleichaltrigen ist, wird an den Kindern deutlich, die keine Freunde haben: Ihr Leid ist die schmerzlichste Schattenseite des Kinderlebens. Dennoch scheinen Außenseiter unvermeidlich zu sein, und es wäre naiv anzunehmen, dass es Kindergemeinschaften geben könnte, die ohne sie auskämen: Außenseiter gibt es überall und es gab sie immer!
Wenn Kinder sich zu Gruppen oder Freundschaftspaaren zusammenschließen, grenzen sie damit zwangsläufig andere Kinder aus. Das muss so sein, sonst gäbe es keine Gruppen und Freundespaare, sondern nur einen unklaren Einheitsbrei, in dem alle einsam und verloren wären. Wenn sich Kinder zusammen- und damit andere ausschließen, ist das keine bösartige Handlung, sondern ganz unvermeidlich, wenn es darum geht, seinen Platz zu finden und sich in der Gruppe der Gleichaltrigen einzuordnen. Da sich immer die Kinder zusammentun, die sich einander »verwandt« fühlen, werden entsprechend die Kinder ausgeschlossen, die nicht dazu »passen«, von denen sich die anderen unterscheiden. Die Ausgegrenzten werden von den Kindern, die sich zusammenschließen, sozusagen als Kontrasthintergrund gebraucht, vor dem das Gemeinsame der Gruppenmitglieder erst sichtbar wird.
Für das ausgegrenzte Kind ist das wahrlich keine angenehme Rolle. Ausgegrenzt zu werden ist immer eine tiefe Verletzung, denn die Botschaft, die darin steckt, heißt ja nicht nur sachlich: Du bist anders, sondern sie heißt ganz radikal und schonungslos: So wie du bist, passt du nicht dazu! Das trifft und verletzt ein hoch begabtes Kind genauso wie ein lernbehindertes, das Kind mit anderer Hautfarbe genauso wie das schwäbische unter den Hamburger Kindern, das an Diabetes erkrankte Kind genauso wie das stotternde, das Kind des prominenten Vaters genauso wie das des verspotteten Lehrers.
Kinder ausgegrenzt zu sehen, tut auch den begleitenden Erwachsenen weh. Das ist die große Chance für die Außenseiter – manchmal aber auch die große Gefahr. Denn allein ist es für ein zehnjähriges Kind kaum möglich, aus der Position des Ausgegrenzten herauszukommen. Zuweilen verderben aber gerade die Erwachsenen, die es nicht mit ansehen können, dass ein Kind Außenseiter ist, alle Chancen.
Außenseiter in eine Kindergemeinschaft einzugliedern, von der sie ausgeschlossen wurden, verlangt von den Erwachsenen viel Fingerspitzengefühl. Man kann keinem Kind »befehlen«, ein anderes Kind anzunehmen oder sich gar mit ihm anzufreunden. – Es ist erstaunlich, wie oft Eltern und manchmal auch Lehrer von Kindern regelrecht verlangen, dass sie sich mit einem Kind anfreunden sollen oder es zumindest in ihren Freundeskreis aufnehmen müssen. Das ist eine Vergewaltigung der natürlichen Bedürfnisse und führt letztlich nur zu Heuchelei und Aggression. Zu oft vergessen Erwachsene, dass bei Kindern noch mehr als bei Erwachsenen Gefühle herrschen, denen mit »Vernunft« nicht beizukommen ist. Toleranz ist eine menschliche Errungenschaft, die man zwar lernen kann, die aber auch reifen muss.
Erwachsene helfen Außenseitern in der Regel am ehesten, wenn sie nicht direkt in das Gefüge der Freundschaften eingreifen, sondern indem sie die Merkmale und Eigenschaften des ausgegrenzten Schülers aufgreifen, die ihn nicht von den Altersgenossen unterscheiden. Oft begehen Lehrer dabei aber den Fehler, die besonderen Vorteile und Fähigkeiten des ausgegrenzten Schülers herauszustreichen, um ihn den Klassenkameraden als Freund schmackhaft zu machen. Sie bewirken damit natürlich genau das Gegenteil.
Wenn Kinder merken, dass der andere gar nicht »anders« ist, und wenn ihre Clique den Außenseiter nicht mehr braucht, um sich abzugrenzen, werden sie ihn in einer neuen Gruppenzusammenstellung ganz natürlich mit eingliedern. Kinder, die von Erwachsenen darin unterstützt werden, ihre Außenseiterrolle zu ertragen, anzunehmen und sich nicht unentwegt dagegen aufzulehnen, werden sie am schnellsten wieder los, weil sie zumindest von den Erwachsenen erfahren haben, dass sie nicht weniger wert sind als alle anderen Kinder, sondern im Gegenteil dazu in der Lage sind, eine besonders schwierige Situation zu meistern.
Julia hat eine angeborene Stoffwechselstörung und darf kein Mehl essen. Das bedeutete für sie früher, dass sie zu jedem Kindergeburtstag ihre Reiskekse (»Styroporkekse«) mitbringen und zusehen musste, wie die anderen Kinder ihre Kuchen und Torten aßen. Alle Kinder sahen ihr an, dass sie darunter litt, aber sie beklagte sich nie, sondern bedankte sich stattdessen immer ganz ehrlich, dass sie trotzdem zur Geburtstagsfeier eingeladen worden war. Allmählich sickerte Julias »Behinderung« bei den Eltern der Klasse durch und ein Kuchenrezept mit Mandeln oder Nüssen statt Mehl machte unter den Müttern die Runde. Zunehmend gab es bei den Geburtstagsfeiern diesen besonderen »Juliakuchen«, der zum absoluten Hit bei den anderen Kinder wurde. Trotz ihrer Krankheit, durch die sie immer »anders« war als alle anderen Kinder, war und blieb Julia in ihrer Klasse beliebt. Ihre Krankheit konnte sie zwar nicht loswerden, aber ganz unverkrampft war sie der Rolle des Außenseiters entkommen, weil es ihr – mit Hilfe der Erwachsenen, besonders ihrer Mutter – gelungen war, ohne viel Aufhebens die anderen Kinder in ihre Krankheit zu integrieren.
Monika ist Diabetikerin. Auch sie brauchte bei Kindereinladungen besondere Kost und bekam ganz selbstverständlich immer ihre Diabetikerkuchen oder -kekse. Monika aber bestand nicht nur darauf, dass die Gastgeber etwas Besonderes für sie vorbereitet hatten, sondern auch darauf, dass diese »Extrawürste« ihr ganz allein gehörten, nach dem Motto: Ich bin schließlich krank und dafür steht mir ein besonderer »Trost« zu. Anfangs war sie in ihrer Klasse integriert. Allmählich aber ging den Klassenkameraden ihre »Angeberei« mit der Diabetes auf die Nerven und sie wurde zur Außenseiterin.
Es gibt Persönlichkeitsmerkmale, die den Kontakt zu Gleichaltrigen blockieren können und die nicht so einfach zu überspielen sind. Dazu gehören zum Beispiel deutliche Intelligenzunterschiede, die tief verwurzelte Prägung durch den familiären Erziehungsstil, das soziale Milieu oder die kulturellen Normen, in denen ein Kind aufgewachsen ist. Diese Unterschiede spüren Kinder noch stärker als Erwachsene.
Ebenso wie für Erwachsene ist aber auch für Kinder die natürlichste und menschlichste Form, der Einsamkeit zu entkommen, sich Gleichgesinnte zu suchen. Kindern, die isoliert sind, weil sie innerhalb ihrer Klassengemeinschaft oder ihres Wohnumfeldes wirklich etwas »Besonderes« sind, hilft es daher am besten, wenn Erwachsene sie darin unterstützen, ein »passendes« Kind mit ähnlichen Merkmalen zu finden. Für hoch begabte Kinder, die sich in ihrer Klasse vollkommen fehl am Platz fühlten, die unentwegt gehänselt und angegriffen wurden und die folglich quälende Minderwertigkeitsgefühle entwickelten und an allem zweifelten, was sie konnten, erwies sich der Kontakt zu gleichfalls herausragend begabten Kindern aus anderen Schulen wie eine Erlösung: Auf einmal merkten sie, dass sie nicht »verrückt« waren und untauglich, dass es andere Kinder gab, die genauso dachten und handelten wie sie und mit denen sie endlich »richtig« spielen konnten. Die Bücher und Computer, sonst die einzigen »Partner« dieser Kinder, waren für ein paar erfüllte Stunden mit den neu gewonnenen Freunden vergessen.
Ähnlich geht es Kindern, die besonders langsam und intellektuell weniger wendig sind als ihre Klassenkameraden, oder Kindern, die aus einer anderen Kultur zu uns kommen, oder Kindern, die zu Hause misshandelt werden.
Um den passenden Partner zu finden, muss man allerdings die Möglichkeit haben auszuwählen. Ausgeschlossene Kinder brauchen zwar die Hilfe der Erwachsenen, um den Kontakt zu möglicherweise passenden Kindern herzustellen, Erwachsene können aber nie für ein Kind einen Freund aussuchen oder gar bestimmen. Sympathie und Antipathie lassen sich nicht steuern. Wenn Kinder die Möglichkeit haben, sich in einer neuen Gruppe unbefangen zu orientieren, finden sich mit erstaunlicher Sicherheit meistens genau die Kinder, die am besten zusammenpassen, obwohl sie zunächst nicht wissen können, weshalb sie übereinstimmen. Auch hier gilt: Die Erwachsenen müssen den richtigen Rahmen schaffen, den Kindern aber das Übrige selbst überlassen können.
Manche Kinder stellen sich von sich aus abseits und halten sich aus gemeinsamen Aktionen mit Gleichaltrigen heraus.
Manche dieser Kinder schaffen sich einen Ersatz für die fehlenden Kontakte zu Gleichaltrigen, sei es ein innig geliebtes Haustier oder auch ein besonders intensiv betriebenes Hobby, gelegentlich auch eine besondere Beziehung zu einem wesentlich älteren Menschen oder zu einem wesentlich jüngeren Kind.
Wenn Kinder unter etwa 13 Jahren aber das »Bedürfnis« haben, ganz viel allein zu sein, um ihren Gedanken nachzuhängen, dann verbirgt sich dahinter meist ein großer Kummer, der alle Lebenskräfte des Kindes bindet. Einzelgängern geht es nicht gut.
Es ist Aufgabe der begleitenden Erwachsenen, die Signale, die von diesen Kindern immer gesendet werden, zu verstehen und herauszuspüren, weshalb sich ein Kind zurückzieht: ob es sich »nur« von den Gleichaltrigen ausgegrenzt fühlt und resigniert hat, ob es Probleme mit einem Lehrer oder der Schule überhaupt gibt, ob es sich von den Eltern allein gelassen, unverstanden, überfordert oder gar misshandelt und verletzt fühlt oder ob es mit anderen Sorgen aus der Erwachsenenwelt überschüttet ist. Wenn Lehrer oder Eltern die Signale des Kindes nicht deuten können, mag ein Kinderpsychologe ein hilfreicher Dolmetscher sein. Oft brauchen diese Kinder aber das verstehende, erlösende Wort eines Erwachsenen, dem sie sich anvertrauen und bei dem sie sich vorbehaltlos öffnen dürfen. Dann kann ein Kindertherapeut der beste Helfer sein.
Auf der anderen Seite sollten Erwachsene aber auch respektieren, dass Kinder oft große Kräfte entwickeln und ihren eigenen Weg finden, ihre Sorgen und Nöte selbst zu bearbeiten, und keine Hilfe von außen annehmen möchten. Dennoch: Wenn sich ein Kind ständig zurückzieht und absondert, braucht es einen Erwachsenen, der seine Not aufgreift, der sich als Gesprächs- und Sorgenpartner anbietet und der das Kind zumindest spüren lässt, dass es nicht allein gelassen ist.
Manchmal brauchen dieses Kinder aber auch nur ganz praktische Hinweise, wie sie Kontakt zu anderen Kindern aufbauen können, woran es liegt, dass sie abgelehnt werden und wie sie damit umgehen können. Oder sie brauchen einen Klassenkameraden, der bereit ist, auf das Kind zuzugehen. Auch hier können Erwachsene – meistens die Lehrer – wertvolle Hilfestellung leisten, ohne sich allzu sehr in die Belange der Kinder einzumischen.
Was können die Erwachsenen tun?
Vor allem sollten Erwachsene Vertrauen in die Geschicklichkeit und den Instinkt der Kinder haben und sie getrost auch mal allein ihrem »wilden« Treiben überlassen: In Finnland bewerfen sich Kinder gegenseitig mit Speeren – und bei diesem Spiel passiert erstaunlich wenig, weil die Kinder dem Speer geschickt ausweichen oder ihn in der Luft fangen. Glauben Sie, dass es Erwachsene sind, die den finnischen Kindern dieses »Spielchen« beibringen? Ganz sicher nicht. Und ebenso sicher üben die finnischen Kinder dieses Spiel nicht in Gegenwart von Erwachsenen. Aber die finnischen Eltern haben offenbar die Kraft und die Gelassenheit, ihre Kinder freizulassen und ihnen zu vertrauen: Weil sie ihre Angst (um die Kinder) meistern, geben sie ihren Kindern die Möglichkeit, sich ihrerseits angstfrei und selbstsicher mit der Welt auseinander zu setzen.
Darüber hinaus können Eltern ganz praktisch den Bedürfnissen ihrer Tochter oder ihres Sohnes entgegenkommen, wenn sie nicht nur den einen besten Freund oder die eine beste Freundin, sondern gelegentlich auch mehrere Kameraden zu Freizeitunternehmungen mitnehmen – und dann nicht zu sehr »herumkommandieren«, sondern den Kindern zeigen, wie man richtig mit Gefahren umgeht, zum Beispiel mit Feuer, Wurfpfeilen, Pfeil und Bogen oder wie man richtig klettert.
Wunderbar wäre es für die Kinder, wenn Eltern die besten zwei, drei, vier Freundinnen oder Freunde der Tochter oder des Sohnes mit in die Ferien nehmen würden: Öfter ein paar Tage oder Wochen im Jahr immer im selben (wenn auch gemieteten) Ferienhaus in der Nähe, also in der Landschaft der eigenen Heimat, gemeinsam mit ein paar Alters- und Weggenossen, sind für Kinder zwischen 10 und 13 Jahren viel wertvoller als vier Wochen mit Papa und Mama in einem Ferienclub in Afrika.
Eines ist ganz sicher wichtig: Eltern sollten verhindern, dass ihre Kinder in die Hände von älteren Jugendlichen oder Erwachsenen geraten, die das natürliche Bedürfnis nach Gruppe und Abenteuer missbrauchen. Lieber sollten Eltern selbst die Gruppen unterstützen, die aus der natürlichen Nachbarschaft oder Schulgemeinschaft heraus entstehen. Nach wie vor müssen die Erwachsenen nämlich sehen, dass die Kinder – trotz aller Freiheit, die sie innerhalb ihrer Lebenswelt unbedingt brauchen – nur in bestimmten Grenzen ganz sich selbst überlassen werden können: So kann zum Beispiel ein unklarer Kontakt zu Erwachsenen oder älteren Jugendlichen bekanntlich dazu führen, dass Kinder unter einen verheerenden Einfluss geraten.
Grenzen brauchen Kinder in diesem Alter aber auch für selbständige Aktivitäten – für den Besuch von Großveranstaltungen zum Beispiel: Ein Zehnjähriger, der ohne Begleitung eines Erwachsenen zu einer Großveranstaltung gehen darf, ist ganz sicher überfordert. Das ist einfach noch »eine Nummer zu groß«, auch wenn das Kind noch so bettelt!
Und für die »Tages-Ordnung« gilt: Bei aller Freiheit, die sie »draußen« suchen, brauchen Kinder auch in diesem Alter noch die sichere Geborgenheit innerhalb der eigenen vier Wände. Wenn man viel allein erlebt, tut es gut, wenn man wenigstens bei einer gemeinsamen Mahlzeit ein bisschen davon erzählen und versteckte Fragen stellen kann. Aufgeschlossene Eltern hören dabei schon heraus, wenn da Sachen laufen, denen sie vielleicht doch nachgehen sollten.
Kinder brauchen neben ihrer Freiheit und neben der notwendigen Grenzziehung eben auch – gelegentlich – Hilfestellung und Anregung von Erwachsenen: Was man miteinander spielen, werken, machen kann, wie man etwas herstellt oder repariert, wie man fair miteinander umgeht, was es heißt, zu einer Sache zu stehen, die man »ausgefressen« hat, warum der Sturzhelm beim Skaten und Biken nichts mit Feigheit zu tun hat usw.
Was Kinder viel weniger brauchen, als manche Erwachsene annehmen, sind Beschäftigungsprogramme und Kurse, die sich Erwachsene überlegt haben. Was sie dagegen viel mehr brauchen, als wir oft wahrhaben wollen, ist die Bereitschaft von Erwachsenen, auf die Ideen, Anliegen und Fragen der Kinder einzugehen.
In der Schule könnte, wie schon bei den »Acht-, Neunjährigen« angesprochen, ein Tag in der Woche für freie Angebote genutzt werden, die sowohl den Abenteuer- und Erkundungsdrang der »Zehnjährigen« aufgreifen als auch ihrem Bedürfnis nach Gruppenerlebnissen und Werken und Basteln gerecht werden. Eine »Zirkus-AG«, in der Akrobatik, Einradfahren, Jonglieren, Messerwerfen usw. geübt werden, würde sicher bei Viert- und Fünftklässlern auf breite Zustimmung stoßen und ihrem Selbstbewusstsein gut tun. Auch Kampfsportarten, bei denen die Kinder (durchaus auch die Mädchen!) lernen, sich körperlich zu messen, ohne den anderen ernsthaft zu verletzen, sollten in dieser Altersstufe viel stärker gepflegt werden.
Wenn an solchen Tagen, an denen in der Schule keine »Schule« ist, den Kindern freie Werk- und Bastelangebote offen stünden und sie zum Beispiel auch wieder die Spiele lernen könnten, die aus unserer Kultur verschwunden sind (zum Beispiel Kreiselschlagen) oder die in anderen Kulturen seit Jahrtausenden gespielt werden, wenn sie darüber hinaus die dazu notwendigen Spielzeuge selbst herstellen könnten (beispielsweise Bumerangs), wird auf die Dauer die Stimmung in einer Schule mit Sicherheit fröhlicher und entspannter werden!
Gute Erfahrungen mit ähnlichen Ideen haben inzwischen schon einige Ganztagsschulen gemacht – und Ganztagsschule muss ja keineswegs heißen, dass den ganzen Tag lang »Schule« ist.
Dort wo Ganztagsschulen nicht möglich oder auch nicht notwendig sind, sollte aber meiner Meinung nach eine freiwillige sozialpädagogische Nachmittagsbetreuung an den Schulen zur Selbstverständlichkeit werden. Und zwar auch für die Kinder, die nicht unbedingt eine Hortbetreuung brauchen. Wichtig erscheint mir, dass diese Angebote von der Schule ausgehen, die den Kindern und ihren Eltern vertraut ist. Ich meine damit aber keineswegs, dass alle Aktionen innerhalb des Schulgeländes stattfinden müssen. Im Gegenteil: Je mehr die Kinder rauskommen, umso besser.
Ich höre an dieser Stelle schon wieder alle Steuerzahler, Schuldirektoren, Kommunal- und andere Politiker einwenden: »Das klingt zwar alles ganz schön, aber leider ist das absolut nicht zu bezahlen.« Das Argument ist mir bekannt. Aber dass es eigentlich nicht am Geld liegt, sondern an der Angst und Unbeweglichkeit der Erwachsenen, auch das weiß ich. Die Kosten, die der Staat jetzt schon tragen muss, um die Folgen einer schädigenden Kindheit zu zahlen – sei es für die Drogenpolitik, für die Bekämpfung von Jugendkriminalität, für die Therapie von verhaltensgestörten oder seelisch kranken Jugendlichen, für die Qualifikation von »Benachteiligten« oder für sonstige Versuche, junge Menschen, die in ihrer Entwicklung eingeengt waren, »einzugliedern«, sind enorm – und daran darf momentan auch nicht gerüttelt werden, denn den jungen Menschen, die schon »auf der Nase liegen«, muss wahrhaftig geholfen werden! Nur sollte man alles tun, damit es nicht erst so weit kommt.
Was die Schule betrifft, gehen meine Phantasien und Träume sogar noch weiter. Und ich weiß sehr gut, dass sie noch absurder klingen. Ich halte mich da aber an den Satz des Philosophen Miguel de Unamuno: »Nur wer das Absurde anstrebt, kann das Unmögliche erreichen.«
Wenn Schulklassen mindestens vier Wochen im Jahr (für die jüngeren Kinder sind zweimal zwei Wochen besser) ins Schullandheim gingen, und zwar immer in dasselbe, so dass die Kinder im Laufe der Jahre eine Beziehung zur Umgebung und den dort lebenden Menschen aufbauen könnten, wäre das ein gutes Fundament. (Der Bruch mitten in der Kindheit durch den Wechsel von der Grund- in eine weiterführende Schule ist eine Zumutung für die Kinder. Dass es auch anders geht, beweisen nicht nur die Waldorfschulen, sondern zum Beispiel auch die deutschen Schulen im Ausland und das japanische Schulsystem.)
Mein Traum geht weiter: Ich sehe ein Dorf mit Landwirtschaft und Handwerkern, durchaus modern, mit Maschinen und allem, was dazu gehört – kein Museumsdorf mit historischen Vorführwerkstätten. Das Schullandheim ist in der Nähe dieses Dorfes und die Schüler sind bei den Dorfbewohnern und ihren Arbeiten willkommen, wann und wo immer es die Kinder möchten, nicht etwa als »Praktikanten« in festen Stellen und von der Schule verordnet. Und Lehrer und Dorfbewohner erhalten angesichts der pädagogisch-menschlichen Herausforderung eine beratende Unterstützung.
Die Lehrer und pädagogischen Betreuer sind weitgehend von der Haftpflicht befreit und können die Kinder laufen lassen, ohne gleich voll Bangen an die Fragen eines kinderfernen Richters denken zu müssen (zur Beruhigung der Eltern, der Krankenversicherungen und der Richter hat jedes Kind seine eigene Haftpflicht- und Unfallversicherung!)
Die Kinder wissen, dass sie für sich selbst verantwortlich sind, wenn sie in dieser Umgebung innerhalb bestimmter Grenzen ihr eigenes freies Leben miteinander »leben« dürfen. Und dort wo es die Kinder brauchen, bekommen sie von den erwachsenen Betreuern Hilfe und Anleitung: wie man richtig Feuer macht, ein Floß baut oder auch »nur«, wie man eine Mahlzeit zubereitet ...
Und dennoch ist Verlass darauf, dass die erwachsenen Betreuer den Rahmen bestimmen, der den Kindern bei aller Freiheit »draußen« Halt und Sicherheit gibt: klare Regeln innerhalb des Hauses, feste Essenszeiten, bestimmte Arbeiten, die jedes Kind zu erfüllen hat, und rücksichtsvolle Umgangsformen.
Zwischen den alterstypischen Lebensthemen und Verhaltensweisen der »Zehnjährigen« und »Zwölfjährigen« ist mir bislang keine charakteristische Zwischenstufe aufgefallen. Auch die meisten Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass sich zwar im Alter zwischen 10 und 12 Jahren viel weiterentwickelt, dass aber keine besondere, eigene Zwischenetappe zu beobachten ist. So sind Kinder, die etwa 11 Jahre alt sind, oft kaum anders als »Zehnjährige«, etwas reifer natürlich, und oft kündigen sich schon mit 11 Jahren die Wesensmerkmale an, die für die »Zwölfjährigen« typisch sind. Deshalb gibt es kein eigenes Kapitel über Lebensthemen und Verhaltensmerkmale der »Elfjährigen«.