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Am Heiligabend war der Hof Åludden noch immer in Dunkelheit getaucht. Es gab keinen Strom, und vor den Fenstern türmten sich riesige Schneewälle auf.
Nachts waren drei Polizisten und ein Spürhund mit einem Panzer eingetroffen und hatten alle Gebäude durchsucht, ohne jedoch Martin Ahlquists Mörder zu finden. Joakim kümmerte sich nicht weiter um sie. Etwa gegen drei Uhr morgens, nachdem sie mit Tilda Davidsson und dem verletzten Einbrecher ins Krankenhaus aufgebrochen waren, hatte er sich hingelegt und tatsächlich für einige Stunden geschlafen.
Zum ersten Mal seit mehreren Wochen hatte er einen ruhigen Schlaf gehabt. Als er allerdings fünf Stunden später in dem stillen Haus wieder aufwachte, konnte er nicht mehr weiterschlafen. Es war stockdunkel in den Zimmern. Joakim stand auf und zündete ein paar Petroleumlampen an. Aber bereits eine Stunde später drang ein viel intensiveres Licht durch die schneebedeckten Fenster.
Über dem Meer ging die Sonne auf. Joakim wollte sie sehen, war aber gezwungen, in den ersten Stock zu gehen und das Fenster und die Fensterläden zu öffnen, um auf das Meer schauen zu können.
Die Küste hatte sich in eine traumhafte Winterlandschaft verwandelt, mit einem tiefblauen Himmel, der über glitzernden Schneedünen hing. Die roten Wände der Scheune sahen fast schwarz aus gegen das strahlende Weiß des Schnees.
Eine arktische Stille herrschte auf Åludden. Es war vollkommen windstill – vielleicht das erste Mal, seitdem Joakim nach Öland gezogen war.
Der Nebelsturm hatte sich ausgetobt. Bevor er weitergezogen war, hatte er unten am Strand eine meterhohe Mauer aus Eisschollen aufgetürmt.
Joakim hatte Geschichten gelesen von alten Leuchttürmen, die vom Sturm umgerissen wurden und ins Meer gestürzt waren, aber diese beiden Leuchttürme hatten dem Nebelsturm getrotzt. Die Türme thronten über der Eismauer.
Um neun Uhr schürte Joakim das Feuer in den kalten Kachelöfen und verjagte damit die Kälte aus dem Haus. Danach ging er die Kinder wecken.
»Frohe Weihnachten«, sagte er.
Livia hatte in voller Montur auf Gabriels Bett geschlafen. So hatte er sie gefunden, als er am Abend zuvor aus der Scheune gekommen war. Er hatte sie nur mit einer Decke zugedeckt und weiterschlafen lassen.
Jetzt war Joakim bereit, ihre Fragen zu beantworten, was in der Nacht passiert sei, über den Lärm von der Schießerei im Hof und alles andere. Aber Livia streckte und reckte sich nur genüsslich auf dem Bett.
»Habt ihr gut geschlafen?«
Sie nickte.
»Mama war hier.«
»Hier?«
»Sie ist zu uns reingekommen, als du weg warst.«
Joakim sah erst seine Tochter und dann seinen Sohn ernst an. Gabriel nickte langsam, als ob alles, was seine Schwester sagte, der Wahrheit entsprach.
Nicht schwindeln, Livia, wollte Joakim sie ermahnen. Mama kann nicht hier gewesen sein. Stattdessen fragte er:
»Was hat denn die Mama gesagt?«
»Sie hat gesagt, dass du bestimmt bald kommst«, sagte Livia und schaute ihn an. »Aber das bist du nicht.«
Joakim setzte sich auf die Bettkante.
»Jetzt bin ich hier«, sagte er. »Ich werde nicht mehr weggehen.«
Livia betrachtete ihn misstrauisch und stieg dann, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Bett.
Joakim weckte Freddy, der ohne seinen Bruder ein ruhiger und stiller junger Mann war. Da für ihn im Panzer kein Platz gewesen war, hatte er die Nacht mit Handschellen an einem Heizkörper gefesselt verbringen müssen.
»Dein Bruder ist immer noch nicht aufgetaucht«, sagte Joakim.
Freddy nickte müde.
»Was habt ihr eigentlich gesucht?«
»Alles Mögliche … teure Gemälde.«
»Von Torun Rambe?«, fragte Joakim. »Wir haben nur ein einziges hier. Dachtet ihr, in der Scheune sind noch mehr davon?«
»Im Haus haben wir nur das eine gefunden«, sagte Freddy. »Irgendwo anders sollte es noch mehr geben, hat das Brett gesagt. Darum sind wir in die Scheune und haben die Treppe angezündet.«
Joakim schaute ihn fragend an.
»Und warum?«
»Weiß nicht.«
»Würden Sie so etwas noch mal machen?«
Freddy schüttelte den Kopf.
Joakim hatte von Tilda den Schlüssel für die Handschellen bekommen und entschied sich, weil Heiligabend war, an das Gute im Menschen zu glauben. Er befreite Freddy vom Heizkörper.
Als sie gegen elf Uhr wieder Strom hatten, setzte sich der Einbrecher vor den Fernseher und wartete, dass die Polizei ihn holen würde. Mit traurigem Blick verfolgte er Zeichentrickfilme mit dem Weihnachtsmann, die Liveübertragung eines Tanzes um den Weihnachtsbaum und eine Kochsendung aus einer schneebedeckten Berghütte.
Livia und Gabriel setzten sich neben ihn, ohne dass sie ein Wort miteinander wechselten. Es war eine Art Weihnachtsgemeinschaft, und alle schienen es zu genießen.
Joakim ging mit dem Notizbuch, das er neben Ethels Jacke gefunden hatte, in die Küche und las Mirja Rambes dramatischen Bericht über das Leben auf Hof Åludden fertig.
Am Ende folgten zuerst einige leere Seiten und danach ein paar, die von einer anderen Person beschrieben worden waren.
Joakim betrachtete sie eingehend und erkannte Katrines Handschrift. Ihre Notizen waren hastig aufgeschrieben, als ob sie wenig Zeit gehabt hätte. Er las die Seiten mehrmals, ohne so recht zu begreifen, was er da las.
Gegen zwölf Uhr bereitete Joakim den Weihnachtsmilchreis für alle Bewohner und Besucher des Hofes zu. Das Telefon funktionierte auch wieder, und der erste Anruf kam prompt nach dem Essen. Joakim hob den Hörer ab und hörte die leise Stimme von Gerlof Davidsson.
»Jetzt haben Sie einen echten Nebelsturm erlebt.«
»Ja, das kann man wohl sagen«, antwortete Joakim.
Er schaute aus dem Fenster und dachte an die nächtlichen Besucher von Åludden.
»Man hat ihn kommen sehen«, sagte Gerlof. »Ich jedenfalls. Allerdings habe ich gedacht, dass er etwas später kommen würde … wie ist es Ihnen ergangen?«
»Ganz gut. Alle Häuser haben standgehalten, nur die Dächer haben etwas abbekommen.«
»Und die Straße?«
»Sie ist verschwunden«, berichtete Joakim. »Dort liegt nur Schnee.«
»Früher brauchte man mindestens eine Woche, um bestimmte Höfe nach dem Nebelsturm wieder erreichen zu können«, erzählte Gerlof. »Heutzutage geht es schneller.«
»Wir schaffen das«, sagte Joakim. »Ich habe Ihren Rat befolgt und Konserven eingekauft.«
»Sehr gut. Sind Sie und die Kinder allein?«
»Nein, wir haben noch einen Gast. Wir hatten viele Besucher heute Nacht, aber die sind jetzt alle weg … es ist ein anstrengendes Weihnachtsfest gewesen.«
»Ich weiß«, sagte Gerlof. »Tilda hat heute früh aus dem Krankenhaus angerufen. Sie hat mir erzählt, dass sie bei Ihnen auf Einbrecherjagd gewesen ist.«
»Ja, die waren gekommen, um Gemälde zu stehlen«, sagte Joakim. »Torun Rambes Gemälde … sie waren der festen Meinung, dass sie hier irgendwo sein sollten.«
»Ach, ja?«
»Aber wir haben nur ein einziges Gemälde von ihr auf dem Hof. Fast alle anderen sind vernichtet worden, allerdings nicht von Torun oder ihrer Tochter Mirja, wie wir immer dachten. Ein alter Fischer soll sie ins Meer geworfen haben.«
»Wann soll das gewesen sein?«
»Im Winter 1962.«
»’62«, wiederholte Gerlof. »In dem Jahr ist mein Bruder Ragnar am Strand erfroren.«
»Ragnar Davidsson … das war Ihr Bruder?«, fragte Joakim.
»Mein älterer Bruder.«
»Er ist nicht erfroren«, klärte Joakim ihn auf. »Ich glaube, er wurde vergiftet.«
Dann erzählte er, was er in Mirja Rambes Buch gelesen hatte, über ihre letzte Nacht auf dem Hof und über den Aalfischer, der in den Sturm hinausgerannt war. Gerlof hörte zu, ohne Fragen zu stellen.
»Das klingt, als ob Ragnar Holzspiritus getrunken hat«, stellte er nüchtern fest. »Der soll ja wie Schnaps schmecken, aber man wird natürlich krank davon. Sterbenskrank.«
»In Mirjas Augen war es offensichtlich eine angemessene Strafe«, entgegnete Joakim.
»Hat er denn die Bilder wirklich vernichtet?« fragte Gerlof. »Ich kann mir das nicht vorstellen. Wenn mein Bruder etwas in die Finger bekam, dann hat er es behalten … er war viel zu geizig, um Dinge einfach zu zerstören.«
Joakim schwieg und dachte nach.
»Ehe ich es vergesse, ich habe noch etwas für Sie«, fuhr Gerlof fort. »Ich habe etwas auf Band aufgenommen.«
»Aufgenommen?«
»Ich habe mir so meine Gedanken gemacht«, erklärte Gerlof. »Es ist eine Kassette, auf der ich über die Ereignisse auf Åludden nachdenke … Sie erhalten sie bestimmt, sobald die Post wieder zugestellt werden kann.«
Eine halbe Stunde später rief die Polizei aus Kalmar an und teilte mit, dass sie den mutmaßlichen Einbrecher auf Åludden abholen würden – vorausgesetzt, Joakim könne eine ebene und freie Stelle für den Hubschrauber bereitstellen.
»Platz gibt es hier genug«, erwiderte Joakim.
Dann ging er nach draußen und schaufelte ein Viereck auf dem Acker hinter dem Haus frei und entfernte das Eis in der Form eines Kreuzes, damit die schwarze Erde in dem gefrorenen Boden den Landeplatz markierte. Als er den Hubschrauber aus südwestlicher Richtung kommen hörte, ging er ins Haus und beendete Freddys Fernsehunterhaltung.
»Gehören die Autos da hinten Ihnen?«, fragte Joakim, als sie auf dem Feld warteten.
Er zeigte auf ein paar Schneehügel, die auf der Zufahrt zum Hof zu sehen waren. Aus den Schneewehen sah man Metallteile ragen.
Freddy nickte.
»Da ist auch ein Boot dabei«, sagte er.
»Alles gestohlen?«, fragte Joakim.
»Ja.«
Als der Hubschrauber angeflogen kam, konnte man sich nicht mehr unterhalten. Bevor er zur Landung auf dem Kreuz ansetzte, stand er einen Augenblick in der Luft und wirbelte weiße Schneewolken auf.
Die beiden Polizisten, die auf sie zukamen, trugen Helme und dunkle Schutzanzüge. Freddy ließ sich ohne Protest abführen.
»Kommen Sie zurecht?«, rief einer der Polizisten.
Joakim nickte nur. Freddy winkte, und er winkte zurück.
Als der Hubschrauber in Richtung Festland verschwunden war, stapfte Joakim zu den beiden mit Schnee bedeckten Autos.
Er schaufelte den Schnee von dem größten Auto, einem schwarzen Lieferwagen, um durch die Scheibe sehen zu können.
Dort saß jemand, regungslos.
Joakim öffnete die Tür.
Auf dem Fahrersitz saß ein Mann, zusammengekauert, als ob er bis zuletzt versucht hätte, die Wärme zu bewahren.
Joakim musste nicht nach dem Puls des Mannes tasten, er wusste sofort, dass er tot war.
Der Schlüssel steckte. Der Mann hatte den Motor offensichtlich so lange laufen lassen, bis er irgendwann nachts ausgegangen war und die Kälte sich wieder im Auto hatte ausbreiten können.
Behutsam schloss Joakim die Wagentür. Dann ging er zurück zum Hof. Die Polizei sollte erfahren, dass auch der letzte Einbrecher gefunden worden war.