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Tilda hatte ihren Bericht über den schwarzen Lieferwagen nach Borgholm geschickt und ihn darin als ein »interessantes« Fahrzeug bezeichnet, das man im Auge behalten sollte. Aber Öland war groß und die Anzahl der patrouillierenden Streifenwagen sehr gering.
Und Gerlofs Theorie über den Mörder von Åludden mit dem Bootshaken? Dazu schrieb sie keinen Bericht. Ohne einen Beweis, dass tatsächlich ein Boot an der Landzunge festgemacht hatte, konnte sie keine Ermittlungen in einem Mordfall führen – sie benötigte mehr Indizien als ein paar Löcher in einer Jacke.
»Ich habe Joakim Westin die Kleidungsstücke seiner Frau wieder übergeben«, erzählte ihr Gerlof, als sie das nächste Mal mit ihm telefonierte.
»Hast du ihm auch deine Mordtheorien unterbreitet?«, fragte Tilda.
»Nein, das war nicht der geeignete Zeitpunkt. Er ist nicht stabil genug und würde vermutlich glauben, dass ein Geist seine Frau ins Wasser gezerrt hat.«
»Ein Geist?«
»Westins Schwester … sie war drogenabhängig.«
Dann erzählte Gerlof ihr die ganze Geschichte über Joakims große Schwester Ethel, die heroinabhängig und ein Störenfried gewesen war.
»Darum sind sie also aus Stockholm weggezogen«, fasste Tilda zusammen. »Ein Todesfall hat sie von dort vertrieben.«
»Das war einer der Gründe. Öland kann sie doch auch gereizt haben.«
»Ich finde, er sollte mit einem Psychologen sprechen. Oder meinetwegen auch mit einem Pfarrer.«
»Ich tauge also nicht als Beichtvater, oder was soll das bedeuten?«, stichelte Gerlof.
Jeden Abend, wenn Tilda an einem Briefkasten vorbeikam, war sie kurz davor, den Brief an Martins Frau abzuschicken. Aber er lag nach wie vor in ihrer Jackentasche. Es fühlte sich an, als würde sie mit einer Axt in der Hand herumlaufen – der Brief verlieh ihr Macht über einen Menschen, den sie noch nicht einmal kannte.
Sie spürte auch, dass sie Macht über Martin hatte. Er rief sie in regelmäßigen Abständen an und wollte mit ihr plaudern. Tilda wusste nicht, was sie antworten sollte, wenn er noch einmal fragen würde, ob er sie besuchen kommen dürfte.
Zwei Wochen waren vergangen ohne eine Einbruchsmeldung auf Nordöland. Eines Morgens jedoch klingelte das Telefon im Revier. Das Gespräch kam aus Stenvik an der westlichen Küste der Insel. Der Anrufer sprach leise, aber in breitem Öländisch und stellte sich als John Hagman vor. Sie erinnerte sich an seinen Namen – Hagman war ein Freund von Gerlof.
»Sie suchen nach Einbrechern, habe ich gehört«, sagte er.
»Ja, das tun wir. Ich wollte Sie auch anrufen, um …«
»Ja, Gerlof hat es mir erzählt.«
»Haben Sie die Einbrecher gesehen?«
»Nein.«
Dann wurde es still am anderen Ende der Leitung. Tilda wartete eine Weile und fragte dann:
»Haben Sie vielleicht Spuren von ihnen gefunden?«
»Ja. Sie sind hier in Stenvik gewesen.«
»Vor Kurzem?«
»Das weiß ich nicht genau … irgendwann im Herbst wohl. Sie scheinen in mehrere Häuser eingebrochen zu sein.«
»Ich komme und sehe mir das mal an. Wo finde ich Sie denn?«
»Ich bin der einzige Bewohner von Stenvik.«
Tilda stieg aus dem Polizeiwagen aus und ging den Kiesweg zwischen den winterfest gemachten Sommerhäusern entlang. Der Sund war nur wenige hundert Meter entfernt. Es blies ein eisiger Wind. Sie musste an ihre Familie denken, die aus Stenvik stammte und irgendwie in dieser Steinlandschaft überlebt hatte.
Ein älterer, gedrungener Mann in einem dunkelblauen Overall und mit brauner Schirmmütze kam auf sie zu.
»John Hagman«, stellte er sich vor.
Er nickte und zeigte mit dem Arm auf ein dunkelbraunes, einstöckiges Haus mit breiten Fenstern.
»Da. Ich habe gesehen, dass die Fensterläden offen standen. Dasselbe gilt für das Nachbarhaus.«
Eines der Fenster an der Rückseite des Hauses stand einen Spalt offen. Als Tilda näher kam, sah sie sofort, dass der Rahmen zersplittert und aufgebrochen war.
Auf der Veranda unterhalb des Fensters waren keine Fußabdrücke zu erkennen. Tilda öffnete das Fenster und sah hinein. Unaufgeräumt sah es darin aus, Kleidungsstücke und Werkzeug lagen überall verteilt auf dem Fußboden herum.
»Haben Sie einen Schlüssel für das Haus, Herr Hagman?«
»Nein.«
»Dann klettere ich da jetzt rein.«
Tilda hielt sich am Rahmen fest, zog sich hoch und sprang in das dunkle Zimmer. Sie befand sich in einem kleinen Vorratsraum und drückte auf den Lichtschalter, aber die Lampe ging nicht an. Der Strom war abgestellt.
Dennoch konnte sie die Spuren der Einbrecher deutlich ausmachen – sämtliche Schubladen waren herausgerissen und auf dem Boden ausgeleert worden. Und als sie das Wohnzimmer betrat, sah sie Glassplitter auf dem Fußboden liegen, so wie im Pfarrhaus von Hagelby.
Tilda sah sich genauer um. Zwischen den Glasscherben lagen kleine Holzsplitter, und es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass diese von einem kleinen Buddelschiff stammten, das auf dem Boden zertreten worden war.
Einige Minuten später hievte sie sich wieder durch das aufgebrochene Fenster.
»Sie sind eindeutig hier gewesen«, konstatierte Tilda. »Und haben einiges angestellt, Sachen zerschlagen und so.«
Tilda hielt Hagman eine Plastiktüte mit den Holzsplittern des Buddelschiffes entgegen, die sie aufgesammelt hatte.
»Hat Gerlof das gebaut?«
Hagman sah sich die Überreste des Schiffes sorgfältig an und nickte.
»Gerlofs Sommerhaus ist ja auch hier in Stenvik. Er hat an viele der Sommerhausbesitzer diese Buddelschiffe und auch Schiffsmodelle verkauft.«
Tilda steckte die Tüte in die Jackentasche.
»Und Sie haben nachts nie seltsame Geräusche gehört?«
Hagman schüttelte den Kopf.
»Und keine ungewöhnlichen Fahrzeuge in der Gegend gesehen?«
»Nein. Die Besitzer verlassen die Insel jedes Jahr im August. Im September war eine Firma hier und hat in einigen Häusern die Fußböden neu gemacht. Danach war kein …«
Tilda sah ihn nachdenklich an.
»Waren das Bodenleger?«
»Ja, die waren sogar mehrere Tage beschäftigt. Aber sie haben ordnungsgemäß hinter sich abgeschlossen.«
»Das waren keine Installateure? KALMAR SCHWEISSEN & ROHRE?«
Hagman schüttelte erneut den Kopf.
»Das waren Bodenleger«, sagte er. »Junge Männer. Zwei.«
»Bodenleger …«, wiederholte Tilda.
Sie erinnerte sich an den neu geschliffenen Fußboden im Pfarrhaus von Hagelby, und sie überlegte, ob hier unter Umständen ein Muster vorlag.
»Haben Sie mit denen gesprochen?«
»Nein.«
Hagmanführte sie durch die Sommerhaussiedlung und zeigte ihr die Häuser, in denen ebenfalls Spuren eines Einbruches zu entdecken waren.
»Wir müssen das den Eigentümern melden«, sagte Tilda auf dem Weg zum Streifenwagen, als sie alles notiert hatte. »Haben Sie Kontakt zu denen, Herr Hagman?«
»Ja, zu einigen von ihnen. Denen mit guten Manieren!«
Als Tilda wieder im Polizeirevier angekommen war, tätigte sie etwa zehn Telefonate mit Sommerhauseigentümern, die bereits im Laufe des Herbstes Einbrüche auf Öland beziehungsweise in der Region Kalmar gemeldet hatten.
Vier davon hatten sich Anfang des Jahres entweder den Boden schleifen oder gar neu verlegen lassen. Sie hatten eine auf Nordöland ansässige Firma damit beauftragt: Marnäs Parkett & Boden.
Sie rief auch im Pfarrhaus von Hagelby an. Gunnar Edberg war soeben aus dem Krankenhaus entlassen worden. Er hatte zwar eine Hand in Gips, aber es ging ihm schon viel besser. Auch er hatte die Firma aus Marnäs beauftragt.
»Das hat alles ganz hervorragend funktioniert«, sagte Edberg. »Nur fünf Arbeitstage haben sie benötigt, Anfang Sommer war das … aber wir sind ihnen kaum begegnet, wir waren in Norwegen.«
»Das heißt, sie haben einen Schlüssel bekommen?«, fragte Tilda ungläubig. »Obwohl Sie die Leute überhaupt nicht kannten?«
»Das ist eine zuverlässige Firma«, widersprach Edberg. »Wir kennen den Besitzer, er wohnt in Marnäs.«
»Haben Sie seine Nummer?«
Tilda hatte eine Spur aufgenommen und rief umgehend den Firmeninhaber von Marnäs Parkett & Boden an. Ihr Anliegen war schnell vorgetragen: Sie wollte die Namen aller Bodenleger, die im vergangenen Jahr auf Nordöland tätig gewesen waren. Sie betonte, dass niemand von denen in Verdacht stünde und dass die Polizei es zu schätzen wüsste, wenn er vorerst nicht mit seinen Angestellten darüber sprechen würde.
Kein Problem. Der Firmenbesitzer gab ihr zwei Namen sowie Adresse und Telefonnummer:
Niclas Lindell
Henrik Jansson
Zwei dufte Jungs seien das, fügte er hinzu. Nett, geschickt und gewissenhaft. Manchmal würden sie zusammenarbeiten, manchmal jeder für sich – meistens bei den Ortsansässigen, wenn diese verreist waren oder in den Sommerhäusern während der Nebensaison, wenn die Eigentümer die Insel wieder verlassen hatten. Sie hätten viele Aufträge.
Tilda bedankte sich und schob noch eine letzte Frage hinterher: Ob sie wohl eine Liste der Häuser bekommen könnte, in denen Lindell und Jansson im vergangenen Sommer und Herbst gearbeitet hatten?
Diese Angaben seien alle im Terminkalender seines Firmencomputers gespeichert. Er könnte die Seiten ausdrucken und ihr zufaxen.
Nachdem sie aufgelegt hatte, schaltete sie ihren Computer an und überprüfte die Daten der beiden Bodenleger Lindell und Jansson im Polizeiregister. Vor sieben Jahren war Henrik Jansson wegen unerlaubten Fahrens festgenommen und zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Er war im Alter von siebzehn ohne Führerschein Auto gefahren. Sonst gab es keine Vermerke, weder über ihn noch über Lindell.
In diesem Augenblick piepste das Faxgerät, und die Liste der Aufträge für Marnäs Parkett & Boden wurde ausgedruckt.
Tilda registrierte sofort, dass bei sieben der zweiundzwanzig Auftragsadressen in den letzten drei Monaten ein Einbruch gemeldet worden war.
Niclas Lindell hatte in zwei der Häuser gearbeitet, Henrik Jansson in allen sieben.
Tilda spürte, dass sich ihr Jagdinstinkt meldete, wie bei einem Jäger auf der Pirsch, wenn der Elch sich zum ersten Mal zeigt. Dann entdeckte sie noch ein weiteres Detail: Im August hatte Henrik Jansson eine Woche lang auf Hof Åludden gearbeitet. Sein Auftrag dort war, laut Terminkalender, »Boden abschleifen im Erdgeschoss«.
Hatte das etwas zu bedeuten?
Henrik Jansson wohnte in Borgholm. An diesem Tag hatte er einen Arbeitseinsatz in Byxelkrok, und den würde er auch in aller Ruhe beenden dürfen, Tilda benötigte noch etwas Zeit, ehe sie ihn zum Verhör laden konnte.
Die Stille im Revier wurde jäh von Telefonklingeln unterbrochen. Sie sah auf die Uhr, es war Viertel vor fünf. Sie war sich fast sicher, wer am Apparat sein würde.
»Polizeirevier Marnäs, Davidsson.«
»Hallo, Tilda.«
Und sie behielt recht.
»Wie geht es dir?«, fragte Martin.
»Gut«, sagte sie. »Aber ich habe jetzt gerade keine Zeit. Ich habe etwas Wichtiges zu erledigen.«
»Aber warte mal, Tilda …«
»Tschüss.«
So wird das gemacht! Sie legte auf und bemerkte erleichtert, dass es sie überhaupt nicht interessierte, warum er angerufen hatte. Es war wie eine Befreiung, dass Martin Ahlquist so an Bedeutung für sie verloren hatte. Im Moment war ohnehin der Bodenleger Henrik Jansson der Mann ihres Lebens.
Tildas Ziel war es, Henrik zu finden und ihn festzunehmen – und ihm auf dem Weg in den Arrest einige Fragen zu stellen. Sie wollte erfahren, warum er den armen Rentner im Pfarrhaus so verprügelt hatte und warum er Gerlofs Buddelschiff mutwillig zertreten hatte.